Ringo's Plattenkiste: Divine Horsemen: Snake Handler
Ringo’s Plattenkiste
Divine Horsemen: Snake Handler
Die Violent Femmes (Ringo berichtete) waren da eine Ausnahme, die heutige Band die Regel. Eine Band, die eine gelungene und frische Mischung aus Punk, Rock und Country (Yippie!) spielte. Sehen wir uns die Anfänge an und tauchen ein in das Jahr 1977, als die Rockwelt am bröckeln war, Disco die Plattenteller beherrschte und Punk groß angesagt war.
In LA war die Band The Flesh Eaters recht angesagt und erfolgreich, was nicht zuletzt an dem charismatischen Sänger und Songtexter Chris Desjardins und seinem stechenden Blick lag, dessen Lyrics morbid, düster, schwerverdaulich waren und als gesungene Film-Noirs genannt werden können.
Der 1953 geborene Chris war bis zur Gründung der Flesh Eaters Kritiker beim Punk-Magazin Slash. Auch die Songs selbst waren eigen und oftmals punk-untypisch vertrackt-verspielt und komplex in ihrem Arrangement, trotz ihrer Schlichtheit. Chris D. arbeitete nebenbei auch als Produzent unter anderem für Green on Red, The Misfits und The Gun Club.
Die Band war ursprünglich eine experimentelle Spielwiese verschiedener Musiker, die fest in anderen Bands spielten. Unter anderem waren Tito Larriva und Stan Ridgway Mitglieder, die später relativ bekannt und erfolgreich wurden.
Ihr Sound war ein Amalgam aus Punk, Rockabilly, Blues und Jazz. Desjardin erinnert sich: „Was unsere Fans so fesselte war, dass wir uns in kein Schema pressen ließen und in keine Schublade passten. Unsere Musik war laut, aber kein Thrash, wir hatten jede Menge Einflüsse. Und jede Menge Melodien.“
1978 erschien mit der unbetitelten 7“-EP ihre erste Veröffentlichung, gefolgt vom 1980er Album „No Questions asked“. Während der Sound des Erstlings noch roh, ungeschliffen und deutlich dem US-Punk zugerechnet werden konnte, entwickelten sich die Flesh Eaters schnell. Ein Jahr später erschien das deutlich ausgereiftere und von den Kritikern hochgelobte „A Minute to Pray, a Second to Die“.
Die Band war zu dieser Zeit eine Art Supergroup aus angesagten Musikern der LA-Independent-Szene. So spielten auf dem Album Musiker der Blasters und Los Lobos. Patrick Kennedy bezeichnete die Platte als „klassisches Album voller trashiger Düsterheit, Hollywood-Schnulze, Lagerfeuer-Horror-Blues und einfachem Punk. Ein Album, das hält was es verspricht: simplen, direkten LA-Punk“.
1982 erschien mit „Forever came today“ das dritte Album, ein Jahr später folgte die vorläufig letzte Veröffentlichung „A hard Road to follow“. Während dieser Zeit lieferten sie mit dem Song „Eyes without a face“ auch einen Beitrag zum Kultfilm „Return of the living Dead“, einer schwarzen Zombiekomödie.
Die Flesh Eaters befanden sich auf dem Soundtrack in illustrer Gesellschaft, denn bekannte Acts wie z.B. Cramps, Roky Erickson und The Damned waren ebenfalls vertreten. Danach löste sich die Band auf. Ein Best-of-Album erschien 1987, eine Platte mit Live-Mitschnitten 1988.
Desjardin blieb nicht untätig und rief im selben Jahr sein neues Projekt ins Leben, die Band, um die es heute geht: The Divine Horsemen. Der seltsame Name ist ein Ausdruck aus der Voodoo-Terminologie, wo man von Loas während einer Zeremonie Besessene als „von göttlichen Pferdemenschen geritten“ bezeichnet. Loa sind Geister, die ihren Verehrern fast alle Wünsche erfüllen können.
Loas können sowohl wohltätig, als auch zerstörerisch sein. Die Kolonialherren versuchten den eingeschleppten Afrikanern ihr Heidentum zu verbieten diese jedoch umgingen dies geschickt, indem sie ihre Loas mit katholischen Heiligen amalgamisierten.
Die bekanntesten Loas dürften Damballah und Papa Legba sein. Divine Horseman war auch der Titel eines Flesh-Eaters-Songs.
Zurück zum Thema. Desjardins neue Band bestand aus seiner damaligen Frau Julie Christensen, Matt Lee und Peter Andrus. Das erste Album erschien auf dem Label Enigma unter dem Titel „Time stands still“, als Interpret wurde Chris D./Divine Horseman angegeben. Enigma war damals sehr angesagt, es tummelten sich dort neben Indie-Bands wie The Dead Milkmen, The Cramps, Hüsker Dü auch bekanntere wie etwa Mötley Crüe oder Mötörhead.
Auf dem Debutalbum der Horsemen war eine illustre Schar an Musikern vertreten. Neben dem Kern der Band waren auch Chris Cacavas, Texacala Jones, Jeffrey Lee Pierce und Kid Congo Powers zu hören. Der Sound war dem ursprünglichen Punk und der Experimentierfreudigkeit der Flesh Eaters deutlich abgewandt und kann als straighter, Garage-Country-Rock bezeichnet werden.
Eine besondere Note kam durch Julie Christensen gefühlvoll-samtige Stimme hinzu. Christensen war vor den Horsemen mit Showbands und Jazzmusikern unterwegs, bevor sie nach LA zog und in der dortigen Punk-Szene aktiv wurde, wo schließlich Chris D. auf sie aufmerksam wurde.
Ein Jahr später erschien Devils River, gefolgt vom 1987er Album Middle oft he Night. Christensen und Desjardin hatten in der Zwischenzeit geheiratet, die Ehe sollte aber keinen dauerhaften Bestand haben und das Album, um das es heute geht, nur um kurze Zeit überleben:
Rex Roberts, der Desjardins verblüffend ähnlich sieht, trommelte vorher bei der New Wave/Rockabilly-Band „The Kingbees“. Kennt keiner mehr, oder?
Peter Andrus spielte bei der obskuren Deathrock-Band „The Decadent“, die lediglich eine einzige Single veröffentlichten, bevor sie wieder verschwanden.
Aufgenommen wurde von Juni bis Juli 1987 im unabhängigen Control Center Studio in Hollywood, wo auch Howe Gelb und Giant Sand Stammgast waren und immer noch sind, aber auch Mitchell Froom von Crowded House.
Das Studio existiert immer noch und diente unter anderem für Aufnahmen von Faith no More und Chris Cacavas. Produziert und abgemischt wurden die Tracks von Desjardin und Paul du Gré, einem erfahrenen Tontechniker, der zuvor mit Joe Walsh gearbeitet hatte und 1988 ein eigenes Tonstudio eröffnete.
Das Album erschien am 4. November 1987 auf dem Label SST im einfachen Sleeve mit bedruckten Innentaschen, die von Julie gestaltet waren. Auf der Rückseite gibt es eine Gruppenaufnahme der Horsemen zu sehen. Die Photographie stammt von der 2003 verstorbenen Naomi Petersen, die schon für Saint Vitus und Hüsker Dü fotografiert hatte. Bei SST waren inzwischen legendäre Acts wie Black Flag oder Hüsker Dü unter Vertrag.
Das leicht verstörende surreale Cover mit dem sperrigen Originaltitel „I have studied the half Rat on the Street of fugitive Angels“ stammt von Robert Williams, einem US-amerikanischen Undergroundkünstler, der für Ed „Big Daddy“ Roth, dem Erfinder des Rat Fink gearbeitet hatte, aber ebenso mit Robert Crumb und Victor Moscoso für das Underground-Comic „Zap Comix“ gearbeitet hatte.
Williams Kunst wurde durch das Guns `n Roses Album „Appetite for Destruction“ einem breiteren Publikum zugänglich, was die Musik der Band aber auch nicht besser machte. Für dieses Album wählte man ein älteres Gemälde aus dem Jahre 1978 für das Cover aus.
Der Albumtitel bezieht sich auf ein Ritual der christlichen Pfingstbewegung, bei dem die Gläubigen ohne Schutzvorkehrungen Giftschlangen anfassen, sich um den Hals hängen oder küssen, um so ihren Glauben unter Beweis zu stellen. Die Pfingstochsen beziehen sich dabei – wie üblich – auf ein Zitat aus der Bibel, wo es heißt:
“Behold, I give unto you power to tread on serpents and scorpions, and over all the power of the enemy: and nothing shall by any means hurt you.“ Amen. Jeder Glaube ist Wahrheit.
Snake Handler eröffnet das Album mit einem eingängigen Kracher der vom harmonischen Wechselgesang Dejardins und Christensens besticht und von verblendeten Gläubigen berichtet. Zu diesem Song gibt es auch ein Video von Kevin Kerslake, einem US-amerikanischen Filmemacher und Videoclip-Regisseur, der später für Iggy Pop, Cypress Hill, Depeche Mode und viele mehr gearbeitet hat. „Snake Handler“ ist eine seiner ersten Arbeiten.
Im Video gibt es neben der Band, die ihren Song zum Besten gibt, jede Menge Schlangen zu sehen. Auch Chris hat sich ein stattliches Exemplar um den Hals gehängt. Die Lyrics stammen von Chris D, die Musik von ihm und Peter Andrus.
Kiss Tomorrow Goodbye beginnt mit einem melancholischen Vokal-Intro von Julie und entpuppt sich als stimmungsvolle Ballade im Mid-Tempo. Der Titel bezieht sich vermutlich auf den gleichnamigen 50er Gangsterfilm mit James Cagney. Auf Deutsch lief der Streifen bei uns unter dem Titel „Den Morgen wirst Du nicht erleben“. Auch auf diesem Track spielt Jimmy Wood wieder die Harmonica. Die Lyrics sind wieder von Desjardin, die Musik stammt von ihm, Robyn Jameson und Peter Andrus.
Stone By Stone (Fire Is My Home) ist eine langsame Nummer, die mit 6 Minuten der längste Track des Albums ist. Der Song ist stark countrylastig, was vor allem der Slide-Gitarre zu verdanken ist und erinnert an die frühen Giant Sand. Die Lyrics stammen von Julie Christensen und Chris, die Musik von Desjardin und Jameson.
Auf Curse Of The Crying Woman singt Julie die Lead-Vocals, die auch die Lyrics verfasste und zusammen mit Peter Andrus die Musik schrieb, der hier auch Dulcimer spielt. Desjardin ist, wenn überhaupt, im Hintergrund zu hören.
Someone Like You bringt Lyrics von Andrus, zu denen er mit Desjardin auch die Musik schrieb. Ein kurzweiliger Rocksong mit eingängigem und rotzigen Refrain.
Fire Kiss klingt wieder ein wenig nach Giant Sand, ist aber im Vergleich zu den vorangegangenen Songs eher Mittelmaß und wenig inspiriert. Text und Musik stammen von Desjardin.
What Is Red ist ein flotter Song aus der Feder von Andrus und Drummer Roberts mit sehr schönem und eingängigen Refrain. Die Lyrics sind wie gewohnt von Chris und beschäftigen sich mit verschiedenen Crime-Autoren.
Blind Leading The Blind ist ein fast lupenreiner Country-Song mit dezenter Akkordeon-Begleitung von Doug Lacey, der für Jeff Beck, Rod Stewart und Paul McCartney gespielt hat. Der Text stammt von Christensen und beschäftigt sich mit der Metapher , der verwendet wird, um eine Situation zu beschreiben, in der eine Person, die sich mit einem bestimmten Thema nicht auskennt, Rat und Hilfe von einer anderen Person erhält, die genauso unwissend ist. Passend hierzu gibt es auch ein Gemälde gleichen Namens von Peter Breughel. Jimbo Ross, ein bekannter und begabter Sessionmusiker spielt Viola. Ross war schon mit The Band auf der Bühne, ebenso mit Roy Orbison und vielen anderen mehr.
Das Album endet mit That's No Way To Live, dem zweitlängsten Song des Albums. Ein einsamer und verlassener Mann irrt umher und hadert mit der Welt, wie sie ist. Er hat Kugeln für die Clowns in den Business-Anzügen, er selbst ist ohne jede Hoffnung.
Wie gegen Ende der Achtziger gerade noch üblich, erschien das Album auch auf Kassette, obwohl es die Compact Disc bereits gab, die aber ihren Siegeszug noch nicht angetreten hatte. Dennoch wurde „Snake Handler“ auch gleich als Silberling veröffentlicht. Als Kaufanreiz lockten 5 Bonustracks mit Liveaufnahmen.
Bevor sich die Band im folgenden Jahr auflöste, erschien noch die EP „A Handful of Sand“ mit 6 Tracks, von denen nur ein einziger wirklich neu war. Ein Track stammt von „Snake Handler“, der Rest sind ältere Songs. Und das war es vorläufig mit den Horsemen. Desjardin und Christensen ließen sich scheiden, ein jeder der Musiker ging getrennte Wege.
Chris D. ließ kurz darauf seine Flesheaters wieder aufleben und veröffentlichte einige sehr gelungene Alben, die deutlich ausgereifter waren, als das Frühwerk dieser Band. 30 Jahre später war eine Reunion geplant, die aber durch den tragischen Tod von Jameson platzte.
Erst 2021 kam es dann mit dem Album „Ice Cream for an Phoenix“ dann doch noch dazu. Eine überwältigende Platte die zu überzeugen weiß und ausschließlich Knaller bietet. Desjardin und Christensen sind zwar deutlich gealtert, was man auch ihren Stimmen anmerkt, allerdings tut dies der Qualität der Songs keinen Abbruch.
Ich machte Ende der Achtziger Bekanntschaft mit der Band, als ich in einem Regensburger Plattenladen auf der Suche nach Neume herumstöberte und auf „Snake Handler“ stieß. Wie so oft, faszinierte mich das Cover dermaßen, dass ich mir das Album kaufte.
Allerdings war ich vom countrylastigen Sound anfangs etwas enttäuscht, weil ich mir etwas völlig anderes erwartet hatte, hörte mir die Platte dann aber immer wieder an und entdeckte meine Liebe zu diesem Juwel. Der Sound ist im Vergleich zu den früheren Alben deutlich besser, auch sind die Arrangements ausgefeilter und die Kompositionen hochwertiger. Gerade das Debutalbum weiß von den Songs zwar zu überzeugen, klingt aber doch recht roh und ungeschliffen, eher wie eine Sammlung von demo-Aufnahmen.
Chris D fiel nach der Scheidung in ein tiefes Loch und hatte schwere Alkohol- und Drogenprobleme, die er aber mit professioneller Hilfe lösen konnte. Er machte 1989 weiter Musik mit einer Band namens Stone by Stone, die sich aber nach einem einzigen Album in The Flesheaters umbenannte. Es folgten weitere Platten und Live-Auftritte. Desjardin hatte auch einen kleinen Auftritt als Attentäter neben Kevin Costner und Gene Hackman in dem Film No way out.
Eine Hauptrolle als desillusionierter Musiker hatte er in dem Independent-Streifen Border Radio. 2002 schrieb er das Drehbuch zu dem Independent-Horror-Film I pass for Human, bei dem er auch Regie führte. Desjardin liebte das Schreiben und auch den Film, besonders das Genre der japanischen Gangster-Filme, den Yakuza-Movies. 2013 erschien nach zwanzigjähriger Recherche sein Buch Gun and Sword: An Encyclopedia of Japanese Gangster Films 1955-1980.
Nebenbei verfasste er auch Liner Notes zu diversen DVD-Veröffentlichungen und schrieb 5 Romane, die allesamt auch veröffentlicht wurden. Ein umtriebiges und vielseitiges Kerlchen also. 2021 kam es zur bereits erwähnten Reunion der Horsemen und dem bislang einzigen Album dieser Inkarnation.
Julie Christensen lernte nach dem Band-Split Leonard Cohen kennen, den sie viele Jahre als Background-Sängerin auf seinen Konzerten begleitete. Julie veröffentlichte bis jetzt 6 Soloalben, zum Teil mit der Band Stone Cupid.
Sie ist seit 1992 mit dem Schauspieler John Diehl verheiratet, der unter anderem in Die Klapperschlange, Gettysburg und Falling Down mitspielte. Auch Julie spielte eine kleine Rolle in einem Hollywood-Streifen: 1991 in Barry Levinsons Bugsy. Auch Julie singt wieder bei den reformierten Horsemen.
Robyn Jameson eröffnete ein eigenes Studio, das „Yo“ und verstarb 2018 an den Folgen einer Kopfverletzung die er sich zuzog, als er einer Frau zu Hilfe kam, die von einem Mann tätlich angegriffen wurde. Eine sehr traurige Geschichte, die zutiefst nachdenklich macht, Jameson aber in hellstem Licht erstrahlen lässt. Er war ein Mensch, der das Wohl anderer über sein eigenes stellte.
Rex Roberts spielte in den Neunzigern bei den reformierten Kingbees mit. Peter Andrus war nach dem Split Gitarrist bei der Band Crowbar Salvation und arbeitete mit Kim Fowley zusammen. Seit 2021 ist er auch wieder bei den Horsemen.
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© by Ringo Hienstorfer
Kommentare
Sag mal, Du denkst schon daran, diese Ergüsse einem Verlag als Buch anzubieten, oder?!
Ist ja nicht nur zum schmökern für Musiker wahnsinnig interessant, sondern als Leitfaden für Laien wie mich von Bedeutung.
Habe wegen Dir gerade diese LP bei Discogs bestellt.