Ringo´s Plattenkiste - Procol Harum - Grand Hotel
Bevor die Band aber unter diesem Namen wirkte, spielten die Mitglieder in einer wenig Aufsehen erregenden Combo namens „The Paramounts“. Die waren von 1962 bis 1966 aktiv und konnten mit ihrer ersten Single „Poison Ivy“ sogar einen kleinen Hit landen. Diese Coverversion eines damals beliebten Songs aus der Feder von Leiber & Stoller erreichte Platz 35 der Charts. Das wars dann aber auch schon mit Erfolg, die folgenden Singles floppten. So machten sie sich dann auf, bekannte Acts wie z.B. Chris Andrews während deren Europa-Tourneen als Band zu begleiten. 1966 kam dann das Aus, allerdings fanden sich fast alle Mitglieder zu einer neuen Band zusammen. Eben zu Procol Harum, gegründet vom Keyboarder Gary Brooker und dem Songtexter Keith Reid.
Die weiteren Mitglieder waren Matthew Fisher, Ray Royer und David Knights. Während die Paramounts hauptsächlich Coverversionen, spielten, setzten Procol Harum auf Eigenkompositionen, die fast ausschließlich aus der Feder von Bandleader Gary Brooker und Keith Reid stammten.
Für die Herkunft des seltsamen Band-Namens gibt es keine eindeutigen Belege. Angeblich benannte Manager Guy Stevens die Band nach einer Burma-Katze, die einer Bekannten gehörte: Procul Harun. Aufgrund eines Übermittlungsfehlers am Telefon wurde dann Procol Harum daraus. Eine andere Entstehungsgeschichte wiederum berichtet, der Name sei eine inkorrekte Latein-Phrase mit der übersetzten Bedeutung „Fern aller Dinge“. Das lateinische Wort Procul bedeutet zumindest „weit weg“. Harum allerdings ergibt gar keinen Sinn. Der Name wurde auch sehr oft missverstanden, bzw. falsch ausgesprochen. Sehr oft wurde aus Harum das Wort Harem. Vielleicht ist das ja die Lösung: Gary Brooker war mal in Rom und fragte einen Einheimischen, wo der nächste Puff ist. Der – ein Akademiker mit dem Hang, seine Bildung auf der Zunge zu tragen - antwortete dann auf Latein: “ Procul Harem“. Da Brooker den Puff aber nicht fand und sich verirrte, murmelte er – ebenfalls gebildet – leise: „Procul Home“. Im Hotel angekommen kippte er erstmal einige Perroni und rief seinen Manager an, um ihm sein Leid zu klagen. Der verstand aber nur undeutlich, was Brooker von ihm wollte, und notierte sich „Procol Harum“, da er dachte, es wäre der Name für die neue Band. Es hätte auch schlimmer kommen können, z.B. wenn Brooker noch verwaschener gesprochen hätte und Stevens „Proconsul Hamburger“ verstanden hätte. Oder „Proll Hamsun“. Oder „Broccoli Haribo“. Oder „Protoplasma-Hanswursten“.
Wie dem auch sei, wir werden wohl nie erfahren, woher der Name stammt, bzw. was er bedeuten soll. Vermutlich handelt es sich um einen bewusst fremdartigen Namen ohne jede Bedeutung. Zurück zur Band, die weitgehend komplett war, es fehlte nur noch ein fester Drummer. Der sollte sich aber erst wenig später finden. Zunächst ging die Band mit dem Sessiondrummer Bill Eyden ins Studio. Bereits ihre erste Single wurde ein weltweiter Hit und ein zeitloser Klassiker A whiter shade of pale. Die Single schlug ein wie eine Bombe und belegte fast ausschließlich die Pole-Position in den meisten Charts. Der Songtext war genauso kryptisch wie der Name der Band und erfuhr viele Interpretationen, an denen sich auch die Band selbst fleissig beteiligte. Keith Reid erwähnte, dass er die Phrase „You've turned a whiter shade of pale“ irgendwann einmal auf irgendeiner Party aufgeschnappt hatte und sie ihm im Gedächtnis blieb und er sie dann in einen Songtext einbaute. In früheren Rock-Lexika wurde der Titel einmal mit „Ein Schatten weisser als Blech“ übersetzt, was natürlich Unsinn ist und sich auf Proto-Google-Niveau bewegt. Korrekt wäre „Noch heller als blass“ oder „Blässer als blass“. Der Song lebt hauptsächlich von seiner eingängigen und getragenen Orgel-Melodie, die Gary Brooker bei Johann Sebastian Bach abgekupfert hatte, genauer gesagt bei dessen Komposition „Air on a G-String“. Die kennen wir schon von Jon Lord`s Aria vom Sarabande-Album. Gary Brooker äusserte sich dazu wie folgt: „Folgt man der Melodie, erkennt man ein oder zwei Takte von Bach, bevor sie sich wandelt. Ich habe Rock nicht bewusst mit Klassik kombiniert, Bachs Musik war einfach in mir“
Klar, so kann man es auch sehen. Ist aber egal, denn der Song ist zeitlos schön. Brooker kriegte sich später mit seinem Mitmusiker Fisher noch ordentlich in die Haare, denn als Urheber des Songs waren lediglich Brooker und Reid angegeben, die die nicht unerheblichen Tantiemen einstrichen. Fisher bestand aber darauf, dass wesentliche Teile des Songs von ihm stammten, und die Kohle somit durch 3 geteilt werden müsse. Bach konnte nicht mehr klagen, sonst hätte durch 4 geteilt werden müssen.
Im September 1967 erschien dann das Debut-Album, das keinen Titel trug, sondern schlicht Procol Harum benannt wurde. Royer hatte die Band inzwischen verlassen und wurde durch Robin Trower ersetzt, ausserdem fand sich in B.J. Wilson endlich ein fester Drummer. Beide waren zuvor auch bei den Paramaount. Wilson wurde übrigens die Mitgliedschaft bei Led Zeppelin (Ringo berichtete) angeboten, lehnte dies jedoch zugunsten Gary Brookers ab.
Alle Songs des Albums stammten von Brooker und Reid, lediglich „Repent Walpurgis“ hatte Matthew Fisher geschrieben. Das Debut erschien zuerst in den USA, danach erst in Europa. Obwohl es mehrspurig aufgenommen war, wurde es dennoch in Mono veröffentlicht. Das stark an Aubrey Beardsley erinnernde Cover gestaltete Keith Reids damalige Freundin und künftige Ehefrau, schlicht „Dickinson“ genannt.
Das Album enthielt einen weiteren Klassiker: Conquistador. Brooker merkt an, dass für diesen Song zuerst die Musik da war, und der Text erst danach entstand. Völlig unüblich für die damalige Zeit.
Üblich hingegen war, dass Songs, die bereits als Single erschienen waren, nicht auf der LP zu hören waren. So kam es, dass A whiter Shade of Pale nicht auf der Platte war. Zumindest nicht in England, wohl aber auf der US-Version.
Procol Harum veröffentlichten regelmäßig neue Alben und entwickelten ihren Stil weiter, stets unter der Regie Gary Brookers, der die Richtung angab und das meiste Songmaterial schrieb. Matthew Fisher spielte nur die zweite Geige, aber allmählich drängte sich auch Robin Trower mehr und mehr nach vorne. Zur damaligen Zeit war es üblich, dass der Gitarrist auch Frontmann war, und nicht der Pianist, was schließlich zu Spannungen führte. Nach dem dritten Album, Salty Dog, stiegen dann Bassist Knights und Organist Fisher aus. Beide wurden ersetzt durch Chris Copping, der die Keyboards und auch das Bassspiel übernahm. Im Studio mit Bassgitarre, live aber allerdings an den Pedalen. Ähnlich war es auch eine Zeit lang bei Van der Graaf Generator, wo Hugh Banton die „Manuals und Pedals“ bediente. Copping kannte Brooker aus seiner Zeit bei den Paramounts und wandte sich nach deren Split von der Musik ab, widmete sich seinem Chemie-Studium und arbeitete auf einen Doktortitel hin. Nachdem seine erste Ehe in die Brüche ging, begann er aber wieder Musik zu machen. Zuerst spielte er in diversen Bars, bevor er von Robin Trower eingeladen wurde, bei Procol Harum mitzumachen. Eine kurze Zeit bestand die Mannschaft von Procol Harum dann tatsächlich aus lauter ehemaligen Paramount-Musikern. Das blieb so bis zum fünften Studio-Album. Robin Trower stieg danach aus und wurde für kurze Zeit durch Dave Ball ersetzt, der nur auf dem 1972er Live-Album In Concert with the Edmonton Symphony Orchestra zu hören war. Procol Harum spielten hier live in Begleitung eines großen Orchesters. Das Album wurde ein phänomenaler Erfolg und avancierte rasch zu ihrem bestverkauften. In der Tat stellt es einen bemerkenswerten Beitrag zur Klassik-Rock-Fusion dar (Ringo berichtete). Während der ausgedehnten Tour 1972, welche die Band auch nach Amerika und Japan führte, entstand etwa ein halbes Dutzend neuer Songs. Danach begab man sich in die Londoner AIR-Studios um das Material zu einem neuen Album aufzunehmen. Anfangs war der auf Photos stets grantig dreinblickende Dave Ball noch dabei, stieg aber überraschend während der Aufnahmesessions wieder aus. Ball musste also schleunigst ersetzt werden, und wurde es auch. Sein Nachfolger wurde Mick Grabham, der auf Yvonne Ellimans Album Food of Love zu hören, das ich kurz bei meinem Artikel zu Rupert Hine erwähnte. Bandleader Brooker war von Grabham begeistert: „Erstaunlich“, attestiert er ihm. Neu hinzugekommen war auch der auf dem Live-Album vertretene Alan Cartwright.
Die Besetzung sah aus wie folgt:
So steht es zumindest wowö (wortwörtlich) in den Credits.
Unterstützt wurden die Haremssucher von:
•
Sowie einem nicht genannten Orchester, für das Brooker die Arrangements schrieb.
Nach Dave Balls Ausstieg wurde das bereits eingespielte Material verworfen und neu aufgenommen. Ball ist aber dennoch auf dem fertigen Album noch vertreten, dazu später aber mehr. Die Ball-Tracks ließen sich problemlos neu aufnehmen, dummerweise waren aber schon die Photos für die Platte im Kasten, für die man unter anderem eigens nach Amerika gereist war. Ein Problem, das man aber später auf ungewöhnliche und originelle Art später lösen sollte.
Produziert wurde von Chris Thomas, der schon seit dem 1970er Album Home Partner der Band war. Geld stand eine Menge zur Verfügung, und so konnte bequem auf satten 16 Spuren aufgenommen werden.
Hier die Tracklist des Original-Albums:
Das fertige Album erschien im März 1973 im schmucken Gatefold mit beigelegtem Booklet, in dem es die Lyrics zu lesen gab, kongenial illustriert von dem US-amerikanischen Künstler Spencer Zahn, einem alten Freund Brookers. Brooker, Reid und Zahn kannten sich bereits aus den Sechzigern, als die Idee eines gemeinsamen Projektes entstand. Die Zeit war damals aber noch nicht reif, also wartete man einfach ab.
1973, als die Band ordentlichen finanziellen Rückenwind ihres Labels hatte, konnte auch Zahn endlich einen Beitrag leisten und fertigte für alle 9 Songs Kohlezeichnungen an. Zahn war kein Unbekannter, er zeichnete und entwarf Poster und Konzertplakate für so bekannte Acts wie z.B. Grateful Dead, Isaac Hayes, The Band, Traffic, Paul Anka und viele mehr. Während das Album in London aufgenommen wurde, befand sich Zahn in Acapulco, wo er auch die Zeichnungen anfertigte. Reid schickte ihm nach und nach die Texte per Post, und Zahn machte sich an die Arbeit. Gerade ein Song wie „A Rum Tale“ gewinnt dadurch ganz neue Dimensionen!
Das Frontcover zierte eine ästhetische S/W-Photographie der Band vor der Fassade eines Luxus-Hotels am Genfer See.
Klappte man das Album auf, sah man eine Photographie der Band in einer Art Empfangshalle. Das Photo entstand in einem extra gemieteten Haus in Malibu. Eine auch in der Filmbranche beliebte Kulissen, so wurden dort 1971 einige Szenen des TV-Thrillers „Sweet, sweet Rachel“ mit der sehr jungen Stephanie Powers gedreht.
Die Photos wurden wie erwähnt vor Dave Balls Ausstieg geschossen, und man hatte keine besondere Lust auf neue Photosessions, zumal sie ohnehin schon sehr aufwendig und teuere gewesen sind. Man griff deshalb zu einem für die damalige Proto-Photoshop-Zeit zu einem ungewöhnlichen Trick, und die ursprünglichen Aufnahmen wurden beibehalten. In der Dunkelkammer wurde nun eine neue Aufnahme von Grabhams Kopf über das bereits existierende Bild von Dave Ball retuschiert. Der Kopf von Grabham landete auf den Körper von Ball. Dies geschah so geschickt und gekonnt, dass es überhaupt nicht auffällt. Auf dem oberen Bild ist das Innenteil des Albums zu sehen. Mick Grabham ist der dritte von links, direkt neben Gary Brooker. Das untere Bild ist ein Outtake der Session, auf der man Dave Ball sieht, ebenfalls als Dritter von links.
Das Bild links oben zeigt das Cover mit der retuschierten Aufnahme. Mick Grabham steht ganz links, direkt neben Gary Brooker. Das Bild daneben zeigt die Originalaufnahme: hier ist deutlich zu erkennen, dass Dave Ball neben Brooker steht. Es fällt tatsächlich nur auf, wenn man es weiß.
Titel und Aufmachung des Albums lassen auf ein Konzeptalbum schließen, was aber nicht der Fall war. Keith Reid sagte einmal ironisch, dass sich das „Konzept“ nicht über den Titeltrack hinaus erstreckte.
Werfen wir einen Blick durchs Schlüsselloch des Grand Hotel und hören uns die Tracks mal ein wenig an.
, der Titeltrack, eröffnet das Album gediegen und opulent, garniert mit Orchester und Chor. Ein Longtrack, der alle möglichen Spielarten in sich vereint: Ballade, Klassik-Rock, Walzer sowie eine Prise Russische Melancholie. Grand Hotel ist auf der CD-Version auch als Bonustrack zu hören, in einer alternativen Version ohne Orchester und Chöre. Hier kommen die Instrumente der Bandmitglieder auch besser zur Geltung, vor allem Coppings gefühlvolle Orgel, Grabhams Gitarre und auch die multiplen Mandolinen-Wolken von Drummer Wilson, die ein wenig neapolitanisches Flair aufkommen lassen. Die Bläser-Sektion der Albumversion überdeckte auch Cartwrights dominierendes Basspiel während des „Russischen“ Parts. Dem bekannten Autor Douglas Adams kam den Track während seiner Arbeit zu “Per Anhalter durch die Galaxis“ zu Ohren und war spontan fasziniert davon. Der orchestrale Höhepunkt des Tracks schien für ihn „aus dem Nichts zu materialisieren und etwas großartiges und aussergewöhnliches musikalisch zu begleiten“. Inspiriert und angestachelt durch seine davon angeregte Phantasie schrieb er dann „Das Restaurant am Ende des Universums“
, der nächste Track, ist ein kurzes Stück echte Rockmusik mit hoffnungslos romantischem Text. Zwar dominieren die beiden Keyboards, die sich harmonisch ergänzen und die Melodie vorantreiben, aber es gibt zwischendurch Exkurse in „richtige“ und tanzbare Rockmusik mit krachenden Gitarrensoli. Der Song ist als Bonustrack in einer Ball-Version zu hören, die aber ein wenig unfertig und unausgegoren klingt. Sie ist langsamer, aber auch ein wenig fader als die Neuaufnahme. Das Solo klingt ähnlich wie auf der Albumversion, was daran liegt, dass Neuzugang Grabham wohl den Grundtenor von Balls Gitarrenarbeit erhalten wollte. Dave Ball erinnert sich an eine witzige Anekdote zu diesem Song: Während der Japan-Tournee landeten wir in einer Bar in Osaka und beschlossen, dass der Songtitel auch ein passender Name für einen Cocktail war. Als Basis wählten wir „Parfait Amour“ von Bols, einen zartlilafarbenen Likör. Wir waren uns einig, dass der dazugehörige Likör klar sein sollte, was die Auswahl auf Wodka, Bacardi, Gin oder Tequila beschränkte. Wir haben zuerst mit Sake oder einem heftigen polnischen Schnaps geliebäugelt, aber wir hatten mehr Romantik im Auge. So einigten wir uns auf Wodka im Verhältnis Zwei Teile Parfait mit zwei Teilen Wodka.
Nun zu den Verfeinerungen. 7-Up war die perfekte Zugabe. Wir haben verschiedene Fruchtsäfte und andere Limonaden probiert, aber aus irgendeinem Grund war 7-up genau das Richtige für uns. Dazu Crushed Ice, aber nicht zu viel, sowie eine Zitronenscheibe.
Nach langem Ausprobieren rundete ein Schuss Kirsch das Getränk perfekt ab. Das ist also das fertige Rezept:
Ein hohes Glas, eine kleine Menge Crushed Ice und eine Zitronenscheibe, 2 Teile Parfait Amour, 2 Teile Wodka (Stolichnaya ist das Beste). Ein Spritzer Kirsch und mit 7-up übergossen. Gerührt, nicht geschüttelt.“
Der Song wurde als B-Side der Singles A Souvenir from London und Bringing home the Bacon verwendet.
Der nächste Track, , ist ein sparsam instrumentierter lupenreiner Walzer. Brookers Piano dominiert, dezent begleitet von Bass und Orgel. Das Schlagzeug kommt erst im Mittelteil hinzu. Hört man ganz genau hin, ist in diesem Mittelteil auch ein sphärisches Harfen-Glissando zu hören.
Der Text handelt von Träumereien und literarischen Ambitionen, zugleich aber vom Versinken im Alkoholismus. Der Titel selbst ist eine Art Wortspiel: A Rum Tale – Harum Tale. Brooker erinnert sich, dass ihm die Melodie Anfang der Siebziger förmlich zugeflogen sei. Um sie nicht zu vergessen, nahm er sie mit einem Kassettenrekorder auf. Vom Rum Tale gibt es auch eine Prä-Grabham-Rohversion, eine instrumentale Kompositionsskizze mit Piano, Orgel und Bass.
Seite Eins endet mit , das wieder mit Piano beginnt und sich zu einem klassisch begleiteten Rocksong entwickelt. Die Melodie weist musikalisch leichte Parallelen zu For Liquorice John auf. Der Text ist ein wenig schräg und mehrdeutig und handelt von der Vereinnahmung der Privatsphäre durch den Eroberer (Cäsar) Fernsehen. Reids Text zielt besonders auf Talkshows ab, stellvertretend für alle musste der damals sehr populäre David Frost herhalten, bei dem Procol Harum einmal zu Gast waren. Gary Brookers „Oooh“ parodiert den Talkmaster. Frost wurde durch sein Nixon-Interview zur Watergate-Affäre weltberühmt und verstarb 2013 auf einer Kreuzfahrt an Bord der Queen Elizabeth. Das knarrige Gitarrensolo weist übrigens eine Besonderheit auf. Graham spielte es nicht über einen Verstärker, sondern über eine Fuzz-Box direkt ins Aufnahmepult ein.
Legen wir nun Seite Zwei auf, die gleich zu Beginn überrascht.
ist ein rumpliger und schrulliger Song, der stark an Mungo Jerry´s In the Summertime erinnert. Schrammelnde Gitarren (Alan Cartwright), Banjo (Gary Brooker & Chris Copping), leierkastenähnliche Orgel, Pauke, Mandoline (B.J. Wilson) und Löffelpercussionbegleitung von dem ausgeschiedenen Dave Ball und dem Roadie Denny Brown dröhnen aus dem Lautsprecher, und Gary Brooker singt mit versoffen klingender Stimme dazu. Lt. Mick Graham wurden Balls ursprüngliche Gitarrenparts nicht neu eingespielt, sondern sind im fertigen Song noch vorhanden. Der Song steht in krassem Gegensatz zum Rest des Albums und oberflächlich auch zum typischen Sound der Band. Ähnliche Songs gab es aber bereits vorher, z.B. Mabel und Good Captain Clack vom Debutalbum, und Boredom von Salty Dog. Gary Brooker erzählt, er wurde zu dem Song durch eine Gruppe von Straßenmusikern inspiriert, an denen er auf seinem Weg über den Piccadilly Circus zum AIR-Studio vorbeikam. Und genauso klingt der Song auch: nach einer Gruppe leicht angesäuselter Straßenmusiker, die vor dem Grand Hotel stehen und ein wenig Musik machen.
Der Text selbst ist wieder mehrdeutig: das Souvenir ist mutmaßlich kein materielles Andenken, sondern eine Geschlechtskrankheit. Keith Reid hatte einen Hang zu Wortspielen, und so kann man Souvenir mit wenigen Buchstaben zu Sou-venereal umgestalten. Der Song kam sogar als Single heraus, floppte allerdings gnadenlos, da er aufgrund seiner Anzüglichkeit kein Airplay bei BBC bekam.
BBC Radio 1's Annie Nightingale spielte den Song einmal kurz an mit der Frage: „I wonder who can guess who this is?“ Erkennen kann man es eigentlich nur an Brookers Stimme.
ist wieder ein richtiger Rocker mit harten Drums, aggressivem Piano und einer jaulenden Schweineorgel. In seiner Grundstruktur ist er sehr einfach aufgebaut, ganz klassisch mit 3 Akkorden und einem fetzigen Gitarrensolo. Auf diesem Track ist auch das ominöse Pahene Recorder Ensemble zu hören, das aus Brokker und Konsorten bestand, unter anderem auch aus Dave Ball. Der skurrile Name leitet sich vom Spitznamen von Brookers Vater Harry ab: The great Pahene.
Die multiplen Blockflöten sind tatsächlich nur wahrnehmbar, wenn man ganz genau hinhört. Sie sind sehr dezent im Hintergrund und klingen mehr nach leisem Chor oder einer sehr hellen Orgel, als nach Flöten. Interessant ist die wirbelnde Orgel, die stark an Dave Greenfields Spiel erinnert. Offensichtlich wurde der Stranglers-Keyboarder auch von diesem Song ein wenig inspiriert. Bacon wurde 1973 in den USA als Single veröffentlicht, konnte sich aber auch nicht in den Charts plazieren. Die Band spielte den Song sehr gerne zu Beginn ihrer Live-Auftritte. Auf Konzerten in Deutschland wurde der Song von Brooker stets mit dem Ausruf „Schinken!“ angekündigt.
Der Text ist ausserordentlich knapp, gerade mal 12 Zeilen lang. Reid brachte in diesen Lyrics seine Abneigung zu US-amerikanischen Essgewohnheiten zum Ausdruck.
Von diesem Song existiert auch eine Aufnahme mit Dave Ball, die langsamer und ein wenig holpriger ist als die endgültige Version. Auch klingt die Orgel hier noch stärker nach den Stranglers.
Kommen wir nun zum nächsten, sehr persönlichen Song: . Der Titel ist rätselhaft und erscheint unverständlich, zumal es in den Liner Notes keinerlei Hinweise auf einen Sinn oder Hintergrund gibt. Tatsächlich handelt es sich um eine melancholische und getragene Ballade über den Tod eines alten bekannten Brookers aus seiner Heimatstadt, Dave Mundy. Mundy war ein treuer Fan der Paramounts, allerdings mochte er den Bandnamen nicht und zog stattdessen seine Eigenkration vor: Liquorice John Death and his Allstars. Was genau ihn zu diesem seltsamen Namen inspirierte, bleibt unklar. Liqorice – Lakritze – ist im Englischen unter anderem auch ein Nickname für eine Klarinette oder den Penis eines Afrikaners.
Mundy hatte auch für die Bandmitglieder obskure Namen: Robin Trower war „Humdrum Pete“, Chris Copping „Chris the man C', BJ Wilson nannte er „Shaky Jake“ und Gary Brooker war „Liquorice John Death“.
Mundys skurrile Phantasie kam nicht von ungefähr, denn er litt an einer psychischen Krankheit, die ihn schließlich in einen stationären Aufenthalt in eine Klinik führten. Am 7. November 1970 sprang Mundy von einem Eckturm dieser Klinik in den Tod, nicht ohne eine Zeichnung für die Band zu hinterlassen: es handelte sich um das Cover für ein fiktives Album von „Liquorice John Death and his Allstars“.
1970, nach den Aufnahmen zu ihrem vierten Album Home, gingen die Musiker ins Studio, um Coverversionen alter Hits aus den Sechzigern aufzunehmen. Während einer einzigen Nacht entstanden 13 Songs (Lt. Brooker waren insgesamt ungefähr 45 in Arbeit), die allerdings nicht auf Platte erschienen. Das Master-Tape erhielt der Sender Capitol Radio, der einige Songs auch im Radio spielten. Das Band verschwand aber und tauchte erst 1990 wieder auf. Da sich die Coverzeichnung Mundys im Besitz von Robin Trower befand, beschloß man, ihm zu Ehren eine Platte mit ihm zu veröffentlichen. Die 13 Tracke s erschienen als „Ain't Nothin' to Get Excited About“ von Liquorice John Death.
Zurück zum eigentlichen Song.
Reids Text behandelt in erster Linie nicht den Tod und dessen Umstände selbst, sondern beschäftigt sich eher mit den Reaktionen, die er hervorrief und setzt Mundy mit Ikarus gleich, der ins Meer stürzte.
Der Song ist sparsam instrumentiert, Brookers Piano dominiert, dezent begleitet vom Rest. Erwähnenswert ist die Mundharmonika im Mittelteil des Songs. Aufgenommen wurde diese sehr schöne Ballade quasi live im Studio, wobei die einzelnen Instrumente ein wenig verfremdet wurden, um eine ganz eigene Atmosphäre zu schaffen, die an eine Überfahrt auf dem Meer erinnert. Im Zuge der Sessions zu Grand Hotel entstand ein leider verschollener Song mit dem Titel Mr Krupp, der sich in ähnlicher Weise mit dem Thema befasst. Es handelte sich um einen Spoken-Word-Track, der für den Schluß von Plattenseite Zwei geplant war. Keith Reid rezitierte darin einen Nachruf, den Brookers Mutter in einer Zeitung entdeckt hatte:
Die heutige Band hat einen gar seltsamen Namen, der eigentlich keinen Sinn ergibt: Procol Harum.
Reids Text handelt von einem in Beziehungen häufig anzutreffenden Problem: unfähig, die Verbindung zu lösen, bleiben die beiden Partner aus Gewohnheit zusammen.
Von Fires gibt es eine Aufnahme aus der Ball-Periode, allerdings ohne Legrands himmlische Stimme, dafür aber mit einem sehr schönen, von Brooker gespielten Spinett.
Den Abschluß des Albums macht , ein für Procol Harum abermals ungewöhnlicher Song mit karibischem Flair und Rumba-Rhythmen. Sogar „Alohas“ sind im Hintergrund zu hören.
Keith Reid erklärte das Lied wie folgt: „Es geht um das Arztsein. Die „Box“ ist seine Tasche voller Ausrüstung, die dem Patienten helfen sollen, gesund zu werden. Es ist ein sehr trauriges Lied. Der arme Patient benötigt Hilfe und bekommt keine. Eine sehr erbärmliche Situation.“
In starkem Kontrast steht die letzte Strophe des Songs, in der der Patient eindringlich um Hilfe fleht, die Musik sich aber opulent-sarkastisch mit Bläsersounds aufbläht.
Die Illustration von Spencer Zahn im Booklet zeigt eine klaffende Arzttasche, aus der aus unerfindlichen Gründen eine Art Dampf oder möglicherweise Flammen aufsteigen. Ob Zahn sich seine Motive selbst ausdachte oder möglicherweise Anweisungen von der Band erhielt, ist nicht bekannt. Die Implikation scheint zu sein, dass es ein Spiel mit dem Feuer ist, sich auf den Arzt einzulassen. Mit Robert ist der Doktor gemeint, was möglicherweise eine Anspielung auf den Beatles-Song Dr. Robert sein könnte.
Auch von diesem Song gibt es eine Aufnahme mit Dave Ball, die abermals ein wenig unfertig klingt. Der mäandernde Synthesizer gegen Ende des Schlusses stellt möglicherweise nur eine Art Platzhalter für ein geplantes, aber nicht realisiertes Gitarrensolo dar.
Das Album wurde von Chrysalis, der damaligen Plattenfirma der Band, ausgezeichnet promoted, da man sich – angespornt vom Erfolg des Live-Vorgängers – gute Verkaufszahlen erhoffte. Zu diesem Zweck gab es vor- ab ein äußerst aufwendiges Promotion-Press-Kit, das unter anderem ein en Kulturbeutel, eine Seife, ein Do-not-disturb-Schild und anderes beinhaltete. Passend zum Albumtitel und recht versnobt, wie ich meine. Aber es kam noch besser.
Chrysalis lud im April 1973 zu einer Grand-Hotel-Party im New Yorker Plaza ein, zu der unter anderem Andy Warhol, Carly Simon und James Taylor eintrudelten. Die Herren natürlich im Frack und mit Zylinder, die Damen passend dazu im Abendkleid. Laut Keith Reid hatte man sich köstlichst amüsiert, was ich ihm gerne glaube. Leider habe ich kein Photomaterial gefunden.
Trotz der opulenten und gediegenen Aufmachung und der exzellenten Promotion blieben die Verkaufszahlen leider ein wenig hinter den – zu hoch gesteckten – Erwartungen zurück, was aber nicht bedeutet, es hätte sich schlecht verkauft. Immerhin konnte es sich in den deutschen Album-Charts auf Platz 9, und in den Niederlanden auf Platz 8 behaupten. Chrysalis schielte damals aber besonders nach den USA, wo sich das Edmonton-Album bis Platz 5 hochkämpfte, Grand Hotel aber „nur“ bis Rang 21. Egal, es war in jeder Hinsicht ein Erfolg, sowohl in kommerzieller, als auch in künstlerischer Hinsicht. Brooker war in kompositorischer Hinsicht auf seinem Höhepunkt, das Album ist ein wahrer Ohrenschmaus, was Kompositionen und Arrangements betrifft. Die Musiker gaben ebenfalls ihr bestes. Auch die Kritiker waren überwiegend wohlwollend, bescheinigten sie der Band gönnerisch, die Größe vergangener Tage wieder erreicht zu haben.
Procol Harum veröffentlichten danach bis 1977 noch 3 weitere Alben, die aber nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen konnten. Danach löste Brooker die band auf, um sie 1991 wieder zu reformieren. Inzwischen sind sogar 3 neue Studio-Alben entstanden, obwohl die Band hauptsächlich live aktiv ist.
Ich selbst entdeckte das Album 1978, zu meiner Prog-Zeit und war damals schon begeistert davon, obwohl es kein Prog war, und eigentlich auch nur stellenweise Rockmusik. Aber es hatte das gewisse Etwas, das mich während der Sommerferien in den Bann zog, in denen ich mich bei der Lektüre von Dan Shocker`s MACABROs und den Klängen guter Musik von den Strapazen des vergangenen Schuljahres erholte. Grand Hotel trug wesentlich dazu bei, ebenso wie die eine oder andere Eistüte von der Tankstelle gegenüber.
Grand Hotel erschien 2018 in einer sehr schönen Deluxe-Edition, musikalisch aufbereitet und ergänzt um 5 Bonustracks, die teilweise aus der Zeit mit Dave Ball stammten. Zusätzlich liegt noch eine DVD mit dabei, die einen TV-Mitschnitt der Band in einer belgischen Musiksendung zeigt. Was will man mehr? Achja: natürlich ist ein sehr informatives Booklet mit dabei, zusätzlich ein Reprint des Original-Booklets mit den Texten und Spencer Zahns Illustrationen.
Was wurde aus den Beteiligten?
war auf vielen Alben bekannter Musiker als Gastmusiker vertreten, so z.B. bei Paul McCartney, Kate Bush, Alans Parsons, etc. Er veröffentlichte einige Soloalben und spielte in Alan Parkers Filmadaption des Musicals Evita die Rolle eines Anwalts. Brooker ist nach wie vor mit den reformierten Procol Harum aktiv.
stieg 1975 aus und eröffnete später eine Bar in London. Cartwright starb am 4. März 2021 an Magenkrebs.
übersiedelte 1979 in die USA und begleitete verschiedene Musiker auf ihren Live-Konzerten. Unter anderem war er kurzzeitig Mitglied bei AC/DC (!)und nahm einige Tracks für deren Album Flick of the Switch auf, von denen allerdings keiner veröffentlicht wurde, da die Band inzwischen einen neuen, festen Drummer gefunden hatte: Simon Wright. Wilson starb im Jahre 1990.
Mick Grabham zog sich weitgehend aus der Musik zurück und ist gelegentlich bei Procol Harum Konzerten mit dabei.
wechselte nach Cartwrights Weggang zum Bass, er wurde durch Pete Solley an den Keyboards ersetzt. Nach den Aufnahmen zu ihrem letzten Album stieg er aus und wurde für eine geplante Tour durch David Knights ersetzt. Copping zog 1978 nach Australien, wo er heute noch lebt und Musik macht.
verfasste weiterhin Texte für Procol Harum, aber auch für andere Musiker. So war er an den Lyrics zu John Farnhams Hit You`re the Voice beteiligt. Reid lebt heute in den USA.
Der nächste Track, , ist einer der Höhepunkte des Albums, was nicht zuletzt an der Gastsängerin liegt. Die Komposition ist klassisch angehaucht, der Song selbst erinnert an einen Song der britischen Band Renaissance und an Johann Sebastian Bach. Die erwähnte Gastsängerin ist die Sopranistin Christiane Legrand von den Swingle Singers, die dem Song ein musikalisches Sahnehäubchen aufsetzt und im letzten Fünftel des Songs sogar ein Solo singt. Die Swingle Singers sind ein aus 4 Frauen und 4 Männern bestehendes A-Capella-Ensemble, das 1962 von Ward Swingle gegründet wurde. Ihre größten Erfolge hatten sie in den Sechzigern und Siebzigern unter anderem mit Vokal-Interpretationen von klassischen Kompositionen.
Kommentare
Ich habe nicht ein einziges Album von denen, kenne aber das "Beat Club" - Konzert.
Da gibt es ein paar echte Perlen und ich mag Garys ruhige dezente Art, wie er die songs ankündigt.
Das muss zeitlich noch vor diesem Album gewesen sein, in das ich bei spotify mal irgendwann reingehört habe. Fand es etwas sperrig, aber nach diesem Artikel muss ich das auf jeden Fall noch mal hören...
Zitat: Ich hatte mal ein Album von Jim Steinman (RIP), bei dem es auch so war, dafür gab es die Single (Rock' n roll dreams) als Beilage...
EDT: Okay habe es nun gehört und muss doch sagen: Grandios! Und eigentlich gar nicht sperrig...
Vor allem der Titeltrack und "Fires" sind schlicht genial. Bei letzterem denkt man wirklich spontan an Annie Haslam...