Norbert Off Topic - Folge 6: Amish Grace
Amish Grace - Wie auch wir vergeben (Amish Grace)
Nun könnte manch ein Leser glauben, dass ich ein gläubiger Mensch sei, denn zum wiederholten Mal ist ein Film das Thema, in dem Religion im Mittelpunkt steht. Nein, ich glaube nicht, aber ich respektiere jeden, der daraus Orientierung und Kraft für sein Leben ziehen kann.
AMISH GRACE sah ich mir schon vor langer Zeit eher wegen der Thematik des Schulmassakers an. Dass es sich hierbei um die Auswirkungen dessen in einer Amish-Gemeinde handelt war von zusätzlichem Reiz. Dabei beruht der Film auf einer wahren Begebenheit. Am. 2. Oktober 2006 drang der Lastwagenfahrer Charles Roberts schwer bewaffnet in die Einklassenschule der Amish-Gemeinde von Nickel Mines (Pennsylvania) ein und nahm zehn Mädchen als Geiseln. Als die Polizei eintraf drehte er durch, tötete fünf der Schülerinnen und verletzte die anderen schwer. Anschließend nahm er sich das Leben. Was darauf folgte war eine Hetzjagd auf die hinterbliebene Familie von Roberts, die zu keinem Zeitpunkt auch nur ahnen konnte, was der Vater/Ehemann tun würde. Umso überraschender war die Reaktion der Amish-Leute ...
Charles Roberts ist ein gewöhnlicher Typ. Er ist der örtliche Milchmann und besucht in dieser Funktion auch die Amish-Gemeinde. Er ist knapp über dreißig Jahre alt, trägt eine Brille und ist Familienvater. Die Ehe mit seiner Frau Amy ist glücklich. Plötzlich aber benimmt er sich etwas merkwürdig. Sein Umfeld bemerkt nicht, dass er sich Waffen und andere seltsame Gegenstände besorgt. Eines Tages fährt er mit dem Wagen seines Vaters zur Schule der Amish in Nickel Mines, dringt in das Gebäude ein und richtet ein Blutbad an. Er hinterlässt einen Abschiedsbrief und ruft seine Frau an, dann nimmt er sich das Leben.
Es herrscht Ausnahmezustand. Niemand weiß wie es um die Kinder steht, die in umliegende Krankenhäuser gebracht wurden. Nur für Ida und Gideon Graber gibt es Gewissheit. Ihre Tochter Mary Beth befindet sich unter den zwei Mädchen, die noch in der Schule starben. Bereits einen Tag nach dem Massaker besuchen drei Männer der Amish die Frau und die Kinder des Mörders. Sie teilen ihr mit, dass sie dem Mann vergeben und bieten außerdem ihre Hilfe an. Deshalb kommt es zum Streit zwischen Ida und Gideon, der zu den Besuchern gehörte. Ida kann die Ermordung von Mary Beth weder verzeihen noch überwinden, der Hass droht sich ihrer zu bemächtigen. So gerät sie in einen Konflikt mit den Mitgliedern der Amish-Gemeinde, denn einer der Grundpfeiler ihrer Existenz ist der Glaube an Liebe und Vergebung, Hass findet darin keinen Platz. Gott ist der einzig legitime Richter.
Ida verweigert therapeutische Sitzungen und bringt auch der Frau des Mörders Verachtung und Hass entgegen, trotz des Bewusstseins, dass diese mit dem Tod der Kinder nichts zu tun hat. Amy versucht sich anzunähern und bietet ihrerseits den Amish-Leuten Hilfe an. Ida indes vertraut sich der TV-Reporterin Jill Green an, welche seit dem Anschlag das Geschehen darum mit ihrem Kameramann begleitet. Das Zerwürfnis mit Gideon geht schließlich so weit, dass Ida die Gemeinde verlassen will, so wie damals ihre Schwester, die ob der Heirat mit einem Weltlichen ausgestoßen wurde. Dann aber erfährt sie von einer der Mitschülerinnen, dass Mary Beth im Augenblick der Krise dem Eindringling Vergebung zusprach und ihren Tod forderte um die anderen Kinder zu retten. Plötzlich gibt es auch für Ida keinen Grund zum Hass mehr. Im Gedenken der Gläubigkeit und des Mutes ihrer Tochter kehrt sie in jenes Leben zurück, das ihr gegeben und in dem sie Wirklichkeit ist.
Das mag sich jetzt alles recht kitschig anhören, ist aber nicht wirklich so. Natürlich besitzt der Film Momente, da er die Tränendrüsen ein bisschen belastet.
Immerhin, der Film gibt sich ehrlich. Von vornherein stellt er klar, dass er zwar auf den Ereignissen von 2006 beruht, aber dass er sowohl Handlungen wie Personen hinzu erfunden hat. Natürlich, die reine Schilderung hätte eine Dokumentation ergeben. Aus dramaturgischen Erwägungen musste etwas geschaffen werden, was dem Zuschauer das Drama, aber auch das Leben, den Glauben und die Gründe für das Vergeben näher bringt. Ob und wie es im Einklang mit dem wahren Leben der Amish steht entzieht sich in letzter Konsequenz meiner Kenntnis, denn ich verstehe davon nicht viel. Die Beweggründe, die zur Vergebung führen, klingen für mich einleuchtend, auch wenn ich mich zu so etwas sicherlich nie durchringen könnte. Der Auszug eines Dialogs zwischen Gideon und Ida:
"Es ist nicht leicht zu vergeben, Ida. Der Herr fragt nicht ob wir einen einfachen Weg gehen wollen … Aber ich weiß Eines … Der Glaube, dass Alles so ist wie du es wünscht, ist nicht der wahre Glaube."
Ida bleibt jedoch uneinsichtig. Die einzige Person, der sie sich anvertrauen kann, ist Jill Green. Sie ist eine Weltliche und kann deshalb die Verzweiflung nachvollziehen. Sofort ist Jill bereit, die Frau aus dem Dorf in die Großstadt zu ihrer Schwester zu bringen. Es scheint die einzig vernünftige Lösung für den Konflikt, in dem Ida sich befindet. Dennoch ist sie über diese Entscheidung unglücklich. Als der Moment kommt, zögert sie es hinaus.
Es gibt Kritiker, die sich genau an dem Verhalten von Ida stören. Jenem zufolge hätte sie nie eine Amish sein können, denn ihr fehlt der tiefe und verwurzelte Glaube. Etwas, das nicht erst durch den Tod des Kindes zutage getreten sein kann. Auch stören sich manche Leute an formalen Dingen, die das Leben der Amish falsch wiedergeben. So gibt es in jeder Gemeinde einen Sprecher, der mit der Außenwelt kommuniziert. Niemand spricht so einfach mal mit Vertretern der Medien.
Es sind, so finde ich, Spitzfindigkeiten. Mag sein, dass es nicht so ganz dem korrekten Dasein der Amish entspricht, aber bei einem Film wie diesem geht es auch um die Dramaturgie. Hätte man lediglich Bezug auf den Attentäter und die Vergebung der Anish-Leute genommen, wäre vermutlich ein Werk entstanden, das viele Leute mittendrin abgeschaltet hätten.
Dass die Dramatisierung die richtige Entscheidung war zeigt die Tatsache, dass AMISH GRACE der Film mit den höchsten Einschaltquoten in der Geschichte des Frauensenders "Lifetime" wurde. Somit konnte ein großes Publikum erreicht werden, wodurch man eine Menge Leute vielleicht zum Nachdenken angeregt haben dürfte. Hass und Wut, so verständlich sie auch sein mögen, sind schlechte Berater, denn in der Regel erzeugen sie weitere Wut und noch mehr Hass. Eine Spirale, die bei einer Eskalation viel Schlimmeres hervorrufen kann als das auslösende Ereignis.
Über die Motivation des Mörders lässt sich der Film nicht richtig aus. Er erklärt uns, dass Charles Roberts eine Tochter kurz nach deren Geburt verlor und er deshalb zu dem Entschluss gekommen ist sich an Gott zu rächen.
Dieses ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Das Geständnis seiner Frau gegenüber (die eigentlich nicht Amy sondern Marie heißt), dass er pädophile Neigungen besitzt und diese auszuleben gedenkt, verschweigt der Film. Für jene These spricht, dass er alle Jungen aus der Schule laufen ließ, auch die Erwachsenen. Er fesselte die Mädchen und ließ sie sich in einer Reihe vor der Tafel aufstellen. Da die Polizei sehr schnell erschien konnte er seinen Plan nicht mehr umsetzen.
Fraglos fehlt dem Film ein wenig das depressive Ambiente einer solchen Situation, wodurch er nicht in letzter Konsequenz greift. Der Vorteil liegt darin, dass er deshalb nicht die Message-Keule hervor holt und damit sein Anliegen auch verständlich Leuten näher bringen kann, die eine etwas leichtere Kost bevorzugen.
Mit Kimberly Williams-Paisley und vor allem Matt Letscher sind außerdem zwei wirklich überzeugende Darsteller für die Hauptrollen verpflichtet worden, welche die Facetten im Äußeren wie im Inneren der Amish glaubwürdig und nachvollziehbar vertreten. So entstand ein sehenswertes Drama ohne große Tränendrüsenbelastung und ohne den erhobenen Zeigefinger. Er kann und wird die Welt nicht verändern, aber er ist den einen oder anderen Gedanken wert.
AMISH GRACE – WIE AUCH WIR VERGEBEN
Bilder: Cover und Screenshots der deutschen DVD (Evolution)