Neblige Horror-Freuden – Englands klassische Schauer-Buchserie ist zurück
Neblige Horror-Freuden
Englands klassische Schauer-Buchserie ist zurück
Vor wenigen Jahren startete nun der ehrwürdige Verlag der British Library eine englischsprachige Serie mit ähnlicher Zielsetzung. Der Verlag hatte schon zwei großartige Taschenbuch-Serien mit Anthologien in den Bereichen Krimi und SF im Programm. Beide Reihen präsentierten (und präsentieren) thematisch Kurzgeschichten aus der goldenen Ära von ca. 1890 -1965. Hier findet sich etwa eine Zusammenstellung mit Mond-Geschichten im Bereich FS oder mit Krimi-Stories, die auf Schiffen spielen. Der Nachteil dieser Serien war (und ist), dass sie nur in den Händen je eines Herausgebers ruhen, die SF betreut Mike Ashley, die Krimi-Reihe Martin Edwards. Das hat den Nachteil, daß deren Auswahl natürlich bei aller Fachkompetenz immer persönlich bleibt und wir damit wichtige Geschichten nie zu sehen bekommen, weil die Herausgeber die Autoren nicht ausstehen können oder für trivial halten. Oder umgekehrt, müssen wir in der SF-Reihe technisch überladene und dröge Stories ertragen, weil Ashley zur Campbell-Schule gehört, die eine klirrende Schrauben-und-Muttern Revue einer gut erzählen Story oft vorzieht.
Bei der neuen „Tales of the Weird“-Reihe hat man diesen Fehler nicht gemacht; sie wird von unterschiedlichen Herausgebern betreut. Zwar hat auch hier der in der Phantastik-Szene bedauerlich überpräsente Mike Ashley seine Finger drin (komisch, dass sich noch keine Corona-Verschwörungstheorien um ihn ranken), doch sein immenses Wissen und vor allem seine im Horror-Fach weniger engstirnige Sichtweise hat ihn hier bereits echte Meisterwerke herausgeben lassen, etwa „Glimpes of the Unknown. Lost Ghost Stories“, wo er eine Parade von Glanzstücken präsentiert, von denen selbst Freaks noch nichts gehört haben.
Begonnen hat die Erfolgsgeschichte der Serie 2016 mit einem Versuchsballon – Eine Anthologie mit klassischen Mumien-Geschichten der goldenen Ära 1969-1910. Schon hier wird klar, daß der Fokus der in Frage kommenden Stories weiter gefaßt ist als bei SF oder Krimi, die Geschichte der großen Horror-Kurzgeschichte beginnt um 1860, und so umfassen die Anthologien insgesamt einen Zeitraum von etwa 100 Jahren (1865-1965). Hier schon, im ersten Band, war die Mischung gelungen, Herausgeber Andrew Smith stellte berühmte Stories (Conan Doyles „Los Nr. 249“) neben völlig unbekannte (W.G. Peasgood,“The Necklace of Dreams“).
Bedauerlich für den Sammler ist, daß erst nach diesem Test das neue Design der Reihe entworfen wurde, einfarbige psychodelische Skizzen auf schwarzem Grund, so daß dieser Band im Regal mit seinem knallgelben Rücken gegen die andern absticht. Aber es gibt Schlimmeres.
Inzwischen gedeiht die Reihe prächtig, oder genauer gesagt: Gedieh. Bis Corona kam. Von 2018 an bis Anfang 2020 kamen in erfreulich rascher Folge neue Bände heraus, und das Konzept entwickelte sich trefflich, ähnlich wie bei Suhrkamp entsteht eine Mischung aus klassischem, völlig Durchgeknalltem und Rarem, thematischen und Autoren-Athologien.
Vielleicht muß man nicht alles kaufen. Natürlich wird eine Anthologie mit Horror-Geschichten von Hodgson oder Blackwood den Kenner nicht gerade in Extase versetzen (hat er vermutlich schon, zum Teil auch gut übersetzt von Suhrkamp in Deutsch), aber wer käme auf: „Tales of the Tatooed – An Athology of Ink“ ? Selbst Nerds wie ich blättern fassungslos in diesem Band, dessen bekannteste und späteste Geschichte „Skin“ von Roald Dahl (1952) ist? Wer würde vermuten, daß sich mit Horror-Geschichten, die sich um Tattoos drehen, nicht nur ein Band füllen läßt, sondern sogar ein Band, der sich auf 1882-1952 beschränkt?
Wer hätte je von Stories wie Arthur Payson Terhunes „The Tattooed Eye“ (1920) oder T.W. Speights „The Green Phial“ (1884) gehört? Erstaunlich.
Andere Anthologien waren zwar erwartbar, wie „Evil Roots. Killer Tales of the Botanical Gothic“, doch die ausgewählten Erzählungen sind es zum Teil nicht. Zwar gibt’s auch hier Allzeitklassiker wie H.G. Wells „The Flowering of the Strange Orchid“ oder Hodgsons „The Voice of the Night“, aber ein frühes Exemplar fleischfressender Monsterpflanzen mit dem schönen Titel „Carnivorine“ war mir völlig unbekannt, ich habe diese Geschichte von Lucy H. Hooper aus dem Jahr 1889 für eine Übersetzung vorgemerkt, die sicher irgendwann mal in „Zwielicht“ erscheint.
Doch die unterschiedliche Betreuung der einzelnen Bände hat auch Nachteile. Die Ausgabe ist nicht gut koordiniert, und einige Geschichten tauchen in mehreren Ausgaben auf, was für Sammler eher ärgerlich ist. Auch kann ich für meinen persönlichen Geschmack auf allzu bekannte Klassiker verzichten, man kann davon ausgehen, daß derjenige, der sich ein Buch aus der Reihe kauft, die Allzeit-Kracher von Edgar Allan Poe, E.T.A. Hoffmann und Nathaniel Hawthorne schon irgendwo im Schrank hat. Aber vielleicht denke ich da zu speziell.
Angekündigt für dies Jahr waren neue originelle Bände, leider wurden sie mit dem Ausbruch der Corona-Epidemie auf den Herbst und und in das nächste Jahr verschoben. Doch nun geht es endlich weiter, und der erste Band nach der Zwangspause, erschienen am 1. September, ist wieder ein Prachtstück: Diesmal steht Englands Metropole im Zentrum. „Into the London Fog – Eerie Tales from the Weird City“. Nicht nur die Klassiker machen dem Band Ehre („The Lodger“ von Marie Bedloc Lowndes wurde später von Hitchcock verfilmt und von der Autorin später zu einem der ersten Jack-the Ripper-Thriller ausgeweitet), es gibt auch wieder echte Raritäten wie The Telegram“ von Violet Hunt (1911) und – (das muß man erst mal hinkriegen) einem unbekannten Text von Virginia Woolf (Street Hunting).
Toll an dieser Serie – und damit der Suhrkamp-Reihe sogar etwas überlegen: es gibt nicht nur ausführliche Vorworte, auch alle einzelnen Geschichten der Bände sind in der Regel mit einer Einleitung versehen (außer es sind Einzelautoren-Anthologien). Angekündigt sind weitere spannende Bände – hoffentlich geht dem Verlag sobald nicht die Luft aus. Ich freue mich schon auf den Band mit Wald-Horror-Geschichten und die Gruselstorys aus Frauenhand.
Allgemeine Anthologien:
Einzel-Autoren:
Kommentare
ich schätze sie noch immer ... und habe (fast) alle Bände.