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Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 27: William Wymark Jacobs: Die Affenpfote (1902)

Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im VerbrauchertestTeil 27:
William Wymark Jacobs: Die Affenpfote
(1902)

Es gibt Autoren der Phantastik, die aufgrund eines einzigen Romans oder einer Geschichtensammlung berühmt wurden. Seltener gelingt es einem Schriftsteller, nur durch eine einzige Kurzgeschichte Weltruhm zu erlangen.

W.W. Jacobs ist einer der wenigen, dem es geglückt ist.


Plakat The Monkeys Paw (1948)Das klingt erstmal positiv. Aber man kann es natürlich auch umdrehen und diesen Ruhm als halbleeres Glas betrachten. Wenn ein Autor ein Leben lang Bücher, Geschichten und Feuilletons veröffentlicht, ist es nicht grade ein Kompliment, auf nur ein Werk reduziert zu werden.

So geschehen etwa bei Robert W. Chambers. Der flott produzierende Vielschreiber und Bestsellerautor hätte wohl verschnupft reagiert, hätte ihm eine Wahrsagerin aus der Kristallkugel prophezeiht, dass im 21. Jahrhundert seine vielen Romane alle vergessen sein werden, hingegen seine schmale Novellensammlung „Der König in Gelb“ (1895) als eins der einflussreichsten Büchern der Phantastik in der Moderne überleben wird. Als einziges Werk.

Dass von diversen Autoren Geschichten weltberühmt werden, ist auch hin und wieder schon vorgekommen. Zweifellos gehören „Der Schneckenforscher“ von Patricia Highsmith und „Die Lotterie“ von Shirley Jackson zu den großen Horrorgeschichten englischsprachiger Erzähltradition. Und ihre Autoren haben keine besseren hervorgebracht. Aber die Romane der beiden Damen sind weltberühmt! Die Erzählungen führen sie gewissermaßen nur im Gepäck als hübschen Bonus zu „Mr. Ripley“ und „Spuk im Hill House“.

William Wymark JakobsAnders liegt der Fall bei William Wymark Jacobs (1863-1943), der in Anthologien  in der Regel immer nur als W.W. Jacobs geführt wird.

Nur eine Geschichte hat überlebt, die aber gehört zu den Top-Ten der Klassiker der makabren Literatur. Ob Jacobs im Jenseits damit unzufrieden ist oder glücklich? Wer weiß...

Jacobs, ein waschechter und gebürtiger Londoner, entstammte einer Seemanns-Familie. Seine Kindheit und Jugend wurde im wahrsten Sinne des Wortes geprägt durch Seemansgarn. Und so entwickelte er sich zu einem der respektabelsten britischen Autoren von Seereise- und Seefahrerromanen. Zuweilen schrieb er auch Kurzgeschichten. Nur wenige davon gehören ins Gebiet des Phantastischen. Ironischerweise hat seine berühmte Affenpfote überhaupt nichts mit der Seefahrt zu tun, sieht man davon ab, dass in ihr ein weitgereister Kolonialoffizier die titelgebende mumifizierte Pfote aus Indien übers Meer nach England eingeschleppt hat. Die „Affenpfote“ erschien 1902 in der Kurzgeschichtensammlung „Die Lady auf dem Lastkahn“ , auch das ein Indiz dafür, dass das Werk selbst in der Originalsammlung eher ein Fremdkörper war und es da vordergründig wieder im Jacobs Lieblingsthema, die See ging. Der Erfolg der ungewöhnlichen Geschichte ist umso erstaunlicher, als sie nur wenig Text umfasst, ca. 10-15 Buchseiten, je nach Sprache und Satzspiegel. Und doch gehört sie im englischsprachigen Raum zu den ganz großen Klassikern des Unheimlichen und wird an Bekanntheit nur noch, wenn überhaupt, von einigen Geschichten Edgar Allan Poes übertroffen.

Worin liegt ihr Geheimnis, ihr düsterer Zauber?

Nur selten gelang es in der phantastischen Literatur, eine Story so perfekt konstruieren, dass sie zwar das Grauen intendiert und suggeriert, aber auch komplett anders interpretiert werden kann.

Henry James hatte so eine Gratwanderung in „Schraubendrehungen“ (1898) versucht, doch blieb dieser geniale Spukroman doch eher eine intellektuelle Spielerei, mehr Bewunderung für die artistische Kunstfertigkeit des Verfassers als echte Furcht einflößend. Jacobs behält James Technik bei, öffnet aber mit aller Behutsamkeit das Tor zu eine wirklich grauenerregenden Welt.

Illustration zu Die AffenpfoteTatsächlich beeinflußte die „Affenpfote“ gleich zwei Richtungen von Literatur nachhaltig – die gradlinige Horror-Literatur, vor allem die amerikanischen Shudder-Pulps, aber ach die subtile Erzählkunst britischer Meister wie Algernon Blackwood.

Worum geht es? EIn älteres britisches Ehepaar sitzt mit ihrem erwachsenen Sohn im Reihenhaus beim Essen. Da kommt ein alter Freund der Familie zu Besuch – ein Indienoffizier, der gerne auch mal härtere Sachen kippt. Er hat ein unheimliches Mitbringsel dabei – eine mumifizierte Affenpfote. Angeblich hat sie ein bösartiger und übellauniger Fakir in Indien verzaubert. Jeder Besitzer der Pfote hat drei Wünsche frei – allerdings ist noch nie ein Besitzer glücklich durch sie geworden. Im Gegenteil, so mancher hat sich umgebracht. Er überlässt die Pfote der Familie. Nachdem er gegangen ist, bricht eine Diskussion los – keiner nimmt das Ding wirklich ernst, doch wird scherzhaft die Möglichkeit erörtert, dass frühere Besitzer einfach zu dumm oder zu gierig waren, um sich wirklich Sinnvolle Dinge zu wünschen. Aus Übermut wünscht sich der Vater etwas Geld: 200 Pfund. Schreiend läßt er die Pfote fallen und schwört, dass sie sich bewegt hat. Aber nichts geschieht weiter. Kein Geld taucht auf. Die Bewegung wird auf die Einbildungskraft des Alten geschoben. Der Sohn geht am nächsten Morgen spottend nach dem Frühstück zur Arbeit.

Nach einiger Zeit taucht ein Mann bei den Eltern auf, ein Abgesandter der Firma, für die der Sohn arbeitet.  Er bringt den Eltern möglichst schonend bei, dass der Sohn bei einem Unfall mit einer Maschine gestorben ist. Er läge kein Verschulden der Firma vor – dennoch erlaube er sich, eine Entschädigungssumme dazulassen, die die Firma aus Verbundenheit ihren Angestellten und ihren Familien gegenüber zur Verfügung stellt. Es sind 200 Pfund.

Das alte Ehepaar steht unter Schock. Nach einigen Tagen hält es die Frau nicht länger aus – sie zwingt ihren Mann in ihrer Trauer in einer stürmischen Nacht, den zweiten Wunsch auszusprechen, nämlich dass ihr Sohn zurückkommen möchte. Er tut das – und tatsächlich hört er nach einiger Zeit sich etwas schlurfend nähern und an die Haustür wummern. Während die Frau fieberhaft versucht, die Tür zu öffnen und das Ding einzulassen, gerät der Mann in Panik und wünscht sich das Wesen wieder weg. Als die Frau die Tür endlich aufreißt, liegt die nächtliche Straße verlassen da.

The Lady of the BargeNatürlich lässt sich der Erfolg der Erzählung nicht durch die pure Inhaltsangabe veranschaulichen. Packend ist hier auch das Atmosphärische, Unwirkliche, schleichend Grausige des Erzähltons, besonders der Behandlung des Lichts bzw. der Dunkelheit und des Diffusen kommt eine wichtige Rolle zu. Dennoch fällt auch in der knappen Inhaltsangabe auf, dass es Jacobs gelungen ist, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts eine symbolische Übergangsgeschichte zu schaffen, in der alte Mythen auf höchst moderne urbane Legenden treffen.

Der uralte Märchen-Mythos von den drei Wünschen wird hier ebenso aufgegriffen und ins Düstere abgewandelt wie der schaurige Topos der abgehackten Hand. Diese Hand taucht als Unheilsbringer schon früh in der Schauerliteratur des 19. Jahrhundert auf. Berühmtes Beispiel: Guy de Maupassants Horror-Novelle Die „Totenhand“ (1875), in der eine mumifizierte Menschenhand den Besitzer am Ende erwürgt. (Auch Maupassants Held hat sie übrigens aus okkulten Kreisen; aus dem Nachlaß eines alten Hexers.)

Diese alten Legenden sind geschickt vermengt mit neuen urbanen, wie der Übereinstimmung von gewünschtem Geld und der Entschädigungsumme wegen des gräßlichen Todes des Sohns in der Fabrik. Die beim Leser erzeugte Angst richtet sich an mehrere Schichten der Psyche, die offensichtliche Furcht vor dem Tod wird ebenso angesprochen wie die vor unheimlichen Mächten, mit denen der Mensch sich nicht anlegen soll.

Besonders aber faszinierte die Zeitgenossen der Schluss - die Vorstellung des Untoten, der sich, von einer namenlosen Maschine zerschrappelt, schlurfend aufs Haus zubewegt. Hier wird im Keim schon das alte klassische Gespenst vom neuen Horror-Geschöpf des 20. Jahrhunderts abgelöst: Dem Zombie.

Friedhof der KuscheltiereTatsächlich erregte die Spekulation, was wohl aufgetaucht wäre, wäre der letzte Wunsch nicht im letzten Moment ausgesprochen worden, die Gemüter über Generationen hinweg.   Stephen King etwa hat diese Erzählung seit seiner Jugend fasziniert. Er war es dann auch, der ihre latenten Möglichkeiten zur letzten Konsequenz führte. In seinem berühmten Roman „Friedhof der Kuscheltiere“ beschreibt er, was passiert, wenn die Straße beim Öffnen der Tür nicht leer ist. Zwar ist sein Roman vor allem ein Buch über die Trauer, doch wurde er eindeutig inspiriert von Jacobs Geschichte – er zitiert sie mehrfach im „Friedhof“. Doch schon viel früher malten sich Horror-Autoren aus, wie eine härtere Version der Story ausgesehen haben könnte. So wurde die Geschichte bald auch als Horror-Stück am berüchtigten Pariser Grand-Guignol-Theater aufgeführt und mehrmals für den (frühen) Horrorfilm adaptiert.

Es liegt nahe, dass uns die Vorstellung beunruhigt, was genau da draußen vor der Tür herangeschlurft kam. Doch wäre Jacobs Geschichte besser gewesen, wenn sie es uns ausgemalt hätte? Natürlich nicht. Ihre Genialität besteht grade im Andeuten. Hätte sie uns ausführlich geschildert, wie der Sohn von der Maschine zerfleischt wird, und wie er dann als monströser Zombie zurückkehrt – niemand würde sich heute noch an sie erinnern.  Die typisch britische Distanz zum Geschehen, die Uneindeutigkeit macht den Reiz des Werks aus. Könnte nicht alles auch ganz anders gewesen sein?

Hatte der alkoholisierte Oberst vielleicht nur eine bizarre Geschichte erfunden, um die alten Freunde zu necken?

GespensterWar der Tod des Sohnes auf Unachtsamkeit bei der Arbeit zurückzuführen, weil er mit den Gedanken zu sehr beim gestrigen Abend und der Affenpfote war? War die Höhe der gewünschten Geldsumme ein Zufall? Und war es vielleicht doch nur der Sturmwind, der nachts an der Tür rüttelte und die Phantasie der trauernden Eltern entzündete?

All dies ist möglich – Jacobs lässt dieses Hintertürchen für uns offen. Seine Geschichte ist ein Meisterwerk des indirekten Schilderns – und hat damit sicher  auch andere Virtuosen des schriftlichen Grusels inspiriert. Gerade in die Lücken, die Jacobs läßt, projeziert jeder von uns seine eigenen Ängste und Bilder hinein.  

Auch wenn die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht ganz so populär ist wie im englischsprachigen (hier ist sie zuweilen sogar Schullektüre), ziert sie doch so einige deutsche Grusel-Anthologien. Sie findet sich etwa in der bedeutendsten deutschen Geistergeschichten-Auswahl der Nachkriegszeit, Mary Hottingers „Gespenster“ (Diogenes, 1956) als auch in zahlreichen weniger edlen, aber nicht minder unterhaltsamen Zusammenstellungen makabrer Geschichten.

Nächste Folgen:
Stanislav Lem - Solaris (1961) (25. Januar)
Arthur Conan Doyle: Der Hund von Baskerville (1902)
(8. Februar)
Friedrich Gotthelf Baumgärtner (Hg.) - Museum des Wundervollen (1803-12) (22. Februar)
Ann Radcliffe - Die nächtliche Erscheinung im Schlosse Mazzini (1790) (7. März)
Robert Kraft - Loke Klingsor, der Mann mit den Teufelsaugen (1914-16) (21. März)
Abraham Merritt: Die Puppen der Madame Mandalipp (1932) (04. April)
Paul W. Fairman: Der Mann, der im Nichts steckenblieb (1951) (18. April)

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Kommentare  

#1 Ingo 2016-01-11 07:59
Mary Hottingers „Gespenster“: Ich wusste ja gar nicht dass diese Anthologie so "bedeutend" war. Genau dort habe ich - natürlich - die Affenpfote damals gelesen und in deutlicher Erinnerung behalten. Mal sehen ob der Band die vielen Umzüge überlebt hat, da muss ich doch glatt wieder drin schmökern...
#2 Toni 2016-01-11 18:41
Ich bin auch eher der Typ der wissen möchte was nun vor der Tür steht. Ob ich damit klar komme ist eine andere Sache. Walter Appel machte aus dem Thema den magischen Schrumpfkopf.
Schöner Artikel übrigens.
#3 Andreas Decker 2016-01-11 22:33
Mir war gar nicht bewusst, dass die Hottinger-Antho so alt ist. Aber Diogenes habe ich zu Beginn meines Lesens eher gemieden. Das Programm war zu eingebildet und stolz drauf. :-) Ich habe Hottinger auch nie als bedeutend wahrgenommen. Das ist so eine typische Preiswert-Zusammenstellung, da die meisten Geschichten Public Domain waren. So was haben bei mir in der Buchhandlung damals immer Leute gekauft, die ein Kiosktb nicht mit der Kneifzange angefasst hätten.

Das ist schon eine tolle Geschichte. Zahllose Male kopiert. Das Nicht-Sehen ist schon effektiver. Nichts ist enttäuschender als das Monster im Scheinwerferlicht.

Kurzgeschichten hatten hierzulande nie Tradition oder Markt. Dabei ist die Kurzgeschichte das Fundament so vieler Genre. Aber ich glaube, dass jemand wie Jacobs besser dran ist. Ein Autor wie Edward Hoch hat fast 1000 Shortstories verkauft, und auch wenn davon keine so perfekt funktioniert wie Die Affenpfote, ist mir nie eine untergekommen, die richtig schlecht gewesen wäre. Und er ist schon jetzt so gut wie vergessen.
#4 Matzekaether 2016-01-12 11:27
Na, die Hottinger war schon wichtig, eine zentrale Figur bei dem Versuch der Polpuraisierung der Short Story als Deutsch-Engländerin und Vermittlerin englischer Stoffe. Nur ein Bruchteil der Geschichten war 1956 in "Gespenster" public domain, ich glaube drei Geschichten. Fünf sind sogar heute noch geschützt.
Was Kurzgeschichten angeht, gebe ich dir absolut recht. Ich bin beim Stöbern in den Pulps immer wieder erstaunt, wie gut das Durchschnittsniveau ist, selbst in nicht so hoch eingeschätzten wie Terror Tales oder Fantastic Adventures. Grade die vielen guten Einfälle sind verblüffend, und wie bei deinem Hoch erwische ich nur selten eine, die ganz mies ist.
#5 Andreas Decker 2016-01-12 12:56
zitiere Matzekaether:

Was Kurzgeschichten angeht, gebe ich dir absolut recht. Ich bin beim Stöbern in den Pulps immer wieder erstaunt, wie gut das Durchschnittsniveau ist.Grade die vielen guten Einfälle sind verblüffend, und wie bei deinem Hoch erwische ich nur selten eine, die ganz mies ist.


Dass Hottinger mit einem literarischen Anspruch kam, ist völlig richtig. Sonst hätte der Verlag das nicht mit der Kneifzange angerührt. Klassischer als mit Bulwer-Lytton und Defoe kann man eigentlich nicht sein, die kann man auch Leuten verkaufen, die keine Ahnung von Genre haben.

Ich denke, gerade die kommerziellen amerikanischen Autoren standen unter einem hohen Druck, vernünftige Arbeit zu liefern. Die Konkurrenz war groß, die Lektoren hatten die Auswahl. Da musste man schon was leisten.
#6 Thomas Mühlbauer 2016-01-12 22:25
Mary Hottingers Anthologien waren (zusammen mit dem Ravensburger-Taschenbuch "Das Wassergespenst von Harrowby Hall") meine ersten Leseerfahrungen in der "anspruchsvollen" Phantastik. Zusammen mit den Illustrationen von Paul Flora ergab sich so ein Eindruck, der ursprünglich von irgendeinem Fussballmenschen kommt, der aber auch für mich gilt: Ich habe diese Liebe nie bereut. :-)

Von Mary Hottinger gab es 1961 noch die Anthologie "Panik" (später als "Gruselgeschichten" aufgelegt), die E.F. Bensons unvergleichliche Erzählung "Die Turmstube" enthält.

In der Reihe "Gespenstergeschichten" von Rainer Erler wurde die Erzählung auch für das deutsche Fernsehen verfilmt und am 11.03.1985 im WDR gesendet.

Und ehe ich das vergesse: William Wymark Jacobs Geschichte ist natürlich auf ihre ganz eigene Art einmalig und beeindruckend; gerade deshalb, weil sich das Geschehen einer konkreten Deutung entzieht.

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