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Die Hand von Saint Ury (The Hand of Saint Ury, 1951)

StoryDie Hand von Saint Ury
(The Hand of Saint Ury, 1951)

1.
Unser junger Held, Jimmy Duck, präsentierte seine Anzeige im Büro der Londoner Times.

GESUCHT! EXPERTE, ERFAHREN IN DER AHNENFORSCHUNG. Mr. DUCK, HOTEL CECIL.

Das Mädchen hinterm Schalter lächelte. Jimmy brauste sofort auf. „Mein Vorname ist nicht Donald!“

Das Mädchen wirkte beleidigt. Ihr Lächeln war eher ein Tribut an Jimmys Erscheinung gewesen, und er war wirklich ein gutaussehender Typ mit seinen dunklen Haaren und ernsten Augen. Selbst der ärgerlich verzogene Mund konnte seine Attraktivität nicht beeinträchtigen.

„Glauben Sie, ich bin zum Spaß hier?“ fauchte Jimmy herausfordernd.

„Aber nein!“ versicherte das Mädchen hastig. „Tausende Amerikaner kommen hier rüber, um ihre Familiengeschichte zu erforschen. Meistens, weil sie hoffen, einen alten Adelstitel zu finden – oder zumindest ein Familiengespenst.“

„Ach, so viele?“ grummelte Jimmy. „Tsiss...Antiken Familien nachjagen ...Ich jag lieber Antiquitäten nach.“

Was er dann auch stehenden Fußes tat.

Es war am etwas verwunschenen Ende einer Gasse in der Nähe der Marrowbone Road, als er auf einen ebenso verwunschenen Kuriositätenladen stieß, der direkt aus Dickens' berühmten Roman hätte stammen können. Mit seinem zerschrammten Ladenschild und den dicken Spinnweben vor den Butzenscheiben war er einfach perfekt – und im wahrsten Sinne des Wortes so, wie er im Buche stand.   

„Bah! Bestimmt künstlich!“ Jimmy hatte mal zugesehen, wie Spinnweben für einen Hollywood-Film hergestellt wurden. „Aber sehr einladend zum Stöbern“.

Und genau so einen Gedankengang hatte der Besitzer wohl auch vom Betrachter seines Ladens erwartet. Er sah jedenfalls wenig überrascht über den Rand seiner Brille, als Jimmy eintrat und krächzte rauh, aber herzlich: „Sagen Sie einfach Bescheid, wenn was sehen, das Sie interessiert.“

Und er fuhr fort, an der Sorte ausgewähltem Plunder herumzuzupfen und herumzupolieren, wie man ihn in solch einem Laden vorzufinden erwartet. Ein schabendes Kratzen auf einem Regalbrett über ihm ließ ihn nervös aufblicken. „Verdammte Viecher! Soweit hoch klettern sie normalerweise gar nicht...“

Bald aber war er wieder in seine Tätigkeit vertieft.

Es dauerte nicht lange, bis Jimmy einen kleinen Krug auf den Ladentisch stellte. „Was wollen Sie für die Majolika-Keramik haben?“

Der alte Mann wirke gnatzig, aber ehrlich. „Tja, nun, Sir, ich würde Sie natürlich nie im Leben übers Ohr hauen wollen! Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass das Ding echt ist. Sehen Sie hier...“ Das Schaben und Kratzen über ihnen lenkte ihn ab. „Selbst wenn ich hundert verdammte Fallen aufstellen würd', ich würd diese Mistviecher nicht kleinkriegen! Dachte, ich wär sie los – hab sie nie so frech erlebt wie heut'!“ Er drehte den Krug in seiner Hand, als einige Gegenstände über ihm heftig zu klirren begannen und ein greuliches Ding mit einem Plop auf dem Ladentisch landete. Jimmy schreckte angewidert mit verzerrter Miene zurück. Dieses Ding war eine menschliche Hand! Alt und ausgedörrt, die Finger auf ekelerregende Weise krallenartig gekrümmt, so als befände sich ihr Besitzer im Todeskampf. Eine feine Schicht von Spinnweben umhüllte die seltsam verdrehten Fingerspitzen. Besonders entsetzlich war ein Ring, der am ersten Glied des verwelkten Zeigefingers rasselte und dort nur durch die dickeren Fingerknöchel festgehalten wurde. Es schien ein Siegelring zu sein, in dem zwei winzige rote Steine steckten, die wie kleine böse Schlangenaugen funkelten. Als Jimmy zurückwich, stupste der Besitzer das Ding behutsam an. „Kann auch nicht behaupten, dass ichs besonders gerne mag, Sir. Fieses kleines Teil, nicht?“

„Was – was zum Teufel ist das?“ fragte Jimmy. „Ich meine, woher...“ Im Laden war es plötzlich muffig und stickig. Jimmy zog seinen Mantel aus und legte ihn über den Tresen. „Wo in aller Welt haben Sie sowas aufgetrieben?“

„Das ist angeblich die Hand von Saint Ury, Sir! Keine Ahnung, ob das stimmt. Das Loch in der Mitte soll ne Art Stigma sein, und das macht sie heilig, wissen Sie? Aber wenn Sie mich fragen“, schnaubte der Mann mit einer desillusionierten Kaltblütigkeit, die nur ein Antiquitätenhändler aufbringen konnte, „hat da einfach einer nen Nagel durchgekloppt.“

Jimmy schauderte angewidert. Er ließ den Krug dort stehen, wo er war und wandte sich dem entfernteren Teil des Ladens zu, um andere Dinge in Augenschein zu nehmen.  Doch das gruselige Objekt schwebte ständig vor seinem geistigen Auge. Es wirkte anklagend wie das Körperteil eines Kriegsopfers, für dessen Tod er indirekt verantwortlich war – vielleicht durch das Abfeuern einer Granate. Er konnte sich gut vorstellen, wie solch ein Gliedmaß, voller Haß auf Gott und die Welt, infernalische Rache an ihm plante. Plötzlich hatte er keinen Spaß mehr am Herumstöbern.

„Ich denke, ich gehe jetzt,“ sagte er laut. „Und komm vielleicht ein andermal...“

Der Besitzer war dabei, diversen Krimskrams in die Regale zu dem andern Schnickschnack zu stopfen. „Kein Problem, Sir. Schön, dass Sie reingeschaut haben.“

Jimmy nahm seine Jacke und ging. Er war kaum um die Ecke, als er Fußschritte hinter sich trappeln hörte – und da stand er plötzlich vor ihm, der Besitzer, keuchend und stinkwütend.

„Geben Sie mir die Hand zurück, junger Mann“, fauchte er, „Oder ich hole die Polizei!“

Jimmy prallte zurück. „Was meinen Sie mit der Hand? Sie glauben doch nicht allen Ernstes, ich würde dieses eklige Ding auch nur anfassen?“

„Sie habens aber getan, Freundchen! Oh, ich habe Typen wie Sie schon früher im Laden gehabt! Da lag sie eben noch – und dann waren Sie weg und die Hand auch. Sie mit Ihren tiefen Taschen...“ Er sprang auf ihn zu, vergrub die Hände in seinen Manteltaschen, und tatsächlich! Aus einer von ihnen fischte der das gräßliche Objekt.

Jimmys Magen hob sich. Sein Mund öffnete sich zum Protest – und schloß sich wieder, als ihn die Übelkeit fast überwältigte.

„Na, was haben wir denn da?“ triumphierte der Besitzer. „Ich verdammten Yankees schreckt vor nichts zurück, wenns um Londoner Souvenire geht, was? Ein Pfund will ich dafür!“

„Ein Pfund für die olle Hand?“

„Nee, nicht für die Hand, als Strafe für den Diebstahl! Die Hand nehm ich schön wieder mit!“

„Das...ist Erpressung!“ Jimmy dämmerte es jetzt. Uralter übler Trick. Pack irgendwelchen Mist in die Taschen deiner Kunden, wenn der Laden nicht läuft, und dann mach Krawall wegen Ladendiebstahl.

„Ein Pfund!“ Der Besitzer hielt ihm eine Hand hin – in diesem Fall seine eigene.

Tja, was konnte Jimmy tun außer bezahlen? Er war geschäftlich hier, er konnte seine Zeit nicht mit einer dämlichen und beschämenden Anklage wegen Ladendiebstahl vor Gericht verschwenden.

Er ging in sein Hotel zurück, mehr verärgert über diese alberne Angelegenheit, als sie es eigentlich verdient hätte. Was ihn natürlich noch mehr verärgerte.

Nachts wälzte er sich hin und her und träumte von vertrockneten Händen, die wie riesige haarige Spinnen über sein Bett krabbelten.

2.
Nach einem fantastischen Frühstück mit Räucherhering auf Toast und Porridge wurde er unaufdringlich von einem dieser uniformierten Blechknopfheinis des Hotels angesprochen (und nicht etwa wie in Amerika durchdringend angeschrien).  Der Angestellte beugte sich diskret über seinen Tisch.

„Eine Lady möchte Sie sprechen, Sir.“

„Eine Lady? Ich - ich glaube nicht, das ich hier in London irgendwelche Ladies kenne.“

„Sie bezog sich auf eine gewisse Anzeige von Ihnen, Sir.“

Jimmy trabte etwas unsicher zur Lobby. Eigentlich hatte er erwartet, daß auf das Inserat hin irgendein männlicher Experte aufkreuzen würde, der sein Handwerk verstand. Doch sehr bald war er froh, dass er damit falsch lag. Ein wirklich entzückender Anblick erwartete ihn – eine junge Frau, geschmackvoll gekleidet in etwas, das eine klasse Figur hervorhob, mit lebhaften Augen in einem frischen runden Gesicht, kecker Stupsnase und vollen Lippen.

„Ich hab mich beeilt, weil ich die erste sein wollte!“ Sie lächelte ihn unbefangen an. „Denn, ehrlich gesagt – ich brauch den Job. Und die Konkurrenz in meiner Branche ist brutal!“

„Ah?“ machte Jimmy. „Sind Sie...äh ich meine, kennen Sie sich aus mit diesem ganzen schrecklichen Zeug, Ausgraben von toten Verwandten und so?

„Natürlich, Mister Duck. Ich habe ein Zertifikat von der Fachschule für Heraldik.“ Sie fischte diverse Papiere aus ihrer Handtasche. „Wir sind versiert auf allen Gebieten der Ahnenforschung. Sie wollen, nehme ich an, feststellen, ob hier in England Vorfahren von Ihnen gelebt haben, oder?

Jimmy fühlte sich plötzlich sehr albern. „Es geht um meinen Vater... seinen Namen, wissen Sie? Wie in einem Comicbuch. Naja, mein Vater glaubt, kein Mensch im wirklichen Leben hätte sich freiwillig Duck genannt. Oder nennen lassen. Er denkt, da muß irgendwas im Laufe der Jahre durcheinandergeraten sein in unserer Linie. Er hat inzwischen so viele Sticheleien gehört, das er dabei ist, einen Komplex zu bekommen....“

„Gewiß. Verstehe vollkommen. Und Ihr Vater könnte recht haben! Tausende Entstellungen sind während des Mittelalters an Nachnamen vorgenommen worden, vermutlich wegen des hohen Analphabetismus. Oft wurden sie Schreibern oder Sekretären genannt, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie man die mündlich vorgetragenen Namen buchstabiert, und dann folgte die Aussprache wiederum der falschen Niederschrift. Wir haben alte Bücher und Aufzeichnungen über diese Dinge.“

„Hm. Sie scheinen sich ja wirklich auszukennen damit. Dann fühlen Sie sich der Aufgabe gewachsen?

Das Mädchen lächelte zuversichtlich. „Deswegen bin ich hier!“ Und dann, etwas zaghafter: „Ähm, wir werden üblicherweise nach Tagen bezahlt, plus Spesen.“

„Jimmy fühlte sich plötzlich sehr erleichtert bei dem Gedanken, daß es außer ihm noch weitere Menschen gab, die dringend wünschten, er hieße anders – wenn auch aus anderen Motiven.

„Oh, natürlich. Sie brauchen einen festen Tagessatz oder etwas in der Art.“

Auf ihrem Gesicht erschienen zwei hinreißende Grübchen. „Ja, ich den brauche ich wirklich. Ich werde sofort ins Museum gehen und schon bis morgen einige Informationen für Sie ausgegraben haben. Sie könnten in der Zwischenzeit auch was Nützliches tun.“

„Zum Beispiel?“

„Die Zeitung anrufen und die Anzeige rausnehmen lassen. Okey? Cheerio!“

3.
Jimmy holte sich die Times, um die Telefonnummer herauszusuchen – und die alptraumhafte Story von gestern starrte ihm entgegen.

AMERIKANER BEIM LADENDIENSTAHL ERWISCHT!

Der Schreiberling war fähig, Jimmys beschämendes Erlebnis durch die Brille eines etwas an den Haaren herbeigezogenen britischen Humors zu sehen. Doch selbst durch diese Brille erschien ihm die Geschichte noch ziemlich übel. Ja die Sache war noch schlimmer, als er gedacht hatte:

„..So scharf war dieser schräge Vogel auf die antike Hand, dass er anscheinend in derselben Nacht zurückkehrte und in den Shop einbrach, um sie zu bekommen. Dennoch bleibt die Angelegenheit mysteriös. Laut Polizeibericht war nur eine der kleinen Butzenscheiben zerbrochen. Doch der seltsamste Teil der Geschichte ist der, dass die zerschlagenen Scherben außen lagen! Fast so, als ob dieses Ding sich auf den ersten Blick in ihn verknallt hätte und ihm voller Sehnsucht hinterhergekrabbelt wäre. Und wen wunderts? Heilige Hände, so steht es schon in der Bibel, haben bekanntlich noch viel erstaunlichere Tricks drauf...“

Was für ein schwachsinniger Einfall! Ein Ding wie das und verknallt...

Plötzlich wurde Jimmy von der unerklärlichen Furcht davor befallen, in seine Tasche zu greifen und dort auf das hornige Ding zu stoßen, das sich leidenschaftlich um seine Finger schließen würde.

Auch kam ihm mit einer gewissen Logik in den Sinn, dass er jetzt ein flüchtiger Schurke geworden war, dessen Bewegungen fortan von luchsäugigen Scottland-Yard-Schergen verfolgt werden würden. Allerdings fand sich in dem Artikel keine Beschreibung von ihm. Er atmete auf. Schließlich hatte dieses Ding ja auch keinen großen Wert. Es hatte verstaubt auf einem Regalbrett gelegen, und das, wie die Spinnweben deutlich bewiesen, wahrscheinlich seit vielen Jahren, bevor es dort oben heruntergesprungen war, und...“

Jimmy sprang plötzlich auch, nämlich von seinem Stuhl auf. Er schaute gehetzt um sich. Das da oben auf dem Regal gestern – das waren keine Ratten! Wenn das Ding nicht mit eigener Willenskraft heruntergesprungen war, wie konnte das ekelhafte Etwas dann in seine Manteltasche schlüpfen? War es wirklich möglich, daß es hier derartige spukende Monstrositäten gab, in diesem uralten Land mit seinen archaischen Traditionen...?  

Aus einem wahnwitzigen Impuls heraus raste Jimmy in sein Zimmer, um erneut seine Manteltaschen zu durchstöbern. Nein, Gottseidank! Jimmy grinste sich verlegen vor sich hin. Was für ein idiotischer Gedanke! Aber das biestige Ding hatte einen so grausligen Eidruck auf ihn gemacht... Auf wen nicht, wenn er so etwas in seiner Tasche gefunden hätte? Dann wanderten seine Augen durch den Raum und blieben an seinem Koffer hängen. Vielleicht...er stürzte sich auf das Gepäckstück. Nichts... Verdammt, die ekelhafte Phantasie des Reporters hatte Besitz von ihm ergriffen! Er stand auf und begann, jeden einzelnen Gegenstand auf seinem Bett zu genau zu mustern. Endlich gab er sich erleichtert zufrieden. Er zündete sich eine tröstende Pfeife an und setzte sich, um sich eine einigermaßen vernünftige Theorie zusammenzubasteln. Die logischste war, dass der Ladenbesitzer, offensichtlich ein boshafter alter Spinner, einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte und in seiner Wut die Hand durch seine eigene Fensterscheibe geworfen hatte. Und dann, seinen Ausbruch bereuend, war er herausgegangen, um den Köder für seinen listigen Kundentrick wieder hereinzuholen, um mit ansehen zu müssen, wie irgendeine streunende Katze oder etwas in der Art sich das Ding geschnappt hatte und davongeeilt war. Vermutlich war er zu beschämt gewesen, sein albernes Verhalten der Polizei gegenüber zuzugeben.

Blöder Schwachkopf, schimpfte Jimmy laut vor sich hin. Aber was solls, ich ich bin selber einer. Dieses Rumgraben in der toten Vergangenheit macht einen ja ganz morbid. Bloß...huaahh...Was für ein Erlebnis!

Am nächsten Morgen kam das Mädchen, triumphierend und berstend voller Neuigkeiten. „Sie haben mich noch nicht mal nach meinem Namen gefragt!“, warf sie sich selbst und ihm in einem Atemzug vor. „Und ich war so aufgeregt in der Vorfreude auf das viele Geld, das Sie mir versprochen haben, dass ich den ganzen Weg hierher gerannt bin. Ich bin Eula Bogue.“ Ihre Grübchen zeigten sich. „Früher hieß es mal Boggs, wie ich rausgefunden habe. So bin ich zu meinem Job gekommen. Ach, ich habe einen Haufen Neuigkeiten! Setzen Sie sich und schauen Sie sich das an!“

In einer sehr geschäftlichen Manier breitete sie einen Haufen Notizblätter auf dem Tisch aus. „Überspringen wir gleich mal meine frühen falschen Ansätze. Schauen wir gleich auf das, was uns definitiv weiterbringt. Und das hier bringt uns weiter, nämlich in die ferne Vergangenheit! Es scheint da einen angelsächsischen Namen gegeben zu haben, Dork, oder Dawk, oder Dock, geschrieben in verschiedenen Varianten. Meistens im Norden Englands.“

Jimmy pfiff. „Wow! So weit zurück? Dad wäre begeistert. Und es könnte sein, dass dieser Name...sich dann verwandelt hat in...Duck?“

„Oh, sehr wahrscheinlich sogar! Weitergetragen durch die sehr ungebildeten Puritaner, als sie emigrierten, wissen Sie? Und hier ist etwas noch viel aufregenderes. Oben in Cumberlandshire gibt er einen kleinen Ort mit dem Namen Dockbridge, anscheinend der Heimatsitz der Familie, und dort steht eins dieser schrecklich alten Herrenhäuser, das später umgebaut wurde, und nochmal umgebaut und dann nochmal, und das ist voll mit Ratten und klapprigen Fenstern und einer vermoderten Bibliothek und einer Haushälterin und – man kann es mieten!!!“ Sie sprudelte den ganzen letzten Satz in einem Atemzug hervor.

Jimmy wurde allmählich von ihrer Begeisterung angesteckt. „Sie meinen, wir können da hin und in der Bibliothek rumwühlen?“

„Klar! Das heißt, wenn Sie selbst... also alle Amerikaner sind doch reich, oder? - Also wenn Sie es sich leisten können, den Kasten zu mieten – für eine Woche oder so...

„Jeu!“ machte Jimmy. „Eine Forschungsreise in die Geschichte! Ich werde Daddy kabeln, daß wir eine heiße Spur haben. Na dann – nichts wie hin!“

4.
Dockbridge Manour House war nicht ganz so, wie Eula es beschrieben hatte. Der moderne Teil stellte sich als rattenlos heraus und besaß sogar ein Badezimmer. Das Anwesen war auf einem Hügel erbaut worden; offensichtlich hatte es früher auch einen Burggraben gegeben, der sich nun in einen eingesunkenen ungepflegten Garten verwandelt hatte, in dem wenige nützliche Pflanzen und viel Unkraut wuchsen. Es gab bröckelige Mauern und einige moosüberwachsene Trümmerhügel, auf denen jemand vor langer Zeit Steingartenexperimente durchgeführt hatte, um das Ganze dann irgendwann aufzugeben. Im gegenwärtigen schlichten Zustand war es zu kostspielig, das Anwesen komplett zu sanieren, und so wartete es hoffnungsvoll auf einen Mieter.   

Die Haushälterin, eine hagere Dame, in geisterhaftes Grau gekleidet, hatte so lange in Übereinstimmung mit den alten Konventionen gelebt, dass sie nur einen sehr strengen und abschätzigen Blick für die jungen Störenfriede übrig hatte.

„Ich bin Mrs. Medford“ stellte sie sich vor. „Und sie können in mir getrost so etwas wie die Anstandsdame sehen. Wenn also der junge Mann so freundlich wäre, das Gepäck aufzunehmen, werde ich Ihnen Ihre Zimmer zeigen. Ihre getrennten Zimmer, versteht sich.“

Und tatsächlich präsentierte sie ihnen zwei weit auseinanderliegende Räume, die an den äußersten Enden eines rechtwinkligen Korridors gelegen waren. Sie selbst schien ebenfalls auf diesem Flur zu hausen.

„Sollten Sie Hilfe benötigen, Miss – ich höre Sie rufen.“

„Aber...was für eine Idee!“ Eulas Gesicht flammte rot auf.

„Oh, ich meine nicht ihn! Obwohl ich ihm an Ihrer Stelle nicht über den Weg trauen würde. Wir wissen schließlich, was diese gutaussehenden jungen Yankees so anrichten können – seit der letzten Invasion 1944. Nein, es ist nur so, dass der Geist vom alten Sir Harry hier in den mondlosen Nächten zu miauen pflegt. Das ist der greise Stallmeister von Prinz Charlie, der lebte, als es noch das alte Haus gab, das auf diesen Grundmauern stand.“

Eula lachte vergnügt. „Bei meinen vielen Recherchen (als hätte sie 20 Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel!) ist mir noch nie ein Geist begegnet!“

Die Geringschätzung der Haushälterin sank noch einige Etagen tiefer. „Ihr modernen Leute habt keinen Respekt vor so etwas. Aber ich sehe ihn!“

Jimmy starrte sie an. Er hatte sich das Starren bei all den vielen Überraschungen der letzten Tage zur Gewohnheit gemacht. Aber Mrs. Medford schien überraschte Leute gewöhnt zu sein. Sie fügte hinzu: „Sie, Sir, werden das Miauen und Gerumpel auf Ihrer Seite nicht hören. Sie schlafen über der alten Kapelle. Deswegen sind Ihre Fenster auch vergittert.“

Jimmy sah Eula fragend an, als ob sie sich mit allen Gebräuchen eines alten britischen Herrenhauses auskennen würde. Doch es war die Haushälterin, die eine logische Erklärung anbot.

„Weil diejenigen, die keine Gebete sprechen, dort regelmäßig verrückt werden und aus dem Fenster zu springen pflegen. Ich serviere das Dinner bei Einbruch der Dunkelheit, Sir und Madame. Wir kleiden uns zum Essen nicht mehr um – heutzutage.“ Sie marschierte ab, um sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern.

„Was für ein Auftritt!“ Jimmy flüsterte, ohne es zu merken.
Eula kicherte. „Ich glaube, die arme Seele ist selbst bißchen gaga – so allein hier in dem vergammelten alten Kasten. Naja, die Bibliothek könnte pures Gold enthalten. Wir werden morgen graben.“

Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4 (24.06.2019)

Anmerkungen: Gordon MacGreagh: The Hand von Saint Ury (Weird Tales 1951)

Kommentare  

#1 mammut 2019-05-22 16:19
Schöner Einstieg. So eine Geschichte ist auch immer eine Zeitreise. Freue mich schon auf den nächsten TeilTeil.
#2 mammut 2021-06-12 11:55
Wer es lieber gedruckt mag, die Geschichte ist in Fantastic Pulp 1 erschienen:
blitz-verlag.de/index.php?action=buch&id=2443

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