Norbert Off Topic - Folge 5: Lucky
Lucky (Lucky)
Harry Dean Stanton gehörte zu den herausragenden Schauspielern, auch wenn er nie jenen Starruhm beim Publikum erreichte, den er verdient gehabt hätte. Dabei war seine Präsenz in Filmen beachtlich, die sowohl auf der niveauvollen wie auf der niveaulosen Seite zu finden war. Seine Filmografie umfasst mehr als 200 Auftritte in Filmen und TV-Serien und doch kann man nicht sagen, dass er sich und sein Talent verheizen ließ.
Im Jahre 2015 setzte sich Logan Sparks, ein langjähriger Freund Stantons, mit Drago Sumonja zusammen. Beide waren Fans des alten Haudegens und so entwickelten sie ein Drehbuch, welches ganz und gar von und über ihn handelte. Eigentlich wollte der Schauspieler sich zu Ruhe setzen, immerhin war er 89 Jahre alt. Würde er "Ja" sagen? Nur mit ihm war dieses Drehbuch verfilmbar. Stanton zierte sich und so zauberten die beiden Autoren alte Freunde und Weggefährten aus dem Hut, so etwa Ed Begley jr., James Darren oder David Lynch (eigentlich Regisseur – er ist übrigens nicht verwandt mit dem Regisseur dieses Films). So konnten sie den alten Mann überreden in einem Film mitzuspielen, der letztlich ein Resümee ziehen würde, in dem Harry Dean Stanton die eigene Legende darstellen sollte.
Der Film wurde etwas anders …
Lucky (seinen richtigen Namen erfahren wir nie – er könnte Harry Dean Stanton lauten), ist ein 90jähriger Kauz. Er lebt ohne Zukunft oder Vergangenheit – über Beides hat er sich nie Gedanken gemacht – irgendwo in der Pampas nahe eines Winzigdorfes, vermutlich in der Nähe der mexikanischen Grenze. Also vollzieht er mit stoischer Gelassenheit seine täglichen Rituale. Er steht morgens auf (also gegen Mittag) und macht Yoga-Übungen. Danach geht er in das Diner und löst das Kreuzworträtsel der Tageszeitung. Nachmittags schaut er eine Gameshow mit dem tiefgeistigen Titel/Konzept "Who Knows The Answer? (Wer kennt die Antwort?)". Er ruft zuweilen Freunde an, das kann auch mal mitten in der Nacht sein, um mit ihnen über banale Dinge zu sprechen oder das letzte ungelöste Wort des Rätsels zu erfahren. Abends geht er in eine Kneipe und trifft seinen besten Freund Howard (David Lynch). Die Nerven jenes Mannes stehen augenblicklich nicht zum Besten, denn seine Landschildkröte ist davon gelaufen und er macht sich fürchterliche Sorgen. Immerhin kennt er "President Roosevelt" seit dieser als embryonale Schildkröte aus dem Wüstensand gekrochen ist.
Das Leben von Lucky ist ereignislos, aber gerade weil er keine Sorgen hat besitzt er diesen Spitznamen. Das ändert sich plötzlich, als er ohne Vorwarnung eines Morgens einfach umkippt. Sein Arzt (Ed Begley jr.) kann nichts Ungewöhnliches feststellen. Für einen Mann von 90 Jahren besitzt Lucky sogar eine bemerkenswert starke Konstitution. Trotzdem beginnt er sich nun Gedanken über das Leben und den Tod zu machen. Er wird sensibilisiert für diese Themen und nimmt plötzlich Gespräche darüber ganz anders und viel intensiver wahr. Auch Howard besorgt sich einen Anwalt, mit dem er die Einzelheiten seines Testamentes durchgeht. Er vermacht all seinen Besitz "President Roosevelt", so er denn noch am Leben ist. Alle Geschehnisse und alle Gespräche drohen das Schicksal von Lucky zu besiegeln und so beginnt er über die ewige Dunkelheit nachzudenken. Die Geschichte, die ein ehemaliger Marine-Soldat (Tom Skerritt) ihm erzählt, gibt ihm eine Erleuchtung. So steht er am Ende da und lächelt dem Schicksal ins Gesicht. Was juckt ihn die Furcht, die es ihm einreden will. Sein Weg ist noch nicht beendet und wenn der Moment kommt, dann gibt es nichts zu bereuen.
Die Schlusseinstellung ist deshalb bewusst lang und ohne Schwenk inszeniert. Lucky lächelt in die Kamera und dreht sich dann einfach weg. Er geht langsam seines Weges in den Hintergrund und verschwindet schließlich darin als hätte es ihn nie gegeben. Währenddessen tritt die Schildkröte seitlich ins Bild und durchquert es. Ein wundervoller Schluss, der ganz leise daher kommt und nichts erzählt – und doch Alles deutlich macht. Die Interpretationen und Erfahrungen, die hier zugelassen werden, muss ein jeder selber treffen und machen. Lucky kann es dir nicht abnehmen, aber er kann dir zeigen, wie du mit dir und dem Schicksal ins Reine kommst.
Nun ist so ein Film grundsätzlich schwierig. Warum?, wird manch einer fragen. Er besitzt die einfachste Geschichte die man sich einfallen lassen kann – ja eigentlich hat er nicht einmal diese. Da wird uns ein Typ von 90 Jahren gezeigt, der sich in beinahe jeder Einstellung eine Zigarette anzündet. Will uns die Tabakindustrie zeigen, dass exzessives Rauchen das Erreichen eines hohen Alters fördert?
Nein, schwierig ist es deshalb, weil beinahe jede Einstellung, jede Handlung und jeder Dialogsatz seine eigene Inhaltsschwere besitzt. Ob und wie man es wahrnimmt ist bei jedem Zuschauer unterschiedlich. Manche werden gar nichts darin sehen oder hören, sodass das Ding zum Langweiler wird. Dabei besitzt der Film einen lakonischen Witz, der mehr als ein Mal sogar zum Lachen reizt, auch in der recht gelungenen deutschen Synchronfassung. Die Stimme von Friedrich Georg Beckhaus ist der originalen von Harry Dean Stanton sehr ähnlich, und doch fehlen so ein paar ironische Feinheiten in der Aussprache, die der Mann trotz seines Alters immer noch drauf hat.
Jeden Tag geht er kurz in den örtlichen Lebensmittelladen und kauft Milch. Dabei wechselt er ein paar Worte mit der mexikanischen Besitzerin. Sie läd ihn zu einer Fiesta ein, weil ihr Sohn zehn Jahre alt wird. Er geht tatsächlich hin. Da er niemanden dort kennt sitzt er allein an einem voll besetzten Tisch. Es findet keine Kommunikation statt, doch plötzlich steht er auf und beginnt ein mexikanisches Volkslied zu singen. Die anwesenden Musiker unterstützen ihn nach einem Moment dabei.
Die Szene war ursprünglich nicht geplant, doch Stanton war Zeit seines Lebens ein guter Sänger und er bestand darauf in dem Film zu singen, wenn dieser seiner Person wirklich gerecht werden sollte. In jener Situation, da er glaubt von der Dunkelheit umgeben zu werden, wirkt der Auftritt auf dem Fest befreiend. Er schafft eine Brücke zu den ihm fremden Menschen, die ihn fortan nie wieder als alten Spinner sehen werden.
Der Film ist voll von solchen Augenblicken, die für den Betrachter erleuchtend sein können. Mehrfach läuft er am Park vorbei und pöbelt das Wort "Cunts (Fotzen)". Als er sich selber geläutert sieht nimmt die Kamera eine andere Position ein und wir werden gewahr, dass er ein paar Statuen von Engeln so bezeichnet hat. Er hat keine Veranlassung mehr seine ursprünglich negative Einstellung aufrecht zu erhalten. Er, wie alle anderen, ist bedeutungslos und doch besitzt ein jeder das Recht auf seine Existenz, ganz gleich ob er lebendig ist oder nicht.
Mit dem Schwarzen hinter dem Tresen des Diners tauscht er jeden Tag die gleichen Worte aus. "You Are Nothing (Du bist ein Nichts)" – "You Are Nothing Too (Du bist auch ein Nichts)" – "Thank You (Danke schön)". Als diese Begrüßung ausbleibt sucht die Bedienung ihn am nächsten zuhause auf, weil sie befürchtet, dass es ihm nicht gut geht. Nein, niemand ist ein "Nichts".
Die Kleinigkeiten, die der Film erzählt und festhält, könnten mich unendlich weiterschwafeln lassen. Ich denke aber jeder dürfte begriffen haben, wie sehr ich den Film schätze und für wie essentiell ich ihn als Lebensberater halte. Musste Harry Dean Stanton 90 Jahre alt werden, um solch einen Film zu machen? Er hat bessere Filme gemacht, doch keiner davon wird seiner Persönlichkeit derart gerecht wie LUCKY.
IN MEMORIAM: Harry Dean Stanton starb ein halbes Jahr nach der Uraufführung des Films im Alter von 91 Jahren am 15. September 2017 in Los Angeles.
Lucky
Cover und Screenshots der deutschen DVD (Alamonde Film/Alive)