Ringo´s Plattenkiste - He said - Take care
Nach dem Ausflug in meine persönliche musikalische Vergangenheit im vorigen Artikel greife ich diesmal wieder mal ganz tief in meinen Fundus zeitloser Favoriten, und zerre ein äußerst kreatives, aber leider sehr kurzlebiges Projekt ans Tageslicht. Es handelt sich um eine Band, die per se gar keine Band ist, sondern ein Soloprojekt eines Musikers der Post-Punk-Szene, der mit seiner Combo Wire ein kleines Stück Independent-Musikgeschichte geschrieben hat. Wire, gegründet von vier britischen Studenten, betraten die musikalische Bühne im Jahr 1977 mit ihrem brachial-minimalistischen Album „Pink Flag“.
Die Platte war experimentell, laut, roh neu, unverbraucht und ließ sich in keine Schublade einordnen. Stolze 21 Titel waren auf den beiden Platenseiten vertreten, manche davon weniger als eine Minute lang. Wire verließen diesen recht engen, minimalistischen Pfad aber schon bald und entwickelten ihren Stil kontinuierlich weiter. Ein kleiner Karrierehöhepunkt dürfte ihr 1988er Album „A Bell is a Cup“ sein, das eine ausgewogene Mischung aus Indie und eingängigem Pop-Rock bot, aber dennoch kein Mainstream war. Indie steht übrigens für Independent und ist eine in den Achtzigern entstandene Strömung, sich vom musikalischen Mainstream abzugrenzen. Die Bands und Künstler waren nicht bei den großen Labels unter Vertrag, sondern bei den kleinen und unabhängigen. Gängiger Pop und Rock fanden hier eine kreative Erweiterung, da den unter Vertrag genommenen Acts weitgehend künstlerische Freiheiten geboten wurden. Dadurch entstanden neue Genres und Stilrichtungen wie z.B. EBM und Gothic.
Wire ließen sich aber immer noch nirgendwo einordnen, tatsächlich hatten sie eine Art Nische für sich entdeckt.
Einem größeren Publikum bekannt wurden sie durch einen Auftritt im Rockpalast, der große Erfolg aber blieb ihnen versagt.
Obwohl als Band stabil und kontinuierlich in der Besetzung, löste sich Gitarrist Graham Lewis von Anfang an immer wieder mal ein wenig aus dem Bandgefüge. So gründete er z.B. mit seinem Wire-Kollegen Bruce Gilbert die Band Dome, die bis 1999 5 Alben aufnahmen. Nebenbei hatte Lewis aber noch mehr Projekte laufen: Unter den recht unkonventionellen Namen wie B.C. Gilbert & G. Lewis, bcGilbert, gLewis & russellMills, Cupol, Duet Emmo und P'O produzierte er jeweils ein Album.
1986 legte er dann weiteres Album mit dem Titel „Hail“ unter dem Namen He Said vor, dem 1989 das heutige Album folgen sollte: „Take Care“.
Bewegte sich Lewis schon auf „Hail“ in elektronischen Gefilden, verließ er auf Take Care nun gänzlich die ausgetretenen Rockpfade: Synthesizer, Sequenzer und Drumcomputer dominierten nun, was Lewis befähigte, Musik quasi im Alleingang zu produzieren. Was er auch tat.
Unterstützt wurde er von John Fryer, der für das Album auch als Produzent fungierte. Fryer war damals festes Mitglied der Band „This mortal Coil“, zu Deutsch „diese sterbliche Hülle“, die zwischen 1983 und 1991 3 Alben veröffentlichten. Fryer war zudem Hausproduzent beim noblen Indie-Label 4AD, arbeitete aber auch für die Labels Rough Trade und Beggars Banquet. Unter seiner Regie nahmen Bands wie Depeche Mode, Fad Gadget und die Cocteau Twins ihre Songs und Alben auf.
Lewis` Bandkollege Gilbert, mit dem er zuvor bei seinen vielen Projekten und auch auf dem He Said Erstling „Hail“ zusammengearbeitet hatte, war diesmal nicht mehr dabei.
Aufgenommen wurde 1988 in Eric Radcliffes Blackwing-Studio im Südosten Londons. Untergebracht war das Studio interessanterweise in einer alten Kirche, die im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört wurde. Radcliffe produzierte dort unter anderem bekannte Acts wie Depeche Mode, Fad Gadget und auch Yazoo, an deren Erfolg er maßgeblich beteiligt war.
In späteren Jahren nahmen dort Dead can dance, Nine inch Nails und andere Größen der Indie-Szene auf. Lewis und Fryer waren dort bereits Stammgäste und arbeiteten schon als Duet Emmo sowie für Hail dort zusammen. Das Studio war bestens ausgerüstet und besaß unter anderem ein 24-Spur-Bandgerät, ein Synclavier, einen Yamaha DX 7 und einen Fairlight. Die Geräte wurden hauptsächlich von Vince Clarke (Yazoo) zur Verfügung gestellt.
Ein besonderer Clou des Studios war die natürliche Echokammer des Kirchenschiffs. Radcliffe schloss die Pforten seines Studios im Jahre 2001.
Die Besetzung sah aus wie folgt:
Produziert und aufgenommen wurde das Album von Fryer.
Die Tracklist sah aus wie folgt:
Take Care erschien im Februar 1989 auf Daniel Millers Mute-Label in einer ästhetisch ansprechend gestalteten Einfachhülle mit einer beidseitig bedruckten Innentasche, auf der neben stylischen s/w-Photos die Texte abgedruckt waren.
Gestaltet wurde das Cover von einem gewissen Sven, der zuvor schon für „Hail“ sowie für Wire gearbeitet hatte. Für die Innentasche war der Designer Slim Smith zuständig, der nicht mit dem Reggae-Musiker gleichen Namens zu verwechseln ist. Smith war professioneller Designer und Layouter, der für Magazine und Plattenfirmen arbeitete. Unter anderem entwarf er später Covers für Moby und Nick Cave. Eine von Smiths Spezialitäten ist die Collage, die er auch auf dem He Said Cover anwendete.
Alles in allem typisch Independent, typisch End-Achtziger. Aber sehr schick, wie ich meine.
Sehen wir uns die Songs mal genauer an.
Lewis eröffnet die Platte mit dem Longtrack , einem melancholischen Love-Song. „ – Pass auf Dich auf!“. Der gefühlvolle Text steht in gewissem Gegensatz zur maschinenhaften Musik, bei dem ein pumpender Rhythmus den 2/2-Takt vorgibt. Musikalisch sind Synthesizer und Co. dominant. Lewis Gesang steht in bester Tradition mit Depeche Mode und The Human League, ist aber kaum moduliert und bewegt sich überwiegend auf ein und derselben Tonhöhe. Watch Take Care steht programmatisch für das Album und zeigt dem Hörer gleich, wo es lang geht: „Das Lied schläft in der Maschine“, wie Blixa Bargeld es ausdrücken würde. Zwischendrin gibt es „Noise“, schräge, kreischende und sägende Töne, die den sturen Musikfluss immer wieder durchbrechen, gleichzeitig aber auch akzentuieren.
steht musikalisch in krassem Gegensatz zum vorangegangenen Song: keine Spur mehr von Düsternis und Melancholie. Es erklingen fast schon fröhliche Synthesizerfanfaren im typischen 80er Sound, dazu eine eingängige Melodie, ein klar strukturierter Songaufbau und tatsächlich auch ein Refrain. Unverkennbar ist die Cowbell aus der 808. „Where, where are you “singt Lewis, und man denkt unwillkürlich an The Human League oder Depeche Mode. Der Text ist erneut sehr konträr zur Musik, da er sperrig, nachdenklich und pessimistisch ist. Insgesamt aber ein toller Song mit Ohrwurmcharakter. Gastmusiker auf diesem Track ist übrigens Keith LeBlanc, der die Drums und den Synthesizer bedient.
Ist wieder ein langsamer und getragener Song voller Melancholie, eine gelungene Mischung aus Kraftwerk, Human League und Tuxedomoon. Lewis trägt den Text in einer Art Sprechgesang vor, der fast anklagend wirkt. Seine Stimmlage ist ein dunkler, angenehmer Bariton. Erst im Refrain „Did you do it for Love, did you do it for free?“ treibt Lewis seine Stimme in etwas höhere Lagen. Der Gesamtsound des Songs ist düster, melancholisch und gleichzeitig auch sphärisch. Der Titel erschien in einer anderen Version 1988 bereits als Single mit „He Said: She Said“ auf der Flipside.
Seite 1 ist dann leider schon wieder aus.
, ein moderater Song mit vertrackt-verspieltem Rhythmus, der wohl eine Menge Programmierarbeit erfordert hat, eröffnet die zweite Seite. Witzig ist das Sample mit dem Wasserplatschen, das perkussiv eingesetzt wird.
Mit folgt ein poppiger Song mit dezent südamerikanischem Flair, der fast ein wenig an die Talking Heads erinnert. Gesanglich unterstützt wird Lewis diesmal von einem Damentrio, bestehend aus Ruby James, Lorenza Johnson und Shirley Lewis. Johnson war eine gefragte Backgrundsängerin und arbeitete unter anderem für The Cult, Madness, Midge Ure und ABC. Ruby Lewis ist übrigens nicht mit Graham Lewis verwandt und brachte im selben Jahr wie He Said ihr erstes und zugleich auch letztes Soloalbum heraus. Insgesamt eher nichts für den waschechten Indie-Fan oder den gestandenen Waver.
ist ganz langsam, ganz getragen, ganz hypnotisch-monoton, ganz instrumental. Über dem lasziv-schwerfälligen Bass und dem schleppenden Rhythmus huschen und verflüchtigen sich sphärische Synthesizerschwaden und elektronische Pianokaskaden. Ein toller Song, wie eine Mischung aus den ganz alten Dead can Dance und Pink Floyd.
greift die Melodie von Could you? wieder auf, variiert diese und schmiedet diese zu einem sehr langsamen, sehr düsteren und sehr getragenen Instrumental.
, der letzte Song, ist aggressiv und schräg. Holpernde Drums, verzerrte Gitarren und ein verfremdeter, brachialer Gesang beherrschen diesen Closer, der stark an Alien Sex Fiend oder EBM erinnert.
"Get Out Of That Rain" und "Hole In The Sky" wurden übrigens von dem extravaganten Choreographen Michael Clarke für die TV-Darbietung "Because We Must" in Auftrag gegeben.
Take Care erschien 1989 gleichzeitig auf Cassette und auch auf CD. Letztere mit 5 Bonustracks. So wurde nach dem Titel „Tongue Ties“ ein kurzes Instrumental namens „Screen“ eingefügt. Nach dem letzten Track der LP-Version finden sich die restlichen Boni: He Said: She Said, der Titel der Single-Flipside. Des Weiteren alternative Versionen von A.B.C. Dicks Love und Could You. Ein besonderes Schmankerl ist die Coverversion von Leonard Cohens „Suzanne.
Mir fiel die Platte 1989 eher zufällig beim Stöbern im lokalen Müller-Plattenladen in die Hände. Ich befand mich damals in meiner Post-Prog-Zeit und hatte schwarz gefärbte Haare, trug schwarze Kleidung und spitze Schnallenstiefel an den Füssen. Ich hatte gerade Alien sex Fiend für mich entdeckt, Front 242 kennen gelernt und fand diese für mich neue Musik ganz toll, so dass ich ständig auf der Suche nach mehr war und Platten häufig anhand des Covers kaufte. He said kannte ich noch nicht, aber die Gestaltung der Platte sprach mich an, so dass sich Take care bald auf meinem Plattenteller drehte. Immer wieder, so fasziniert war ich davon. Das Album ist ein typisches Kind der ausgehenden 80er Jahre. Sehr elektronisch, sehr düster, sehr wavig. Nach der eher plumpen ersten Hälfte der Achtziger zeigte sich die zweite origineller. EBM, Gothic, Wave und dergleichen hatte sich zwar schon zuvor entwickelt, fristeten aber ein Schattendasein. Das war alles Independent und nur einem elitären kleinen Kreis zugänglich. Anhand der vorliegenden Platte wurden die Indies aber mehr und mehr einem breiteren Publikum bekannt. Im lokalen Müller standen plötzlich Alien Sex Fiend, The Sisters of Mercy, Front 242 und auch eben He Said im Regal und lockten zum Kauf. Take Care klingt unverwechselbar nach den End-Achtzigern, aus heutiger Sicht aber dennoch keineswegs altbacken oder fade. Ganz im Gegenteil, He said tönen immer noch frisch und neu aus den Lautsprechern.
Leider war diese Platte unter diesem Namen dann auch schon die letzte. Lewis hatte sich wieder mal ausgetobt und widmete sich wieder seiner Hauptband Wire.
Nachdem ich einige Jahre später komplett auf CD umgestiegen war und sich mein Musikgeschmack wieder mal geändert hatte, geriet He Said bei mir in Vergessenheit. Das Album erschien zwar auf CD, war aber schnell ausverkauft und ist inzwischen sehr teuer.
Was wurde aus den Beteiligten?
war weiterhin Mitglied von Wire, brachte aber auch wie bisher immer wieder Veröffentlichungen eigener Projekte heraus. Das letzte Wire-Album erschien 2020.
Auch Soundtracks für Filme wie Mortal Kombat oder Seven entstanden unter seiner Regie. 2011 veröffentlichte er mit seiner Band DarkDriveClinic ein eigenes Album. wurde ein äußerst erfolgreicher Produzent und arbeitete unter anderem für Nine Inch Nails, Die Krupps, Clan of Xymox, Depeche Mode und viele andere.