Ringos Plattenkiste: Paladin - Charge
Heute gibt es wieder Altbekanntes und -bewährtes, nämlich gestandene Rockmusik. Genauer gesagt, Prog aus den Siebzigern. Zumindest wurde und wird der Stil der heutigen Band als solcher bezeichnet, obwohl dies eigentlich Etikettenschwindel war. Dazu aber später mehr.
Wie schon öfters beschäftige ich mich heute wieder einmal um eine vergessene Band, die hauptsächlich aufgrund eines Roger Dean-Covers bekannt wurde, der der erhoffte Erfolg aber dennoch verwehrt blieb. Was seine Gründe hatte.
Der Bandgründer machte aber unverzagt weiterhin Musik und wurde später sogar sehr erfolgreich. Blicken wir zuerst aber mal ein wenig zurück.
Pete Solley wurde als Sohn rumänischer Einwanderer 1948 in England geboren, wo er im Alter von 13 Jahren über ein Stipendium eine klassische Musikausbildung erhielt. Nach seinem erfolgreichen Abschluss wurde er zunächst Sessionmusiker, bevor er Ende der Sechziger Mitglied bei den Thunderbirds, der Begleitband des Sängers Chris Farlowe (später Colosseum) wurde. Solley arbeitete danach mit Terry Reid zusammen, dessen Band die Rolling Stones und die Supergroup Cream als Vorgruppe begleitete. Anschließend war er Keyboarder bei „The crazy World of Arthur Brown“, die durch den Hit Fire! Bekannt wurden.
Über Terry Reid lernte Solley auch den Drummer Keith Webb kennen mit dem er 1970 schließlich seine eigene Band gründen sollte: Paladin. Webb spielte zuvor beim Vorzeigehippie Donovan. Den Bass bediente Peter Beckett, der eigentlich gar kein Bassist war, allerdings dringend einen Job brauchte. Gitarrist Derek Foley und Sänger/Keyboarder Lou Stonebridge spielten zuvor bei der braven Beatcombo Grisby Dyke, die einige nette, aber dennoch erfolglose Singles veröffentlichten.
Das Bandkonzept war ungewöhnlich, denn Solley setzte den Fokus auf 2 Keyboarder. Eine Idee, die sich wenig später auch Dave Greenslade (Ringo berichtete)zunutze machen sollte. Auch die Vorgehensweise entsprach nicht ganz dem Üblichen. Die 5 Musiker lebten zusammen in einem alten Farmhaus in Gloucestershire, wo sie ihre Songs probten. Anstatt, wie alle anderen Bands auch, Demos aufzunehmen, luden sie Leute aus der Musikbranche ein, die ihnen beim Proben zuhören konnten um sich so von ihren Qualitäten zu überzeugen und einen Plattenvertrag zu ergattern.
Nach einigen Absagen erhielten sie diesen schließlich bei Bronze Records (Ringo berichtete). 1971 erschien ihr unbetiteltes Debutalbum, dessen Cover nicht gerade verkaufsfördernd war: Weißer Schriftzug auf schwarzem Hintergrund.
Obwohl die Verkaufszahlen enttäuschend waren, bekamen sie dennoch eine weitere Chance und durften ein Nachfolgealbum aufnehmen. Und um dieses geht es heute: Charge
Die Band ging in das renommierte Apple-Studio, das nach dem Split der Besitzer, den Beatles (kennt die jemand?), in finanziellen Schwierigkeiten war und deshalb vermutlich günstig zu buchen war. Produzent war Philamore Lincoln, der schon beim Debutalbum die Regie geführt hatte. Robert Cromwell Anson, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, war selbst Musiker und in den Sechzigern Drummer bei Brian Auger und Graham Bond, bevor er sich selbständig machte und 1970 in den USA ein Soloalbum veröffentlichte. Zu Erfolg kam er mit dem Schmusesong „Temma Harbour“, das in der Version von Mary Hopkins ein großer Hit wurde. Zurück in England brachte er durch Vermittlung Brian Epsteins eine weitere Single heraus, bevor er sich dem Producen widmete.
Am Mischpult saß Geoff Emerick, der an den Beatles-Alben Revolver, Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band und Abbey Road mitarbeitete. Eine Menge erfahrene Leute in einem noblen Studio, die sich um eine unbekannte Band kümmerte. Unschwer zu erraten, dass Bronze Erfolg witterte und auch erwartete.
Die Besetzung sah aus wie folgt:
Lou Stonebridge: vocals, electric piano, harmonica
Derek Foley: Lead guitar, slide guitar, vocals
Peter Solley: organ, violin, piano
Peter Beckett: bass, vocals
Keith Webb: drums, percussion
Stonebridge war zur Zeit der Aufnahmen aufgrund eines Unfalls verletzt. Während eines Auftritts war ein improvisierter Teil der Bühne (ein Tisch!) zusammengebrochen und Lou renkte sich seine Schulter aus. Aua.
Das fertige Album erschien 1972 im für die Siebziger obligaten Klappcover mit einem umlaufenden Cover von Roger Dean, das als Kaufanreiz dienen sollte. Das Original war sehr groß, ca. 61 x 107cm! Gemalt wurde es in der für Dean typischen Mischtechnik mit Gouache und Lackfarben. Pferd und Reiter zeichnete er mit Tusche auf ein separates Blatt, schnitt diese dann aus und fügte sie in den Hintergrund ein. Wie man im Bildband „Views“ sehr schön sehen kann, war für den biomechanischen Reiter eine Menge an zeichnerischer Vorarbeit nötig.
Im Innenteil des Covers waren eine psychedelisch-verschwommene Aufnahme der Bandmitglieder, die Tracklist und einige Credits zu sehen.
Wie damals üblich, erschien das Album auch auf Kassette. Ab den Neunzigern erschien Charge auch in verschiedenen Versionen auf CD, auf denen sich unveröffentlichte Tracks sowie alternative Versionen finden.
Hier die Tracklist des Original-Albums:
Seite 1:
- Give Me Your Hand
- Well We Might
- Get One Together
- Anyway
Seite 2:
- Good Lord
- Mix Your Mind with the Moonbeams
- Watching the World Pass By
Sehen wir uns die Songs ein wenig genauer an.
Give Me Your Hand eröffnet das Album mit einem kraftvollen White-Funksong, der sich, clever aufgebaut und arrangiert, kontinuierlich steigert. Besonders hervorzuheben sind der pumpende Bass, Solleys sägende Schweineorgel sowie sein verzerrtes Violinsolo. Ein gelungener Auftakt, der Lust auf mehr macht. Mit fast 8 Minuten ist der Track der zweitlängste des Albums, was hauptsächlich an den ausgedehnten Instrumentalparts und dem furiosen Finale liegt. Ein fulminanter und überzeugender Opener, der vor ungezügelter Spielfreude glänzt!
Mit Well We Might überrumpelt die Band den Hörer mit einem Rock n`Roll Boogie reinsten Wassers, bei dem auch eine jaulende Slide-Guitar und ein klimperndes Honky Tonk Piano nicht fehlen dürfen. Die keyboardorientierte Band hat sich hier wohl von ähnlichen Kompositionen Keith Emersons inspirieren lassen, die Umsetzung ist ihnen bei diesem Track aber nur bedingt gelungen. Sehr störend ist auch der grobe Gegensatz zum ersten Song und auch den folgenden.
Get One Together ist ein gelungenes, aber leider viel zu kurzes Instrumental, sehr jazzig und ein wenig psychedelisch. Ab und an gibt es auch kurze Prog-Einsprengsel. Tongebend ist wieder Solleys Orgel. Geschrieben wurde der Song übrigens von Drummer Keith Webb.
Anyway ist eine sehr ruhige und melodiöse Ballade mit tiefem Bass, Kirchenorgel und fast sphärischem schwebendem Gesang. Garniert ist diese eingängige Nummer mit Chorgesang und zuckrigen Streichern. Anyway ist ein Song, der verblüffend an die Beatles (kennt die jemand?) erinnert. Der Track wurde auch als Single ausgekoppelt, die sich aber nicht in den Charts positionieren konnte. Schade, denn es ist trotz einer gewissen Überproduktion ein zeitlos schöner Song mit viel Potential.
Seite 1 ist dann aus, drehen wir die Scheibe also um
Good Lord ist locker-beschwingter Westcoast-Rock à la Allman Brothers. Hier darf sich Gitarrist Foley erstmals ein wenig austoben und gibt sich voll den Greg. Interessant ist der instrumentale Mittelteil, der mit viel Hall unterlegtem Vibraphon aufwartet. Sehr laid back, entspannt und bestens für einen Soundtrack für gaanz lange Autofahrten geeignet.
Mix Your Mind with the Moonbeams ist wieder eine Ballade mit verspieltem Piano-Intro, bevor der eigentliche Song beginnt, dessen Orgel frappant an Procol Harum (Ringo berichtete) erinnert. Mit 6 Minuten ist der Song aber ein wenig zu lange, da hilft auch alles Georgel nicht. Außer man spielt ihn als Hintergrundmusik zu einem ausgedehnten intimen Vorspiel. Wer mag, kann gerne sein Feuerzeug anmachen und im Rhythmus der Musik schwenken.
Watching the World Pass By ist eine Melange aus Westcoast und Hardrock, die mit irritierendem Bob Dylan-Mundharmonika-Gejammer beginnt, bevor ein brachiales Orgelgewitter einsetzt. Erst dann, nach 2 1/2 Minuten, beginnt der eigentliche Song, eine Boogie-Nummer, bei der sich die unangenehme Dylan-Harmonika wieder aufdrängt, gefolgt von Country-Violine in stampfender Squaredance-Manier. Und dann legt sich Foley wieder mächtig ins Zeug und zeigt uns, was er kann. Ein sehr unausgegorener Song, der unbeholfen zusammengeschustert wirkt und nach einigen wirklich sehr guten Songs eine herbe Enttäuschung darstellt.
Und dann ist die Platte aus.
Wie erwähnt, war Charge nicht besonders erfolgreich. Auch das Roger Dean Cover half nicht, das Prog suggerierte, wo gar keiner war. Die Platte ist nicht schlecht, es gibt einige tolle Songs darauf. Allerdings war sie eben nicht richtig eigenständig. Vor allem war sie in sich selbst nicht homogen. Es schien, als könnten sich die Musiker nicht so recht für einen Stil entscheiden und mischten stattdessen alles, was ihnen gefiel. In erster Linie war es Hardrock mit Funkanleihen, gepaart mit Boogie-Woogie und sanften Balladen. Paladin machten nach dieser Platte noch kurze Zeit weiter und veröffentlichten 2 Singles, die sich aber ebenfalls nicht verkauften. Inzwischen hatten auch Foley und Stonebridge die Band verlassen. Und so kam es, wie es kommen musste: die Band löste sich auf.
2002 erschien eine weitere Platte mit dem Titel Jazzattack, auf der sich – wie der Name schon verrät – jazzige Tracks befinden, die sich aber hören lassen können. Die Aufnahmen entstanden in den frühen Siebzigern, die für das Release aber überarbeitet wurden. Interessanterweise existieren auch einige frühe Live-Aufnahmen für BBC, die aber bis jetzt unveröffentlicht blieben und unter Verschluss liegen.
Was wurde aus den Beteilgten?
Lou Stonebridge hatte seine eigene Band Stonebridge McGuiness, mit der er ein Album und mehrere Singles aufnahm. Danach war er als Sessionmusiker unter anderem für Sylvie Vartan und The Blues Band tätig.
Derek Foley arbeitete nach dem Aus weiterhin als Sessionmusiker.
Peter Solley war von 1973 bis 1975 Mitglied der Band SNAFU und schloss sich nach deren Split der Pop-Band Fox an, deren Erfolg nicht zuletzt an der stets abwesend wirkenden Sängerin Noosha lag. Zu den bekanntesten Songs der Band gehören unter anderem "Only You Can“, "Imagine Me, Imagine You" und „S-S-S-Single Bed“. Solley ging danach zu Procol Harum (Ringo berichtete), mit denen er ein Album aufnahm. 1978 war er für die Debut-EP Mitglied von David Coverdales Whitesnake. In den Achtzigern schrieb er dann Musik für Werbespots, bevor er sich dem produzieren zuwandte. Zu seinen bekanntesten Auftraggebern gehören unter anderem Motorhead und The Romantics. Solley starb 2023.
Peter Beckett zog 1974 nach Los Angeles, wo er Mitglied der Band Player wurde, die mit dem Song „Baby come back“ einen Nr.1 Hit hatten. Nach dem Split schrieb Beckett Songs für Janet Jackson, Olivia Newton-John, The Temptations und Kenny Rogers. 1991 erschien ein Soloalbum, sechs Jahre später schloss er sich der Little River Band an. Seit 2017 ist er mit seiner Band Peter Beckett`s Player aktiv.
Keith Webb arbeitete weiterhin als Sessionmusiker, unter anderem für Stevie Ray Vaughn. Webb verstarb 2007.
© by Ringo Hienstorfer (08/2024)
Das wars mal wieder für heute. Beim nächsten Mal geht es um ... Weihnachten!