Norbert Off Topic - Folge 4: Die Sprache des Herzens
Folge 4:
Die Sprache des Herzens
Die Sprache des Herzens (Marie Heurtin)
Wann kommt eigentlich der Moment, da ein Film für den Betrachter zu viel wird? Vielleicht dann, wenn die Tränen ohne Unterlass fließen und so ein Vorhang über die Augen gelegt wird. Es gibt selten einen Film der mich derart anrührt, dass ich ständig zum Taschentuch greifen muss. Dieses kleine französische Drama hat es aber vollbracht.
DIE SPRACHE DES HERZENS hebt den Begriff "Schauspielkunst" in eine ganz andere Dimension. Es geht um einen Menschen der weder sehen noch hören kann und deshalb von der Welt ausgeschlossen ist. Er besitzt keine Sprache und damit auch keine Gedanken wie wir sie kennen. Wie stellt man so etwas dar? Kann man genug Phantasie und Hingabe entwickeln, um in die Gedanken- und Gefühlswelt eines solchen Wesens einzutauchen?
Überzeugend zu sein ist das wichtigste Talent, das ein Schauspieler besitzen muss. Gleichwohl muss man einer Rolle entsprechende Persönlichkeit geben, weshalb nicht jeder Alles spielen kann. Wichtig dabei ist auch die Optik, denn man muss nach dem aussehen was man darstellt. Was dem Zuschauer in diesem Film durch die Schauspielerinnen Isabelle Carrè und Ariana Rivoire geboten wird kann auszeichnungswürdiger kaum sein.
Leider besitzt die deutsche Disc keinerlei Extras und auch im Internet ist kaum etwas zu finden. Hier wären mal Interviews angebracht gewesen, denn Thematik und Handlung sind derart vielschichtig, dass das Ansehen des Films nicht völlig ausreicht. Zudem beruht der Film auf einer wahren Begebenheit und die Bezüge dazu wären schon mal interessant.
Frankreich, Ende des 19. Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte der Marie Heurtin, die immer mehr zu einer Belastung für ihre Familie wird. So bringt man sie in ein Nonnenkloster welches taubstumme Menschen beherbergt. Zunächst wird sie abgelehnt, doch dann nimmt sich Schwester Maguerite ihrer an, denn sie glaubt die Seele der jungen Frau berührt zu haben. Losgelöst von allem Bekannten was sie fühlen und riechen kann, wehrt sich Marie gegen jeder Veränderung, indem sie entweder flieht oder wie ein Tier um sich schlägt. Monatelang kämpft Maguerite darum zu dem Mädchen vorzudringen, doch es scheint aussichtslos. Sie opfert dabei alle Kraft ihres Herzens und Willens. Immer, wenn sie glaubt einen Erfolg erzielt zu haben, gibt es Rückschläge, sobald sie versucht einen Schritt weiter zu gehen. Marie fasst dennoch Vertrauen in die Nonne, als diese es ihr möglich macht, das Gesicht und den Körper fühlen und riechen zu können. Nachdem sie ihrem Schützling neue Kleidung angezogen und ihr die Körperpflege beigebracht hat, versucht Maguerite sich darin, eine eigene Körpersprache und Gestik zu entwickeln, mit der eine einfache Kommunikation möglich ist. Jede Berührung und jede Bewegung ist ein Wort. So lernt Marie mit der Zeit Dinge zu bestimmen und einfache Gefühle auszudrücken, den Menschen ihre Bedürfnisse mitzuteilen, sowie auch jene der anderen Menschen aufzunehmen. Sie lernt die Umgebug zu ertasten und sich so selbstständig durch das Haus zu bewegen. Eine negative Wende tritt erst ein, als Maguerite zur Kur in die Berge geschickt wird. Sie ist schwer Lungenkrank und hat nicht mehr lange zu leben. Als Marie merkt, dass die Person ihres Vertrauens nicht mehr da ist, verfällt sie in Lethargie und verweigert jede Nahrungsaufnahme. Die Nonne bricht darauf die Kur ab, obwohl sie weiß, dass sie damit ihr Ableben schneller herbei führt. Als sie zurück ist gelingt es ihr Marie wieder aufzurichten. Bald darauf wird Maguerite bettlägerig und sie muss sich der Aufgabe stellen, Marie den Tod zu erklären und sie darauf vorbereiten, dass sie bald allein sein wird. Marie nimmt es überraschend gefasst auf und verspricht sich von den anderen Schwestern weiter leiten zu lassen, die inzwischen die Sprache des Mädchens gelernt haben.
Die Erkenntnis, sein Leben erfüllt zu haben, muss ein erhebendes Gefühl sein. Vermutlich wird es den wenigsten Menschen am Ende ihrer Tage so gehen. Maguerite hat dieses erreicht, auch wenn sie Furcht vor dem Tod empfindet. Es ist nicht so sehr das eigene Ableben, sondern es ist die Sorge um ihren Schützling. Hat Marie überhaupt eine Zukunft? Jene ist aber längst zur Selbstständigkeit gereift. Sie wird ihr gesamtes Leben in dem Kloster verbringen und es gibt Aufgaben für sie. Marie ist nicht die Einzige, die mit diesem Schicksal geschlagen ist. Sie wird all das Erlernte weitergeben.
Das Kuriosum an dieser eigentlich unglaubwürdigen Geschichte ist, dass Alles auf einer wahren Begebenheit beruht. Das was Maguerite und Marie schufen und erreichten ist beinahe einzigartig. Die Nonne führte ein Tagebuch über die Ereignisse, welches die Grundlage für diesen Film darstellt. Wenn man sich die Situation vor Augen führt, dann ist es schwer zu glauben, dass das Geschilderte sich so oder ähnlich zugetragen hat, aber es ist verbürgt. Der einzige Unterschied ist, dass Marie zehn Jahre als war als sie in das Kloster kaum. Vermutlich hat man diesen Zeitpunkt später gesetzt, um nicht verschiedene Darstellerinnen für die Rolle finden zu müssen.
Wie oben schon erwähnt wären ein paar Extras interessant. Wie ist der Film entstanden? Vor allem, wie sind die Schauspieler in ihre Rollen eingetaucht und mit ihnen umgegangen? Angesichts eines solchen Films ist es erbärmlich nichts geliefert zu bekommen. DIE SPRACHE DES HERZENS ist ein Film der nur von Interessierten geschaut wird und definitiv kein Massenpublikum erreicht. So ist die Veröffentlichung von Concorde Home Entertainment schon peinlich zu nennen.
So bleiben nur Vermutungen. Vielleicht wird am Ende zu dick aufgetragen, wenn Marie per Zeichensprache am Grab von Maguerite einen schier endlosen Monolog hält. Es setzt voraus, dass Marie die gleiche Denkweise besitzt, die auch einem "normalen" Menschen gegeben ist. Das ist nicht ganz glaubwürdig. Immerhin kann man jedoch erkennen, dass die Gebärdensprache einheitlich und logisch nahvollziehbar ist und damit detailliert für den Film konzipiert wurde. Oder ist es gar jene Sprache, die von der originalen Marie bis heute weitergegeben wurde?
Der Film bewegt sich immer am Rande der Glaubwürdigkeit, weil man schwerlich hinnehmen mag, dass so etwas möglich ist. Gäbe es nicht das real verbürgte Geschehen, so müsste man ihn sicherlich als lächerliche Phantasie abtun. Aber ganz gleich, ob man dem Gezeigten Glauben schenkt oder nicht, der Film ist großartiges, wenn auch stark gefühlsbetontes Kino.
Marie Heurtin – 13. April 1885 bis 22. Juli 1921.
DIE SPRACHE DES HERZENS
Bilder: Cover und Screenshots der deutschen DVD (Concorde Home Entertainment)
Kommentare
Wie man diese Problematik schauspielerisch und dramaturgisch umsetzen kann, interessiert mich.
Ich bezweifle, dass so etwas gelingen kann.
Du hast auf die ( bei einem derartigen Filmprojekt) zu erwartenden Schwierigkeiten ja hingewiesen.
Ebenso auf die Umsetzung im Film ( speziell im 3. Akt)
Und ein solches Thema zu dramatisieren, halte ich eigentlich für nicht möglich. Da man schon als „funktionierender“ Mensch nicht in die Köpfe anderer funktionierender Mitmenschen schauen kann, wie sollte es gelingen, dies bei tauben und blinden Menschen zu erreichen. Ich meine damit, wie soll sich jemand in eine Rolle versetzen, die eine komplett andere, extrem reduzierte Wahrnehmung und Kommunikation beinhaltet.
Und was den realistischen Hintergrund dieses Dramas angeht: Vorsicht ! Nonnen hatten viel Zeit.
Eventuell wollte uns die Tagebuchschreiberin selbst nur dramaturgisch für etwas sensibilisieren, das sie erlebt hat ? Eventuell Mut machen ?
Vielleicht gab es diese Erfahrung im Leben der Nonne.
Möglicherweise scheiterte aber die Beziehung der Nonne zur Taubblinden. Sie wäre nicht die erste, die einen Text verfasst, der das Gescheiterte im Nachhinein als halbwegs gelungen beschreibt.
Ich habe starke Bedenken bezüglich der Glaubwürdigkeit des Geschilderten .
Und das Fehlen ( so ich das richtig verstanden habe ) jeglicher Quellen oder Kommentare zu diesem Fall brüllt einen auch irgendwie an. Aber es dürfte interessant sein, sich dieses mutige ( oder nur potenziell die Tränendrüse aktivierende? ) Drama anzusehen.
Edit: Und nein !! Ich bin ganz sicher kein Freund von Ingmar Bergmann Filmen. Der ist Trash für die gehobene Mittelschicht.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich habe nichts gegen Bergmann. Mir gefallen nur ( meistens ) seine Filme nicht . Für mich ist das intellektualisierte Küchenphilosophie /- Psychologie . Ein mir bekannter Psychiater sieht das wiederum ganz anders. Bergmann hatte Erfolg....hatte sein Publikum etc....kurz: Alles richtig gemacht.
Ich habe mich nur etwas positionieren wollen.
Der Film steht jetzt auf meiner to-see-list, weil:
1. Was kann schauspielerisch geleistet werden ?
2. Wo/Wann sollte ich die Wahrheit dramatisieren (also beeinflussen), um rezipiert zu werden ?
Soll heißen: Wie integriere ich die filmischen Gesetze ( Spannung, Interesse, Überraschung , Exposition ( eh immer der Schwachpunkt! ) Informations-Steuerung, Timing etc. etc. ) in die historische Wahrheit ?
3. Wo ist es erforderlich, die „innere Wahrheit“ der Story zu dramatisieren, um sie zu kommunizieren?
4. Usw. Usw.
Der Vergleich von Ursprung und Film fällt in diesem Fall aber wohl schwer, aufgrund der mageren Quellen. Aber man könnte den Fall von hinten aufziehen. Das heißt: Was wird aktuell zu diesem Thema (taub und blind) diskutiert, welche Theorien klingen plausibel usw. ?
Ich werde das aufgrund Deines Beitrags nun tatsächlich mal recherchieren , um mir anschließend. (!) den Film anzusehen.
Neueste Erkenntnisse bei mir : ZS lesen kann auch inspirierend sein....
Auch dafür Dank an Norbert .....
Anmerkung: Ich werde meine Komplimente an Norbert in Zukunft reduzieren.
Für Interessierte ist LICHT IM DUNKEL mit Anne Bancroft von1962 zu empfehlen www.imdb.com/title/tt0056241/?ref_=nm_knf_i2
Für mich war der Film sehr schwierig, weil er nichts beschönigt, oder verharmlost.
Beruflich hatte ich einmal mit einer Frau zu tun, die weder hören noch sehen konnte. Das war bitter, weil man sich ständig damit beschäftigt, wie man damit umgehen soll, oder es einem selbst in dieser Situation ergehen würde.
de.m.wikipedia.org/wiki/Helen_Keller
Friedhelm: Geht mir auch so. Für derart schwere Stoffe muss ich aufgelegt sein. Es gibt doch einen erheblichen Unterschied, ob ich mir einen Trashheuler oder so etwas anschaue. Der nächste Off-Topic ist etwas leichtgewichtiger, auch wenn er sich mit dem Tod beschäftigt. Der Anlass ist aber doch ein trauriger, zumindest für Filmfans.
Heizer: Ich sagte ja, es gibt mehrere Fälle dieser Art, weshalb auch das Drama dieses Films nicht an den Haaren herbeigezogen sein muss. Und – oooch schade, es ist ein verdammt schönes Gefühl, wenn jemand mit einem dicken Quast über meinen Bauch pinselt.
Nun warte ich aber auf weitere ungewöhnliche Filme und Trash ! Wo bleiben die Besprechungen der beiden von Dir als „WIRKLICH„ schlecht beurteilten Filme ....?
Ich bin da gespannt.....