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Norbert Off Topic - Folge 11: Das Mädchen Wadjda

Norbert Off TopicFolge 11:
Das Mädchen Wadjda

Hin und wieder richte ich meinen Fokus gerne auf Filme, die keinem der hier im Zauberspiegel behandelten Genres zugehörig sind. So ist es mir durchaus ein Anliegen, auf solche Werke aufmerksam zu machen. Da aber Themen von außerhalb möglich sind, kann ich mich auch mit dieser kleinen Vorliebe austoben. Ich finde es sehr interessant, sich Filme abseits des Gewohnten anzuschauen. Wer sich berufen fühlt, der kann sich gerne an dieser Reihe beteiligen.

Regisseurin Haifaa Al MansourDas Mädchen Wadjda (Wadjda)
Eine Gratwanderung. Um dem Film folgen zu können muss es einem egal sein, ob man mit den Regeln des Islam konform geht oder nicht. Gleichwohl ist es für einen Christen oder gar einem, der keinen Glauben vertritt, schwer, die Gegebenheiten zu akzeptieren. Die Geschichte, die dieser Film erzählt, ist anrührend wie kontrovers, die Entstehung gar ein Hohn.

In Saudi-Arabien gibt es keine Kinos, weshalb die Produktion eines Spielfilms ein schwieriges bis unmögliches Unterfangen ist. Die Leute dort sitzen zuhause und schauen Fernsehen, Serien und Dokumentarisches. Haifaa Al Mansour gehört zu den wenigen Frauen, denen eine etwas unbeschwertere Kinder- und Jugendzeit gegeben war. Sie kam früh mit westlicher Literatur in Berührung und durfte Literaturwissenschaften in Kairo studieren. Danach verschlug es sie nach Sydney, wo sie an der dortigen Filmhochschule lernte. Sie konnte mit dem Abschluss drei Kurzfilme inszenieren und schrieb dann ein Drehbuch über ihre Heimat - für einen Spielfilm.

Wadjda2009 nahm sie Kontakt mit der Sundance Group in den USA auf und stellte ihr Projekt vor. Von dort wanderte es weiter nach Deutschland, wo die Produzenten Gerhard Meixner und Roman Paul es sichteten. Das Buch war interessant und so nahm der Film bald Gestalt an. Haifaa bestand allerdings darauf, dass er vor Ort in Saudi-Arabien gedreht werden sollte. Eine Genehmigung dafür zu bekommen war nicht einfach. Also erschwindelte man sie sich, indem von einem Dokumentarfilm die Rede war, über die Sitten und Gebräuche vor Ort. Das nächste Problem war die Regisseurin selbst, denn Frauen dürfen dort keine Filme machen. Also stellte man ihr den deutschen Regisseur Manuel Siebert als Assistenten an die Seite, der nach ihren Anweisungen die Außenaufnahmen leitete. Sie selbst saß in einem Van in der Nähe der Drehorte und gab per Handy ihre Regiebefehle. So zogen sich die Dreharbeiten über zwei Jahre hin.

Die MutterWadjda (Waad Mohammed) ist zehn Jahre alt und etwas renitent. Nicht dass sie den Glauben ihrer Eltern ablehnt, aber sie kann verschiedene Eigenarten, die vor allem Frauen und Mädchen betreffen, nicht einfach hinnehmen. So trägt sie ihre Haare gerne offen und an den Füßen ein paar alte Turnschuhe. Außerdem spielt sie mit Jungen, ihr bester Freund ist Abdullah (Abdullrahman Algohani). Mit derlei Eigenarten eckt sie natürlich an, wird von ihrer Mutter ( Reem Abdullah) gemaßregelt und von ihrer Lehrerin in der Mädchenschule sogar offen angefeindet. Das führt so weit, dass ihr der Verweis von der Schule droht.

AbdullahDas Mädchen trägt einen innigen Wunsch in sich, dessen Erfüllung ein offener Affront wäre. Sie will ein Fahrrad haben, doch allein die Erwähnung treibt ihre Mutter auf die Palme. Mädchen dürfen so etwas nicht besitzen. Außerdem wäre das viel zu teuer. Wadjda beginnt zu sparen. Heimlich stellt sie Freundschafts- und islamische Clubarmbänder her und verkauft diese an ihre Mitschülerinnen. Jeden Botengang, was ihr eigentlich verboten ist, lässt sie sich bezahlen. Als sie hört, dass beim jährlichen Koranwettbewerb ein Preisgeld ausgesetzt ist, übt sie bis zur Erschöpfung, damit sie es schafft. Das Geld würde reichen. Tatsächlich gewinnt sie den Wettbewerb, doch als sie verkündet, sich davon ein Fahrrad kaufen zu wollen, wird ihr das Geld entzogen.

Ihr Vater will eine zweite Frau heiraten, weshalb die Mutter sich ein sündhaft teures Kleid kauft, mit dem sie auf der Hochzeit die neue Braut ausstechen will. Die Ehe ist ohnehin gespannt und der Vater oft mehr als eine Woche nicht im Haus. Als es zu einem Streit kommt, beschließt die Mutter gar nicht bei der Hochzeit zu erscheinen. Sie erkennt, dass ihre Tochter alles ist was ihr noch bleibt. Deshalb gibt sie das Kleid zurück und erfüllt Wadjda den sehnlichsten Wunsch.

Die LehrerinDie Freigabe der FSK "ab 0 Jahren" und der grobe Inhalt lassen auf einen Kinderfilm schließen, doch so einfach gestaltet sich das nicht. Den Fragen, die Kinder dabei stellen, kann man auch als Erwachsener kaum begegnen, wenn man nicht sachkundig ist. Kein Fahrrad zu besitzen, keine Turnschuhe tragen zu können, Jungen und Mädchen aus der Nachbarschaft dürfen nicht zusammen spielen, strenger Religionsunterricht – das ist für uns nur schwer vorstellbar.

Kinder aber überwinden Grenzen. Die Tatsache, dass Wadjda lieber mit Abdullah spielt als zuhause die kommenden Aufgaben einer werdenden Ehefrau und Mutter zu lernen, ist nicht nur ihrer Mutter ein Dorn im Auge. Auch ihr Freund kennt die Unterschiede noch nicht und so lässt er das Mädchen sogar mit seinem Fahrrad üben, er findet ihre Ungeschicklichkeit dabei sehr lustig.

Der KoranwettbewerbDie Intention von Haifaa Al Mansour ist klar. Sie legt keinen Schleier über das, was in Saudi-Arabien geschieht und weder heißt sie es gut noch verurteilt sie diese Welt. Dennoch macht sie klar, das sich etwas ändern muss, besonders was die Rechte der Frauen betrifft. Kinder sind dafür eine Metapher, denn ihre Weltanschauung ist unverbraucht und muss erst noch geformt werden. Und sie kann stolz sein auf diesen Film, der die Augen öffnet in eine Wirklichkeit, die geradezu absurd anmutet.

Schauspieler gibt es übrigens keine. Es war ohnehin nicht leicht, die Menschen dazu zu bewegen vor die Kamera zu treten. Frauen ist es zum Beispiel verboten, mit ihnen fremden Männern zu arbeiten und öffentlich haben sie verschleiert zu sein. Es bedurfte enger persönlicher Kontakte und viel Überredungskunst. Hervorzuheben ist ohne Frage die kleine Waad Mohammed, die in ihrer Natürlichkeit sehr schnell Sympathien weckt. Ihr Wunsch ist es tatsächlich eine Schauspielerin zu werden. Dieser Film ist wie eine Referenz. Auch sie weiß um das, was ihr eigentlich auferlegt ist, aber der Wille, damit zu brechen, ist ihr und ihren Aussagen anzumerken.

Die LehrerinDer Film ist authentisch, was immer wieder in Artikeln und Rezensionen bestätigt wird. So ist es für mich nicht einfach das Geschilderte zu akzeptieren, bin ich doch in Deutschland und mit christlichen Religionen groß geworden. Wie mir wird es wohl vielen Leuten gehen. Deshalb birgt dieser Film ein bisschen auch die Gefahr missverstanden zu werden. Einigen Argumenten der politisch rechten Seite kann er aufzeigen, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter im Islam ein Fremdwort ist und somit eine weitere Zunahme der Muslime in unserem Land gefährlich sein könnte. Der Film will es nicht, aber er regt diese Gedanken an.

Er bietet jedoch genügend kritische Ansätze, die jener Glaubensrichtung schwer im Magen liegen könnten. Wie anders ist es zu erklären, dass er bis heute nur vereinzelt in der arabischen Welt zu sehen war. Fürchtet man den Spiegel?

DAS MÄDCHEN WADJDA ist für mich einer der interessantesten Filme des neuen Jahrtausends. Nein, er ist technisch und darstellerisch keine Glanzleistung, aber er hat mir die Augen in eine fremde Welt geöffnet und mich stark zum Nachdenken angeregt. Das können wahrlich nicht viele Filme für sich in Anspruch nehmen.

Das Mädchen WadjdaDas Mädchen Wadjda
(Wadjda)
mit Waad Mohammed (Wadjda), Reem Abdullah (Mutter), Abdullrahman Algohani (Abdullah), Ahd, Sultan Al Assaf, Alanoud Sajini.
Produktion: Gerhard Meixner, Roman Paul, Amr Alkhatani für Razor Film
Regie: Haifaa Al Mansour, Manuel Siebert (Assistent)
Drehbuch: Haifaa Al Mansour
Kamera: Lutz Reitemeier
Musik: Max Richter

Saudi Arabien/BRD 2012

Farbe – 1,85:1 –  98 Minuten

Uraufführung: 31. August 2012 (Venedig Film Festival)
Deutsche Erstaufführung: 5. September 2013

Deutscher Vertrieb: Koch Media

Cover und Screenshots der Deutschen DVD (Koch Media)

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