Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Frederick White?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit Frederick White?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Jeder, der sich mit dem „Wilden Westen“ befasst, kennt Tombstone, die Silberminenstadti m Südosten Arizonas. Aber meist erschöpft sich dieses Wissen mit den Brüdern Earp und Doc Holliday, allenfalls sind die Clantons und McLauries noch ein Begriff.

Aber da gab es den ersten Polizeichef der Stadt, Town Marshal Frederick White. Er war am 5. Januar 1880 gewählt worden, als Tombstone gerade einmal 1.000 Einwohner zählte – sehr viel für eine Stadt in dieser Region. Und er starb am 30. Oktober 1880 – vor 141 Jahren – eines gewaltsamen Todes. Heute ist er fast vergessen. Tatsächlich ist nicht viel über ihn bekannt.

Sein Geburtsjahr war 1849, das genaue Datum ist nicht registriert. Er stammte aus New York. Wie er in den Westen gelangte, weiß niemand. Er tauchte in Tombstone auf, als er ca. 30 Jahre alt war. In der wilden, stürmisch wachsenden Stadt wurde er durch sein ausgleichendes, freundliches Wesen bekannt. Er schlichtete Streitigkeiten, bevor sie gewaltsam eskalieren konnten, arbeitete in den Minen, sowie als Barkeeper und als Stallmann und galt als absolut ehrlich, der sich keiner der Parteien in der Stadt andiente, weder den Geschäftsleuten und Minenbesitzern, noch den Cowboys des Umlandes. Das war wohl der Grund, dass er zum ersten Marshal der Stadt gewählt wurde – als Tombstone noch gar nicht offiziell als Stadt anerkannt war.

In dieser Zeit tauchten die Brüder Earp in Tombstone auf. Wyatt und Morgan Earp waren Deputy Sheriff des südlichen Pima County. Es blieb daher nicht aus, dass Fred White und die Earps sich kennenlernten. Wyatt und Fred wurden Freunde.

Während die Earps offenbar von den Minenbesitzern auch finanziell unterstützt wurden und Wyatt Earp in Minen und Saloons investierte, hielt sich Fred White von allen Nebengeschäften fern. Er war anders als die meisten Gesetzesvertreter jener Jahre.Man traf ihn selten an den Spieltischen im Rotlichtbezirk, wo Sternträger üblicherweise ein Zubrot verdienten. Er war nicht an anderen Geschäften beteiligt, sondern beschränkte sich auf das bescheidene Gehalt eines Polizisten von ca. 25 Dollar pro Woche, das wären nach heutiger Kaufkraft gut 700 Dollar wöchentlich gewesen – nicht sehr viel in einer teuren Boomtown wie Tombstone. Das machte ihn beliebt bei den Bürgern, die es inzwischen gewöhnt waren, dass die Vertreter des Gesetzes auf alle möglichen – auch dubiose – Weisen versuchten, zu Geld zu kommen. Außerdem versuchte White, Konflikte nicht mit Gewalt zu lösen. Zwar verhaftete er regelmäßig auch Vertreter der „Cowboy-Fraktion“, sogar so gefährliche Männer wie die Clantons, aber er setzte wie nie seine Waffe ein und versuchte körperliche Gewalt zu vermeiden, so dass er von beiden Gruppen, die in Tombstone um die Macht rangen, respektiert wurde.

In der Nacht des 28. Oktober 1880 randalierten die sogenannten „Cowboys“ wieder in der Stadt. Sie zogen betrunken durch die Straßen und feuerten auf Laternen und beleuchtete Fenster. White folgte ihnen, versuchte, dämpfend auf sie einzuwirken und schaffte es tatsächlich, dass die meisten ihre Waffen freiwillig abgaben, ohne dass er sie zur Ausnüchterung einsperren musste. Dann traf White auf „Curly Bill“ Brocius, einen der lautstärksten Rowdies, am Ostende der Stadt, wo das „Birdcage Theater“ steht. Brocius war schwer angetrunken und schoss mit seinem Revolver in die Luft. White ging unerschrocken auf ihn zu und forderte ihn auf, seinen Revolver abzugeben. Brocius zog die Waffe und reichte sie dem Marshal. Der Hammer war in der Ruherast, also halbgespannt. Die exakteste Aussage des Vorfalls kam von Wyatt Earp, der sich ganz in der Nähe aufhielt. Er berichtete, dass Brocius dem Marshal die Waffe mit dem Lauf zuerst reichte. White griff nach dem Lauf des Revolvers und wollte ihn Brocius aus der Hand ziehen. In diesem Moment löste sich ein Schuss und traf White in den Unterleib.

Fred White wurde von der Kugel zu Boden geschleudert und krümmte sich vor Schmerzen. Wyatt Earp stürmte hinzu und schlug „Curly Bill“ seinen Revolver von hinten über den Kopf. Auch Brocius ging zu Boden. Aber es war zu spät. Morgan Earp erschien ebenfalls. Die Brüder erklärten Brocius für verhaftet und brachten ihn in das wacklige Gefängnis der Stadt. Ein Arzt kümmerte sich um den schwerverletzten Marshal und ließ ihn zu seinem Haus tragen.

Als Brocius im Gefängnis zu sich kam und Earp ihm sagte, dass er den Marshal angeschossen habe, reagierte er völlig geschockt und war fast augenblicklich nüchtern. Auf den Straßen scharte sich ein Mob zusammen, um Brocius zu lynchen.

Wyatt Earp ließ den mit Handschellen gefesselten Brocius auf ein Pferd steigen und brachte ihn nach Tucson in das zuständige County-Gefängnis. Ein Verbleiben in Tombstone war unmöglich. Brocius selbst erklärte später, dass Wyatt Earp ihm das Leben gerettet habe.

In Tucson erhielten Wyatt Earp und Brocius die Nachricht, dass Marshal White am 30. Oktober gestorben war. Brocius schwor, dass er White nicht habe erschießen wollen, und Wyatt Earp bezeugte vor dem Bezirksgericht, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, wie er mit eigenen Augen gesehen hätte. Tatsächlich hatte auch Marshal White vor seinem Tod gesagt, dass Brocius nicht absichtlich geschossen habe. Entweder hatte die Waffe einen Fehler gehabt, oder der Schuss hatte sich gelöst, als White den Revolver an sich gezogen hatte. Der Bezirksrichter Neugass hob daher die Anklage gegen „Curly Bill“ auf und ließ ihn frei.

„Curly Bills“ Reue dauerte nicht lange. Zwar erkannte er an, dass Wyatt Earps Aussage ihn vor einer Anklage bewahrt und dass Earp ihn vor einem Lynchmob gerettet hatte, aber er schwor Rache dafür, dass Earp ihn niedergeschlagen und verhaftet hatte. Er beteiligte sich aktiv am Kampf gegen die Earps und gehörte zu den Mördern von Morgan Earp im März 1882. Anderthalb Jahre später eröffnete Brocius das Feuer auf Wyatt Earp, als dieser ihn und seine Kumpane in den umliegenden Bergen von Tombstone bei Iron Springs aufspürte, um Rache für den Mord an seinem Bruder Morgan und dem Mordanschlag auf Virgil zu nehmen.

Brocius verfehlte Wyatt, der sich mit einem Sprung aus dem Sattel in Sicherheit brachte. Dann feuerte Wyatt Earp mit einer Schrotflinte zurück. Augenzeugen sagten später, dass Brocius von der Ladung fast in zwei Stücke gerissen wurde. Die Kumpane, die ihn begleitet hatten, ergriffen die Flucht, nachdem Wyatt Earp auch die Cowboys Johnny Barnes und Milt Hicks verwundet hatte. Das war am 24. März 1882.

Der Leichnam von Brocius wurde angeblich auf der nahen Patterson-Ranch am Babocomari River verscharrt. Das Grab wurde – entgegen mancher Gerüchte – nie gefunden. Es wurde zeitweise auch behauptet, dass Brocius überlebt habe. Das war nicht der Fall.

Die Leiche des unglücklichen Fred White wurde auf dem alten Boothill von Tombstone bestattet. Zu seinem Nachfolger als Polizeichef wurde Virgil Earp ernannt, der eine kräftige Gehaltserhöhung auf 150 Dollar im Monat heraushandelte.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2020Die aktuelle Ausgabe

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles