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40 Jahre Tatort-Haferkamps Fälle: Das Mädchen von gegenüber

40 Jahre Tatort (und mehr)DAS MÄDCHEN VON GEGENÜBER

Kalle, ein 15-jähriger Junge, stellt Bärbel, einem gleichaltrigen, frühreifen Mädchen nach. Er lädt Bärbel vergeblich ein, auf seinem Fahrrad mitzufahren und folgt ihr zu einem verlassenen Bahnhof. Offensichtlich hat Bärbel sich dort mit einem Mann verabredet. In der Dunkelheit macht Kalle sich an Bärbel heran und versucht, sie zu küssen. Da taucht plötzlich der Mann auf, Kalle gerät in Panik, er ringt mit Bärbel, sie fällt unglücklich, Kalle flieht entsetzt. Der Mann findet Bärbel tot.

Lehrer Lindner (Jürgen Prochnow) mit Kalle (G. Theisen) Kommissar Haferkamp, der Kalle wie viele andere Schüler befragt, erkennt nicht, dass der Junge große seelische Probleme hat, dass er sich für einen Mörder hält und zutiefst verzweifelt ist. Haferkamp verdächtigt Klaus Lindner, Bärbels Klassenlehrer. Lindner wiederum verdächtigt Kalle und setzt ihn unter Druck. Der Junge gerät immer tiefer in eine aussichtslose Situation.

Es ist soweit: Haferkamp löst seinen 12. Fall. Und es tritt genau das ein, was der Anfang vom Ende des TV-Kommissars wurde. Autor der Geschichte war Martin Gies. Felmy mochte seinen Stil nicht. Auch die Regiearbeit von Hajo Gies, dem jüngeren Bruder des Autors war nicht ganz nach seinem Geschmack.
"Da kamen neue Dramaturgen von der Filmhochschule, die wollten nun alles anders machen. Die hatten die tolle Idee, aus dem Haferkamp eine Negativ-Figur zu machen. Da hab ich gesagt, ‚Kinders, ich bau mir nicht 40 Jahre den Beruf auf, damit ihr mir mit euren Büchern die Figur kaputt macht'". (1)
Haferkamp wurde praktisch ein Opfer des Generationenwechsels, der 1977 beim TATORT stattfand, und der in dieser Zeit von den Gies-Brüdern mit angeführt wurde. Kurze Zeit später kam noch Peter Adam hinzu. Allesamt waren sie Absolventen der Filmhochschule. Sie sollten altgediente Regisseure wie Becker und Staudte ablösen. Mit Schminaski setzten eben diese Regiesseure ab 1981  ihren modernen Krimistil endgültig durch. Genau wie Felmy räumte man allerdings auch Götz George Mitspracherecht beim Drehbuch ein. Allerdings führte das bei Felmy zum Eklat, bei George nicht.

Doch was ist nun das Problem bei diesem TATORT von Martin Gies?  

Die Figur Haferkamp machte Fehler und provozierte so (unwissend natürlich) den Selbstmord des jungen Kalle am Ende der Folge. Er war also auf einmal eine Negativfigur, und das passte Felmy nicht in den Kram. War er doch immer der gute Polizist der alles ahnt und weiß. Hier verdächtigt er einen Falschen und übersieht dabei die Nöte des Jungen. Gleichwohl wird Haferkamp dadurch sogar unglaubwürdig, denn bisher hatte er alle Tathergänge und verdächtigen Personen immer sehr schnell durchschaut. Hier gelang es ihm nicht, obwohl es ebenso offensichtlich für ihn sein mußte wie in anderen Fällen.
 
Hajo Gies erklärte 1999 , dass er mit Felmy größere Schwierigkeiten gehabt habe.
"Es gibt zum Beispiel eine Szene im ‚Mädchen von gegenüber', wo der Haferkamp den Lehrer anschreit, und ich habe lange gebraucht, ihn dazu zu bringen, dass er das überhaupt macht. Er wollte vom Publikum geliebt werden, er wollte immer mehr der Verständnisvolle sein (...) Haferkamp hat nie Stellung bezogen zu sich selbst, er hat die Fälle neutral, unbeteiligt aufgeklärt." (2)
Diese Bewertung einmal außer Acht gelassen, ist "Das Mädchen von gegenüber" ein sehr beeindruckender Film, der genau auf die Gefühlswelt des Minterjährigen im tristen Alltag der Siebziger Jahre abzielt. Jürgen Prochnow ist der Lehrer, der trotz aller Widerwertigkeit und Gemeinheit, die dieser Person inne wohnt, dem Jungen doch helfen will. Die verständnislosen und biederen Eltern des Jungen, allen voran die Mutter (gespielt von Schwarzwaldklinik-Oberschwester Hildegard) Eva Maria Bauer, sind kaum geeignete Anlaufstellen um den Jungen zu unterstützen.

Mit einer Einschaltqoute von 64% zählt auch diese Folge wieder zu den erfolgreichsten der Reihe. Sie wurde vom 19. April bis 17. Mai 1977 in Essen und München gedreht, und trug bei Drehschluß noch den Titel "Jahrmarkt".
 
Kommissar Haferkamp - Hansjörg Felmy
Kalle - Gerhard Theisen
Klaus Lindner - Jürgen Prochnow
Jutta Lindner - Herlinde Latzke
Kreutzer - Willy Semmelrogge
Ingrid Haferkamp - Karin Eickelbaum
Mutter Dahlmann - Eva Maria Bauer
Vater Dahlmann - Werner Abrolat
Bärbel - Holle Hörnig
Vater Koslowski - Hans Joachim Krietsch

Autor - Martin Gies
Regie - Hajo Gies
Erstsendung: 04.12.1977
 
 
(1) Hansjörg Felmy
(2) Hajo Gies
 

Kommentare  

#1 Reinhold 2019-02-19 07:14
Hallo liebe Felmy-Fans,

oh wie sehr kann/konnte ich Hansjörg Felmy verstehen! Das ist wie mit den Uniabgängern, die wissen natürlich alles besser und wollen cool wirken! Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, warum der Tatort seinen einstigen Flair definitiv verloren hat und immer grausamer wird! Wir schauen schon seit Jahren kaum noch Tatorte, da diese nur noch klare und deutliche Brutalität sowie absurde Fälle erzählen! Die Kommissare kommen teilweise direkt von der Uni und wirken unglaubwürdig oder ballern einfach drauflos! Action nach Hollywood Manier ist meiner Meinung nach beim Tatort fehl am Platze und das Spinnerte sollte im Frostfach bleiben. Von Bekannten habe ich mir gerade sagen lassen, das der letzte Spinner-Tatort von Sonntag (Murmeltier-Abklatsch Murot) absoluter Müll war und sie ihn nach etwa 40 Minuten abgeschaltet haben! Tatort ade!!!
#2 Grubert 2019-02-19 10:19
Ich sehe das eher umgekehrt. Im Großen und Ganzen sind die neueren Tatorts sehr viel besser gemacht als der Kram von früher. Sie sind besser inszeniert, photographiert und montiert, viele sehen locker nach Kino aus, während die alten Tatorts gegenüber damaligen Kinofilmen sehr schwerfällig fernsehhaft wirkten. Wenn ich mir heutzutage mal einen alten Tatort anschaue, also einen den ich früher mal gut fand, dann sind die zumeist doch recht veraltet, und haben viel ihrer Wirkung auf mich verloren.

Ich sehe zwar nur einen Teil der Tatorts, aber die die ich auswähle sind meist recht gelungen, einige sogar erstaunlich gut. Was übrigens auch für so manch anderen TV Krimi gilt.

Der Murmeltier Tatort war teils spaßig, aber auch nicht komplett überzeugend, aber z.b. der Murot Tatort Im Schmerz geboren ist ein kleines Meisterwerk, wie auch der ein oder andere der aktuellen Dortmunder Ermittler.

Nee, der Tatort muß sich stets erneuern, wenn er in einer gewandelten Medienlandschaft bestehen will. Wenn der Tatort heute noch so wäre wie in den 70ern, oder genauer versuchte so zu sein, dann gäbe es ihn längst nicht mehr.
#3 G. Walt 2019-02-20 19:29
Mit dem Tatort ist so eine Sache. Natürlich musste er sich erneuen und mit der Zeit gehen. Ich bin da bei Grubert. Die Inszenierungen sind moderner und gewitzter. Aber es gibt Mankos. Zum einen sind es die Schauspieler, die kaum einer kennt. Früher waren eben bekannte Größen am Set: Curd Jürgens, Götz George, Manfred Krug, Felmy, Heinz Bennent, Maria Schell usw. Alle tot - ich weiß. Aber heute sind fast alle jung, dynmamisch, hipp und sportlich. Oder wenn es Verbrecher sind, sind es auch manchmal prominente Schauspieler. Dazu bei trägt auch, dass der Abspann stark verkürzt wurde oder gar nicht statfindet. Man merkt sich die Namen nicht mehr. Es bleibt Massenware. Und der Mord muss immer in den ersten 3 Minuten passieren. Wenn ich Kult-Tatort-Folgen denke wie Reifegzeugnis (Mord nach 30 Minuten) oder auch andere .... heute undenkbar.
Ich persönlich schaue nur noch gewisse Folgen mit bestimmten Ermittlern, wenn ich mal Lust hab. Ich kenne aber auch solche Leute, die jeden Sonntag das Tatortschauen zum Ritual machen. Egal ob er gut oder schlecht ist. Selbst ein Schweiger gehört dann dazu.
#4 Grubert 2019-02-21 11:23
zitiere G. Walt:
Wenn ich Kult-Tatort-Folgen denke wie Reifegzeugnis (Mord nach 30 Minuten) oder auch andere .... heute undenkbar.


Undenkbar?

Aber es gibt doch heute viel gewagtere Tatorte, die Dinge machen die in den 70ern in einem Tatort gar nicht vorstellbar gewesen wären. die sich viel weiter von der üblichen Krimi Formel entfernen. Und das immer öfter. Bei den Murot Tatorts ist ja mittlerweile schon das Brechen sämtlicher Spielregeln erwartbar.

Und die Schauspieler, also ich kenne da sehr viel von, und gerade was Schauspieler/innen betrifft, ist das doch Wahnsinn, wieviel tolle wir davon heutzutage haben. Da sehe ich weder von der Masse noch von der Qualität her Unterschiede zu früher. Bei vielen finde ich es auch schade wenn sie dann in einer Krimi Reihe landen, weil danach sieht man sie dann kaum mehr in anderen Rollen, auch wenn sie diese Krimirollen zumeist schön veredeln.

Und was in Reifezeugnis an üblicher Krimihandlung zunächst fehlte, wurde dann ja wieder durch viel nackte Haut, die damals noch weitaus spektakulärer war als heutzutage, mehr als wett gemacht.

Für eine bestefamiliensendezeit Serie wie den Tatort wird und wurde da doch immer wieder mal so einiges riskiert, und die teils brüske Ablehnung einiger eher ungewöhnlicher Folgen zeigt ja auch das so was keine Selbstverständlichkeit ist. die Macher und die Redakteure sind bereit etwas zu wagen ,solange insgesamt die Einschaltquote noch stimmt.

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