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Alte Schinken - Hope Mirrlees: «Flucht ins Feenland»

Alte SchinkenHope Mirrlees:
«Flucht ins Feenland»

«Flucht ins Feenland» (Originaltitel «Lud-in-the-Mist») aus der Feder von Hope Mirrlees erschien zum ersten Mal 1926. Ob es der „berühmteste Feenroman aller Zeiten“ ist, wie die Einbandrückseite etwas pompös behauptet, sei dahingestellt – dass das Buch aber durch eine Neuauflage im Englischen und die erstmalige Übersetzung ins Deutsche durch die 2004 erschienene Ausgabe des Piper-Verlags den Nebeln der Vergessenheit entrissen wird, ist mehr als gerechtfertigt.

«In Lud-in-den-Nebeln gab es wirklich unverhältnismässig viele erfreuliche Dinge; denn es verfügte, wie wir gesehen haben, über zwei Flüsse!»
Hope Mirrlees: «Flucht ins Feenland»


Es gehört zu einer Reihe von englischen Werken der 20er-Jahre, die als Vorläufer oder frühe Vertreter des Fantasy-Genres gelten (wobei mir Genrezuschreibungen zwischen Kunstmärchen und Fantasyroman für Werke dieser Zeit immer ein Fragezeichen zu verlangen scheinen) und wäre allein deswegen lesenswert. Wegen der schönen Sprache, dem feinen Humor und der etwas speziellen Handlung wird es jedoch ungeachtet seines Alters zu einem Lesegenuss.

Hope Mirrlees - Lud-In-The-MistDas Buch beginnt mit einer Beschreibung von Lud-in-den-Nebeln, der pittoresken Hauptstadt des kleinen Freistaats Dorimare, der von zwei Flüssen durchflossen wird, der Schanz und der Scheck, die für den wirtschaftlichen Wohlstand des Landes sorgen. Die Schifffahrt auf der Schanz bedeutet einen weitreichenden Handel und damit (sofern sie nicht gerade austrocknet) die Lebensader der regierenden Kaufleute von Dorimare. Die kleinere Scheck dagegen hat eine unbekannte Quelle im Westen, wo Dorimare hinter den Umstrittenen Hügeln an die Feenmarken grenzt, von denen allerdings noch kein Lebender zurückgekehrt ist.

In Lud-in-den-Nebeln wäre alles in schönster Ordnung , gäbe es da nicht die Feenfrüchte, oder besser gesagt einen heimlichen Feenfrüchte-Schmuggel, der nicht zu unterbinden ist. Meister Nathan Hahnenkamm, seines Zeichens frisch gewählter Bürgermeister von Lud-in-den-Nebeln und eine der liebevollsten literarischen Umsetzungen des Spiessbürgers, könnte ein beschauliches Leben führen, hätte er nicht zwei Probleme:  Ihn plagt ein altes Leiden, das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung seiner Seelenruhe, das so gar nicht zu seiner ehrenwerten Fassade passen will. Schuld daran ist ein Ton aus einem Feeninstrument, den er als junger Mann beim Stöbern auf dem Dachboden des Familiensitzes gehört hat und der ihn seither nie mehr losgelassen hat. 

Sein eigentliches «Unglück» aber ereilt ihn, als sein 12-jähriger Sohn Ranulf bei einem gesellschaftlichen Empfang einen Skandal auslöst – wie sich zeigt, hat der Filius nichtsahnend Feenfrüchte gegessen. Dieses verlockende Obst hat leider gefährliche Nebenwirkungen, da man es immer und immer wieder versuchen will. Feenfrüchte sind, wie das Feenland selbst und das stumme Volk, in Dorimare ein absolutes Tabu, besonders in den oberen Schichten. Nur schon über sie zu sprechen, gilt als unanständig, ja anstössig. Schlau, wie die Ratsherren von Dorimare sind, sind die Feenfrüchte daher nicht bloss verboten, sondern existieren von Gesetzes wegen gar nicht. Da macht es sich natürlich gar nicht gut, wenn der Sohn des Bürgermeisters damit in Kontakt gekommen ist ...

Denn auch als Ranulf zwecks Erholung auf Rat des geheimnisvollen Arztes Endymion Lear auf einen Bauernhof in Schwan-an-der-Scheck, einem Dorf in der Nähe der Feenmarken, geschickt wird, sind die Probleme nicht gelöst. Der Feenfrüchte-Schmuggel nimmt immer grösseren Umfang ein, und zu allem Übel gehen auch noch die Schülerinnen der höheren Töchterschule, darunter Nathans Tochter Brünella und Ambrosius Geissblatts Tochter Mondliebchen, einem windigen Tanzlehrer auf den Leim und verschwinden tanzend und Unsinn redend aus der Hauptstadt in die Feenmarken.

Gerade als Nathan beginnt, Licht ins Dunkel zu bringen und zusammen mit seinem besten Freund Ambrosius Geissblatt den Wegen des Früchteschmuggels und einem vor zwanzig Jahren geschehenen Mord auf die Spur kommt, spitzt sich die Lage zu. Da er als unfähig angesehen wird, dem Schmuggel Einhalt zu gebieten, lässt ihn sein ehrgeiziger Schwager Polidor Obacht des Amtes entheben und zu diesem Zweck für tot erklären. Nathan lässt Ambrosius in der Stadt zurück und macht sich auf die Suche nach Ranulf, der inzwischen ebenfalls in die Feenmarken abhanden gekommen ist.

Nathan muss einige ungemütliche Entdeckungen machen, einen Mord aufklären und herausfinden, was dies alles mit Herzog Aubrey zu tun hat, dem während der Revolution spurlos verschwundenen letzten Fürsten von Dorimare, von dessen dereinstiger Rückkehr sich der Volksmund nicht abbringen lässt … Auf der Reise wird Nathan zum Helden, unter anderem weil es ihm nebenbei gelingt, Brünella und ihre Kameradinnen zu retten – mittels des Gesetzes, das schliesslich die Fiktion ist, die den Trubel des Feenlandes regulieren kann.


«Flucht ins Feenland» war Hope Mirrlees’ (1887–1978) dritter und letzter Roman; obwohl sie noch viele Jahrzehnte lebte, hat sie keinen weiteren Roman veröffentlicht. Daher ist ihr Name, wie mir scheint, auch nicht sehr bekannt, auch wenn der Klappentext verkündet, dass das Buch „seit seiner Wiederentdeckung in den siebziger Jahren als Kultbuch des Genres“ gelte.  «Flucht in Feenland» ist die Aufmerksamkeit in jedem Fall wert, denn Mirrlees’ Schöpfung ist wie ein kleiner, spezieller Schatz.

Das Buch ist sehr amüsant zu lesen. Mirrlees beschreibt die pittoreske Welt von Dorimare stets augenzwinkernd, aber doch so, dass man für Nathan Hahnenkamm und seinen Freund Ambrosius Geissblatt Sympathien entwickelt. Die kriminalistischen Elemente bringen zusätzliche Spannung hinein. Die Beschreibung von Dorimare erinnert ans Auenland, vor allem auch wegen der putzigen Namen der Leute –  von Polidor Obacht über Frau Efeu Pfefferkorn und Lukas Hanfling bis zu Mutter Schwips und Sebastian Schuft. «Flucht ins Feenland» ist einer der wenigen mir bekannten fantastischen Romane, in welchem kein Liebespaar eine Rolle spielt und die «Helden» zwei gestandene Spiessbürger in durchaus gesetzterem Alter sind. Die Geschichte nimmt niemals die Dimensionen einer der üblichen Tolkien-gestützten Fantasyromane an. Eine Endschlacht erwartet man hier vergebens, und auch den Grossen Bösen gibt es nicht. Es wird vielmehr eine Geschichte mit vielen geschickt ineinander geschachtelten kleinen erzählt, und das macht den Roman ungewöhnlich. Er erinnert eher an Gottfried Kellers Seldwyla-Novellen.

Der vermeintlichen Einfachheit zum Trotz bietet der Roman aber viel Potential für eine Interpretation von zeitkritischen Bezügen. Neben den berauschenden «Feenfrüchten» (!) sind z. B. auch die die Seitenhiebe auf die Funktionsweisen der Justiz amüsant, die am Ende gemildert werden, als sich das Gesetz doch als ein Mittel in der Not erweist.

Etwas befremdlich wirkt die deutsche Wiedergabe des Titels. Wie man von «Lud-in-the-Mist», dem Namen einer Stadt, zu «Flucht ins Feenland» kommt, ist mir schleierhaft – zumal die «Flucht» im Buch auch nicht wirklich vorkommt, da die Hauptfigur ja nicht in erster Linie ins Feenland flüchtet, sondern sich dahin aufmacht, um ihren Sohn zu retten. Die Ausstattung der Ausgabe mit Vor- und Nachwort macht dies jedoch wett, auch wenn das zauberhafte Titelbild (mein eigentlicher Kaufgrund) letztlich nicht viel mit dem Inhalt gemein hat.

Flucht ins FeenlandBesonders gelobt sei das 70 Seiten starke, interessante und wohl mit einigem Aufwand recherchierte Nachwort über Leben und Werk der Autorin von Michael Swanwick – so ein Nachwort hätte man noch bei vielen Fantasy-Büchern gern.

Ein zusätzliches Plus ist ein den Roman lobendes Vorwort von keinem Geringeren als Neil Gaiman (tatsächlich könnte man versucht sein, eine Parallele zu seinem «Stardust» zu ziehen, wo auch eine bewachte Mauer eine Art Märchenland von einer einfachen Welt trennt; damit sind die Gemeinsamkeiten aber bereits erschöpft, «Stardust» spielt sich ja zum grössten Teil in der phantastischen Welt ab, während man in «Flucht ins Feenland» das Feenland selbst nicht wirklich betritt und dies nebenbei auch als eine Art Totenwelt konzipiert ist).


Daten zum Buch
Hope Mirrlees: Flucht ins Feenland. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Riffel. München: Piper Fantasy 2004. 407 S.


Illustration: Cover der englischen Ausgabe von Open Road Publishing, Cover der deutschen Ausgabe vom Piper-Verlag, www.amazon.de


Kurzer Aufsatz von Michael Swanwick über Hope Mirrlees

 

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