Alles, was wir geben mussten - Never let me go

Never let me go

Ist der Film Romanze oder Drama? Eigentlich beides, aber zudem einer der ungewöhnlichsten Science-Fiction-Filme der jüngeren Zeit. Der Zuschauer lernt drei Freunde kennen, die in einer längst vergangenen Zeit auf dem englischen Land leben und aufwachsen. Diese längst vergangene Zeit ist eine, die es nie gegeben hat. Sie beginnt 1952 und endet 1984. Auch wenn sich das Schicksal der Kinder und späteren Erwachsenen schnell offenbart, beschreibt der Film nicht unbedingt eine Dystopie. Indem sich Drehbuch und Romaneks Inszenierung auf die charakterliche Entwicklung der Figuren konzentrieren, wird die Moral der sozialen Utopie nicht hinterfragt. Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Gesellschaft überlassen die Filmemacher vollständig dem Zuschauer.
Die Welt, in der die Freunde Kathy, Tommy und Ruth leben, wirkt wie ein einziger Anachronismus. Die Orientierung anhand der Jahreszahlen wirkt nur noch verstörender. Der medizinische Fortschritt, die gesellschaftliche Ordnung, Kleidung, die elektronische Ausstattung oder die unverrückbare Akzeptanz des Schicksals, alles will nicht so richtig zusammenpassen. Und doch ist alles stimmig, weil der Film damit eine Grundstimmung erzeugt, die den Zuschauer stets fordert. In einer Szene gibt es im Internat einen Basar, auf dem sich die Kinder von ihrem kargen Taschengeld etwas kaufen können. Es ist eine bizarre Szenerie, wie freudig erregt die Schüler auf ausrangiertes Spielzeug oder nutzlos gewordene Gebrauchsgegenstände reagieren.
Ständig bewegen sich die Figuren in ländlichen und kleinstädtischen Idyllen, doch die Farben wirken ausgeblichen. Das Idyll trügt nur die Figuren, nicht das Publikum. Es ist eben ihre Welt, mit einem Leben, das sie bedingungslos akzeptieren. Natürlich wirft in einer normalen Filmwelt diese bedingungslose Akzeptanz Fragen auf, doch nur, weil dem geneigten Zuschauer ein Blick von außen gewährt wird, aus einer alternativen Welt, welche den Figuren innerhalb dieses bizarren Anachronismus unbekannt ist.
Was Kathy, Tommy und Ruth allerdings hinterfragen, ist ihre Beziehung zueinander. Es ist das zentrale Thema des Films. Liebe, Vergebung und Hoffnung. Die Freundschaft zerbricht, aber nur dem Anschein nach. Denn durch ihr vorherbestimmtes Schicksal bleibt ihre Liebe bestehen und wirkt die Vergebung selbstverständlich. Und es weckt Hoffnung, Hoffnung auf etwas, das nicht sein kann, weil es in dieser anderen Welt unnatürlich wäre.
Einer der schönsten Einfälle in dieser Geschichte ist die sogenannte Kunstgalerie. Während ihrer Internatszeit müssen die Kinder in regelmäßigen Abständen Bilder malen. Eine französische Sachverständige begutachtet anschließend die Werke und nimmt sie mit, die besten Gemälde werden angeblich in einer Kunstgalerie ausgestellt. Erst später im Leben glaubt Tommy zu erkennen, dass die Gemälde nicht in einer Galerie ausgestellt, sondern als psychologisches Profil ausgewertet werden. Tommy beginnt exzessiv zu malen, aber auch dabei geht es nicht darum, dem Schicksal entgegenzuwirken, sondern das Leben an sich zu gestalten.
Auch wenn NEVER LET ME GO ein sehr ruhiger Film ist, ist er kein langsamer Film. Er ist stimmungsvoll und auf den Punkt fotografiert. Und mit diesen Darstellern hätte Mark Romanek nicht besser drehen können. Verblüffend sind Meikle-Small, Rowe und Purnell als die jungen Pendants von Mulligan, Garfield und Knightley. Doch der Film ist auch zutiefst traurig. In dieser ergreifenden Melancholie ist es ein sehr schöner, sehenswerter Film. Mark Romanek spielt mit den Erwartungen des Zuschauers. Als Einstieg zeigt er, wie der Film enden wird. Er zerschlägt Hoffnungen, um sie nach und nach wieder aufkeimen zu lassen, so wie es den Filmfiguren ergeht. Aber Kathy, Tommy und Ruth kennen ihr Schicksal, ihr Anliegen ist lediglich, ihre Beziehung untereinander in Ordnung zu bringen, sich ihrer Zuneigung bewusst zu werden und mit dem Bewusstsein dieser Beziehung wirklich gelebt zu haben.

Darsteller: Carey Mulligan, Andrew Garfield, Keira Knightley, Charlotte Rampling, Sally Hawkins, Izzy Meikle-Small, Charlie Rowe, Ella Purnell u.a.
Regie: Mark Romanek Drehbuch: Alex Garland, nach dem Roman von Kazuo Ishiguro Kamera: Adam Kimmel Bildschnitt: Barney Pilling Musik: Rachel Portman Produktionsdesign: Mark Digby zirka 102 Minuten - Großbritannien / 2010