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Die Anfänge der modernen SF in China

Die Anfänge der modernen SF in ChinaDie Anfänge der modernen SF in China
Ein historischer Abriss

Die SF in China hat eine etwas andere Entwicklung als im Westen genommen.
Die anders geartete chinesiche Tradition, aber auch die durch das kommnunistische Regime erzwungene jahrzehntelange Ideologisierung und die damit einhergehende Abschottung von westlichen Einflüssen brachten bis Mitte der achtziger Jahre eine SF hervor, die sich grundsätzlich durch ihren positiven Charakter, einem aus heutiger Sicht naiv wissenschafts- und technikgläubigen Ansatz auszeichnete.  Hier ein kleiner historischer Abriss dazu.


Die Entwicklung der chinesischen SF lässt sich am besten im Kontext mit dem chinesischen Verhältnis zur Wissenschaft und zu den Wissenschaftlern beschreiben. Deshalb zunächst ein paar Zeilen dazu. 

Eine US-AnthologieA) Die Rolle der Wissenschaft in China
Im traditionellen China (bis etwa 1850) richtete sich das wissenschaftliche Interesse fast ausschließlich auf soziale, geschichtliche und philosophische Fragen. Der Naturwissenschaft stand man dagegen gleichgültig gegenüber. Es gab zwar einige wichtige Entdeckungen (z.B. Buchdruck mit beweglichen Typen um 1030, Kompaß um 1119 und Schießpulver etwa 1161), aber kennzeichnend war, dass niemals der Versuch, ein umfassendes System von Erkenntnissen der objektiven gesetzmäßigen Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft zu erstellen, gemacht wurde. Der chinesische "Wissenschaftler" oder Erfinder begnügte sich mit der Feststellung, dass die Natur bei seinen Experimenten vorwissenschaftlichen Anschauungen (z.B. Yin und Yang oder die Theorie der 5-Elemente)  folgte. Im Gegensatz zur europäischen Wissenschaft hatte man nicht den Wunsch, die Natur zu beherrschen, sondern wollte sich ihr anpassen. Außerdem sollte die Gesellschaft nicht durch neue Techniken verändert werden (vor allem dem herrschenden Mandarinat lag daran, seine althergebrachten Privilegien nicht durch Innovationen zu gefährden), und es wurde keine Verallgemeinerung der Erkenntnisse durch Formulierung von Natur-"Gesetzen" angestrebt.

Die humanistische Bildung wurde im alten China der naturwissenschaftlichen deutlich vorgezogen und brachte mehr Anerkennung. Ab 1850 erkannten die Chinesen, dass ihre Naturwissenschaften und ihre Technik der europäischen unterlegen waren. Man begann deshalb die westliche Wissenschaft zu übernehmen. 1914 entstand die erste "Chinesische Gesellschaft der Wissenschaften" (bezeichnenderweise im Ausland begründet). Wissenschaft bedeutete für ihre Mitglieder die Wissenschaft, die sie an den amerikanischen und europäischen Universitäten kennengelernt hatten. Die eigene chinesische wissenschaftliche Tradition wurde demgegenüber nur als ein Restbestand rückschrittlicher Praktiken angesehen, den es zu überwinden galt. Wissenschaft sollte um ihre selbst betrieben werden und nicht mehr, wie vorher in China üblich, nur an ihrer Nützlichkeit gemessen werden. In den zwanziger und dreißiger Jahren begannen die chinesischen Wissenschaftlicher denn auch, sich nicht länger durch Nutzen, sondern durch Qualität im internationalen Vergleich zu legitimieren.

In der Volksrepublik China stellte sich nach 1949 die Frage, ob es genügt, dass der Wissenschaftler dem Volk dient, oder ob er darüberhinaus auch ein Bestandteil des Volkes sein müsse. Mao versuchte letzteren Anspruch dadurch zu verwirklichen, dass er die Wissenschaftler auch zur Produktionsarbeit einsetzte. Während der Kulturrevolution wurden die Angehörigen des Wissenschaftsapparates pauschal als "stinkende Nr. 9" bezeichnet. Gemeint war, dass sich die Wissenschaftler den acht Kategorien der Klassenfeinde (Gutsbesitzer, Großbauern, Konterrevolutionäre, asoziale Elemente, Rechte, Renegaten, feindliche Geheimagenten und Machthaber auf dem kapitalistischen Weg) als würdige Helfershelfer einreihten. Viele Forscher mussten jahrelang auf den Feldern arbeiten, Kloaken reinigen oder in Arbeitslagern "Produktionsschlachten" liefern. Nach der Abkehr der chinesischen KP von der Ideologie der Gleichheit und der Radikaldemokratie, kehrten alte Elitevorstellungen zurück. Leistung und Begabung sollten wieder gefördert werden. Für die Modernisierer genügte es, wenn die Wissenschaftler einen objektiv nützlichen Dienst für die Gemeinschaft verrichteten.  

B) Die Anfänge der Science-Fiction in China
Es gab schon früher fantasievolle Mythen und Legenden in China, etwa das aus dem zweiten Jahrhundert stammende "Hou Yi schießt Sonnen", in der der Held neun der ursprünglich zehn Sonnen abschiesst, damit die Felder der Menschen nicht länger versengt werden. Ein anderes Beispiel aus dieser Zeit ist die Legende "Chang E eilt zum Mond", in der ein Unsterblichkeitsmittel geraubt und auf den Mond gebracht wird.  Am bekannntesten ist aber die "Reise nach dem Westen" aus dem 16. Jahrhundert, in der der Held fliegen, Ebenbilder seiner selbst erschaffen und sich in 72 verschiedene Formen verwandeln kann.

Aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden die ersten SF-Romane. In Gang gesetzt wurde die Entwicklung mit Übersetzungen der Werke von Jules Verne, H.G.Wells und anderer amerikanischer, englischer und japanischer Autoren. Die erste chinesische SF-Geschichte erschien 1904. (Huang Jang Diasous, "Kolonie auf dem Mars"). Ein Jahr später folgte "Prahlereien des Neuen Münchhausens" von Xu Nianci. Erwähnenswert ist auch Lao She, "Die Stadt der Katzen", eine 1932 veröffentlichte bissige Satire auf die damaligen Zustände in China. Zu nennen ist auch Gu Junzheng, "Traum vom Frieden", aus dem Jahre 1940. Der Autor versuchte, wissenschaftliche Phänomene seinen jugendlichen Lesern nahezubringen und bei ihnen Begeisterung für die Wissenschaft zu wecken. Dieser Anspruch sollte lange Zeit ein Kennzeichen der chinesischen SF sein.

Nach der kommunistischen Machtübernahme 1949 erhöhte sich die Zahl der in China erschienenen SF-Werke. Aufgrund der zunächst guten Beziehungen zur Sowjetunion wurden viele Werke von russischen Autoren übersetzt. Chinesische SF-Geschichten wurden überwiegend in Kinder- und Jugendreihen veröffentlicht. Bis Mitte der sechziger Jahre gab es etwa zwanzig Schriftsteller, die SF-Geschichten schrieben. Insgesamt kamen sie in diesem Zeitraum auf etwa 60 Werke, die sich alle an Kinder richteten. Repräsentativ sind etwa "Der verschwundene ältere Bruder" von Yu Shi aus dem Jahre 1956, in der es um das Einfrieren und Wiederauftauen von Menschen ging, und "Die Elefanten mit den abgeschnittenen Rüsseln" von Chi Shuchang, wo unter anderem die Züchtung von Riesenschweinen behandelt wurde. Um Organtransplantation ging es in "Die merkwürdige Begebenheit mit Buke" von Xiao Janheng. In der chinesischen Literatur hatte die SF keinen eigenständigen Platz, sie war lediglich kleiner Bestandteil der Jugendliteratur.  Während der Kulturrevolution waren wissenschaftliche Utopien dann gänzlich verpönt und es gab praktisch keine SF mehr in China.

Erst Ende der siebziger Jahre erlebte die SF in China wieder einen neuen Aufschwung. Jetzt wurden wieder viele ausländische Romane übersetzt. In der Mehrzahl handelte es sich um Werke amerikanischer Autoren, aber es gab auch Übersetzungen russischer, englischer, deutscher, japanischer, spanischer, bulgarischer und kanadischer Schriftsteller. Es gab auch neue chinesische Autoren, die sich rasch in zwei Lager teilten, die Verfechter "harter" bzw. "weicher" SF. "Weiche" SF stand dabei für eine stärker philosphisch, gesellschaftsorientierte Phantastik, "harte" SF stand hingegen für wissenschaftliche  Erzählliteratur mit belehrendem Charakter. Vorreiter der neuen Entwicklung war Ye Yonglie mit "Der seltsame Kuchen" aus dem Jahr 1976, in dem die Herstellung künstlicher Nahrungsmittel beschrieben wurde. Ab 1980 gab es einen regelrechten Boom. Mehrere Zeitschriften wie "Der Ozean der SF", "Der Baum der Weisheit"  und "Die Welt der SF" erschienen, die Szene bestand aus circa 140 Autoren, 50 Herausgebern, 50 Übersetzern und 20 Kritikern. Bekannte Werke aus dieser Zeit sind Tong Enzheng "Todesstrahlen von der Koralleninsel" aus dem Jahre 1978, das 1980 die Vorlage für den ersten chinesischen Science-Fiction-Film abgab. Hier geht es um Laserforschung, die durch ausländische Mächte zu Waffenzwecken missbraucht werden soll. Repräsentativ ist etwa auch Zheng Wenguangs "Flug zum Sagittarius". Ein ursprünglich auf dem Weg zum Mars befindliches chinesisches Raumschiff mit drei Jugendlichen an Bord wird durch Sabotage ausländischer Mächte auf einen Kurs zum Sagittarius gelenkt. Fast schon gesellschaftskritisch, auf jeden Fall gegen die Exzessse der "Viererbande" gewandt, war Yan Jiaqis "Religion, Ratio, Praxis" aus dem Jahr 1978. Gerichtshöfe der Inquisition, der Aufklärung und des damaligen China werden von einem quer durch die Epochen reisenden Berichterstatter zum Thema Wahrheitsfindung befragt. Dabei war die chinesiche SF dieser Zeit aber stets in ein enges Korsett gezwängt. An der bestehenden Staatsform durfte keine Kritik geübt werden, politische oder gesellschaftliche Alternativen waren tabu. Klare Grundlage für die SF war, dass sie eine reale wissenschaftliche Basis haben musste, Fantasy-Geschichten konnte es so nicht geben. Ausserdem hatte die SF technikbejahend zu sein, negative Utopien wurden nicht geduldet.

1984 wurden in der Zeitschrift für Literatur und Kunst (Wenyi Bao) folgende Ziele der chinesischen SF formuliert:  "wissenschaftliche Kenntnisse verbreiten und Aberglauben ausmerzen", "dialektischen Materialismus propagieren, Liebe zur Wissenschaft, das man sie lernt und anwendet, mutig den Geheimnissen der Wissenschaft nachspürt und ihre Gipfel erklimmt; Vaterlandsliebe, Liebe zum Volk, zur Arbeit und zum Sozialismus propagieren, dass man sein Leben der Durchsetzung der Vier Modernisierungen widmet." Diese Definiton erfolgte kurz nachdem Deng Xiaping 1983 eine Kampagne gegen "geistige Verschmutzung" ausgerufen hatte, die insbesondere die SF-Szene hart traf. Autoren, wie Ye Yonglie, Tong Enchang, Liu Xingshi und Xiao Jianheng, wurden gemaßregelt und nur noch "positive" Geschichten durften erscheinen.

Die SF-Geschichten dieser Zeit wurden von Männern mit wissenschaftlicher Ausbildung verfasst, waren in einem einfachen unkomplizierten Stil gehalten. Hauptpersonen sind meistens Wissenschaftler, Spannung entsteht durch Elemente aus dem Bereich Kriminal- oder Agentenstory. Katastrophenszenarios oder technikkritische Passagen sind nicht vorhanden. Patriotismus und populärwissenschaftliche Abhandlungen sind dagegen häufig anzutreffen. 

Die Spuren chinesischer SF in DeutschlandIn den neunziger Jahren erlebte die Chinesische SF wieder einen Aufschwung. 1991 und 1997 gab es internationale SF-Conventions in China und SF-World avancierte mit zeitweise 500 000 Exemplaren zum größten SF-Magazin weltweit.  Dort wurden nicht nur chinesische sondern auch ausländische Autoren veröffentlicht. Zielgruppe sind seit etwa 2000 aber wieder verstärkt jüngere Leser, was nicht ohne Einfluß auf die Qualität blieb. Jetzt wurde dort auch Platz für Fantasy geboten. Die chinesische Fantasy greift jedoch verstärkt auf die einheimischen Mythen und Legenden zurück.  Es scheint, als ob auch die Technikgläubigkeit und die strenge ideologische Reglementierung zurückgegangen sind. So äußerte sich Wang Jinkang, einer der popurlärsten chinesischen SF-Autoren so, "für Wissenschaft und Vorstellungskraft gibt es keine Grenzen, es ist die Aufgabe der Schriftsteller sie mit Philosphie und Gerechtigkeit zu versehen, um der SF eine praktische Bedeutung zu geben. Die schnelle Entwicklung der Wissenschaft treibt die menschliche Entwicklung voran, aber wenn die Wissenschaft zu weit geht und ohne ethische Anleitung bleibt, ist das genau so schlecht als wenn sie nicht weit genug voranschreitet." Erfolgreichster SF-Autor der letzten Jahre ist Liu Cixin, seine bekanntesten Romane sind "The Three Bodies", "Supernova Era" und "Lighting Ball". 

In Deutschland erschien 1984 im Wilhelm Goldmann Verlag in der Reihe "Edtion '84. Die positiven Utopien" als Band 12: Ye Yonglie/Charlotte Dunsing (Hrsg.), SF aus China. Dort findet man Stories von: Wei Yahua, Ye Yonglie, Tong Enzheng, Liu Zhaogui, Wang Xiaoda, Xiao Janheng, Liu Ji'an und Gu Junzheng.

Wu Dingbo
und Patrick P. Murphy veröffentlichten 1986 mit einem Vorwort von Frederik Pohl "SF from China" mit Beiträgen von Tong Enzheng, Wei Yahua, Ye Yonglie, Wang Xiaoda, Zheng Wenguang und Jiang Yunsheng.

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