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Die Hand von Saint Ury (The Hand of Saint Ury, 1951) - Teil 4

StoryDie Hand von Saint Ury
(The Hand of Saint Ury, 1951) - Teil 4

12.
Jimmy sagte es dem Wachmann nicht gleich am Morgen. Weil da nämlich kein Wachmann mehr war. Ein widerliches Gefühl der Frucht ließ Jimmys Körperhaare sich kerzengrade aufrichten, als er das Grundstück durchstreifte, immer in der Erwartung, einen schlaffen Körper mit schwarzem Gericht irgendwo unter einem Busch oder einer dunklen Ecke mit zerbröselndem Mauerwerk zu finden.

Keine (Gott sei Dank!) Handspuren. Große plattfüßige Stiefelspuren. Der Mann war hier wacker auf- und abpatrouilliert. Und doch war er vollkommen verschwunden.
„Also – dieses Teufelsding kann doch keinen Mann komplett dematerialisieren, oder?“ fragte Jimmy den Experten, als er mit ihm und Eula die Tagesplanung besprach. „Oder gibt’s da etwas, das wir dringend wissen sollten?“
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Neinnein. Ich bin mir sicher, die Gefahr ist ganz und gar physischer Natur.“
„Ich vermute mal, er hat das Viech gesehen und ist nach Amerika emigriert.“
In diesem Moment tauchte Mrs. Medford aus dem Nicht auf und sprach   ihr legendäres „Ahhh!“. Und fügte hinzu: „Schauen Sie in den Kartoffelkeller!“
„Oh nein!“ Das kam von allen dreien gleichzeitig. „Sie hatten doch nicht schon wieder eine Ihrer Horror-Visionen?“
„Keineswegs, Sirs und Madam. Aber ich kenne diese Wachmann-Typen. Ich wette, er ist in den Kartoffelkeller gegangen, um nach einem kühlen Bier zu suchen. Die meisten Leute in dieser Gegend sind ständig auf der Suche nach Bier und benehmen sich deswegen oft etwas – ähem - irregulär. Warum sonst hätte er seinen guten Job am Gefängnis aufgeben müssen? Können Sie mir das verraten?“
„Ich geh runter“, verkündete Jimmy in das Schweigen hinein.
„Sei bloß vorsichtig!“ rief Eula erschrocken.
„Einen Moment noch!“ wiegelte der Doktor ab. „Mir kommt da eine Idee...ich muß dringend etwas in diesen alten Schwarten nachschlagen...es wird nicht lange dauern.“
Doch Jimmy war zu angespannt und ungeduldig. „Ich werde meinen kleinen 'Disintegrator' mitnehmen“!, verkündete er grimmig. „Und eine Taschenlampe. Ich habe selbst eine Idee, und außerdem kann es sein, dass der Mann dringend Hilfe braucht.“
„Schön! Wenn Sie irgendetwas finden, rufen Sie“, gab der Doktor nach, offensichtlich zwischen Forschungs- und Tatendrang hin- und hergerissen.
Tatsächlich entdeckte Jimmy flache Stiefelspuren, die direkt in den Keller führten. Als sie dem Eingang näher kamen, waren nur noch die Zehenspitzen zu sehen. Die große Tür stand offen. Jimmy starrte die abgenutzten schleimigen Stufen hinunter. Er rief. Lauschte hoffnungsvoll auf den Atem eines Betrunkenen. Die einzige Antwort war das langsame mahlende Knarzen der Tür während einer Windböe. Es erinnerte ihn an ein altes Horror-Hörspiel. Fluchend klemmte er einen Pflasterstein unter die Leiste. Sich vorlehnend, sah er die Stiefelspitze auf der schlammigen Schwelle und, logischerweise, auch auf der ersten Stufe. „Idiot!“ grummelte er und stieg behutsam hinab, vorsichtig die glitschigen abgeschabten Steinplatten sondierend.
Nichts war im Keller. Es war derselbe düstere feuchte Ort, den er das letzte Mal gesehen hatte, säuerlich riechend, allerdings nicht nach schalem Bier, sondern gehortetem Gemüse. Diesmal feuerte er nicht hysterisch auf raschelnde Ratten. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe langsam über die Tonnen und die dunklen Lücken dazwischen gleiten. Nichts.
Oder doch? Da war noch eine weitere Tür. Grün in der moosigen Mauer, so dass er sie fast übersehen hätte. Der Schein der Lampe hätte sie wohl selbst kaum enthüllt, wären ihm nicht die helleren Reflexionen an Schwelle und Scharnieren aufgefallen. Jimmy trat näher. Und wahrhaftig – das schwammige Grünzeug war an diversen Stellen mit einem stumpfen Gegenstand weggekratzt worden, als ob jemand es von den uralten verwachsenen Trümmern befreien und die Öffnung freilegen wollte. Und da, auf der Schwelle, lag das Werkzeug – der splitterige Teil einer Holzlatte, vermutlich von einer Laube draußen im Garten.
„Ich frage mich...“ murmelte Jimmy laut vor sich hin, „ich frage mich, ob er gedacht hat, dass das Ding hier drin ist...?“
Ein grünspanverfärbter Messing-Türknauf zog seine Hand magisch an. Mit Leichtigkeit konnte der Tür zu sich aufziehen. Drinnen herrschte klamme Dunkelheit. Er stand unentschlossen im Türrahmen und leuchtete mit seiner Lampe hierhin und dahin. Auch dort standen wieder Tonnen herum – oder genauer gesagt, es gab jede Menge Eichenregale, und in den Eichenregalen befanden sich Eichentonnen. Ungewöhnlich lange schmale Eichentonnen. Eher Eichenkästen...
Eine vage Ahnung kroch Jimmy den Rücken ins Hirn hinauf, was das hier wohl für eine Art „Lager“ sein mochte. Seine Nase kräuselte sich, unsicher schnüffelnd, als er sah, dass von einem der Kästen der Deckel seitlich-schief herunterhing. Der weißliche Schein, der durch den Schlitz im Strahl der Lampe reflektiert wurde, konnte nichts anderes sein als ein Knochen.
„Alter Schwede -Eine Krypta!“ Jimmys natürlicher Impuls ließ ihn zurücktaumeln. Dabei huschte sein Lampenlicht über einen Körper am Boden. Kein Skelett! Die zusammengekrümmte Gestalt war unverkennbar der Wachmann!
Der rauhe Ärmel des Wächters bewegte sich schwach.
„Oh Gott!“ Jimmy stürzte hin und beugte sich hinunter, um ihn aufzurichten. Er war schwer. Er rief über seine Schulter: „Hilfe! Ich hab ihn gefunden!“
Eine auffrischende Böe mußte seine Stimme verweht haben. Ein Windstoß ließ die innere Tür mit einem „Wumm!“ zufallen, schnitt die Äußere Dämmerung ab und ließ Jimmy nur mit dem dünnen Strahl seiner Taschenlampe in pechschwarzer Finsternis zurück.
Jimmy fluchte. Sein Blut gefror in den Adern. War das wirklich ein Windstoß gewesen? Er hatte keine Zugluft gefühlt. Er mußte den Mann unbedingt so schnell wie möglich hier rausschaffen. In einer Krypta zu stehen war zu schon gruselig genug. Aber in ihr einen bewußtlosen Wachmann zu finden -entweder verwundet oder stockbetrunken – wäre wohl ein Schock für jedermanns Nerven gewesen. Und in einem Leichenhaus eingeschlossen zu sein, abgeschnitten von Licht und Ventilation, das war... Jimmy konnte seinen Mut nur heftig schimpfend aufrechterhalten.
Seine Lampe auf Permanent-Licht gestellt, beugte er sich erneut angewidert und in panischer Hast hinab, um dem Mann aufzuhelfen. Mit seiner abgesägten Flinte in der Armbeuge war es allerdings schwierig, ein so unhandliches steifes Ding in den Griff zu bekommen. Und plötzlich dämmerte ihm die Bedeutung dessen, was er da fühlte. Der Mann war steif!
Wie hatte sich dann sein Ärmel bewegen können? Jimmy schrie erneut um Hilfe. Vergeblich.
Und in diesem Moment schmetterte ihm ein knochenhartes Etwas die Lampe aus der Hand. Wie in Zeitlupe konnte er den kreiselnden Lichtbogen in der Luft sehen, dann schlug sie klirrend in einer Ecke auf und erlosch.
Jimmys Atem produzierte ein quiekendes Stöhnen. Sein Magen sackte eine Etage tiefer, sein Blutkreislauf schien zu stocken. Dichteste Schwärze und tiefste Stille umflossen ihn. Mit butterweichen Knien sank er auf den Boden, hinab zu dem Körper, den er versucht hatte zu retten. Sogar dieser Rest eines Menschen war ihm ein Trost in diesem Moment. In der Dunkelheit konnte er nur schwach die geisterhaft-grünlichen Nachbilder der Lichtbogen erkennen, die die fliegende Lampe auf seiner Netzhaut zurückgelassen hatte. Sie schienen das einzige Zeichen dafür zu sein, dass seine Sinnesorgane überhaupt noch funktionierten. Oder doch nicht? Eins schien jedenfalls nicht versagt zu haben – sein Gehör. Er lauschte verängstigt. Er konnte seinen Puls hören – wie ein hartnäckiger, nutzloser kleiner Gummihammer. Also hatte der Schock ihn nicht taub gemacht.
Er mußte sich bewegen!
Er schob sich von dem toten Kadaver weg, auf dem er gelegen hatte und robbte in Richtung Tür. Ein Schlag traf ihn ins Gesicht und ließ ihn benommen zurückwanken. Ausnahmsweise fluchte er nicht und segnete dankbar den Schmerz. Was ihn getroffen hatte, war faulig-feucht, es war die Ecke einer der alten Särge gewesen. Das brachte ihm seine Orientierung zurück, zumindest kannte er nun wieder die Richtung zum Ausgang.
Er krachte gegen die Tür. Das musste sie jedenfalls sein...Seine Hände fummelten verzweifelt herum und fanden schließlich die feuchten Rahmen, die geraden Linien der Pfosten. Er tastete in fliegender Hast auf jeder Seite die Fugen ab. Verbissen, immer wieder, rundherum.
Es gab keinen Knauf an der Innenseite!
Jimmy ließ sich schlaff gegen die Tür fallen. Er konnte fühlen, wie seine Knie sich gegen sie drückten und seine Brust langsam an den schleimigen Brettern nach unten rutschte.
Ein schreckliches Geräusch schreckte ihn alarmiert hoch. Ein Geräusch, das, für sich genommen, gewöhnlich und harmlos war. Nur hier drin war es entsetzlich.
Ein verstohlenes Rascheln.
Es kaum aus der greulichen Kiste mit dem halboffenen Deckel. Es war das  Kratzen knochiger Finger mit zugespitzten Nägeln.
Jimmys Atem kehrte zurück mit einem absurd klingendem „whhoooohh“! Und aus der tiefen Finsternis heraus feuerte er auf das Geräusch.
Erneut Totenstille.
Eine winzige verzweifelte Hoffnung erhob ihr Haupt in Jimmy. Konnte es vielleicht sein, das es in dieser schwarzen Hölle einen gnadenvollen Gott gab und sein Schuß das „desintegriert“ hatte, (kein anderes Wort wollte ihm grade einfallen), was auch immer hier dies Geräusch gemacht hatte? Jimmys verängstigtes Bewußtsein weigerte sich, dem „Ding“ den Namen zu geben, den es im Grunde nur zu gut kannte.
Und dann schrak sein ganzes Selbst nochmals heftig zusammen beim Geräusch krabbelnder Fingernägel. Nein, das waren keine Ratten. Ratten klangen auf keinen Fall so. Ratten tappelten mit weichen Pfoten. Sie huschten harmlos hin und her. Sie quiekten fröhlich. Ratten waren freundliche, warmherzige Mitbewohner menschlicher Behausungen. Sie waren...
Plop! Das Krabbelgeräusch verlagerte sich auf den feuchten Boden. Jimmy feuerte wie wahnsinnig in diese Richung. Lauschte angespannt. Seine Sinne nahmen schockierend klar die qualmverseuchte Luft wahr. Reflektierten schockierend klar, dass er das Pulver zum letzen Mal roch. Das eben war seine letzte effektive Verteidigung gewesen. Keine abgesägte Schrotflinte der Welt konnte öfter als zweimal abgefeuert werden. Und eigentlich waren mehr als zwei Schüsse auch nicht nötig bei solch einer Waffe. Jedenfalls nicht, wenn man sie gegen einen Feind von dieser Welt richtete...
Und dann kreischte Jimmy auf. Sämtlicher Atem entwich seinen Lungen, als er plötzlich spürte, wie etwas außen an seinem Hosenbein hinaufkrabbelte, über sein Rücken huschte und dann mit kalter Brutalität auf seine Kehle zusprang, um sie zu zermalmen!
Jimmy riß aus Leibeskräften an dem Ding. Auch nicht das klitzekleinste bißchen Hoffnung auf Gottes Gnade war in ihm verblieben. Das war ES! Vertrocknetes Fleisch, abstoßend drahtiges Haar und überlange Nägel! Sie rissen an Jimmys Hals mit manischem Haß.
Jimmy gelang es, mit all der Kraft seiner beiden Hände den Griff um ein Geringes zu lösen, um wenigstens die Luft in den Lungen zu ersetzen, die sein langgezogener Schrei hinausgepresst hatte. Das Ding, agiler als jede Ratte, ließ kurz von seiner Kehle ab, wand sich los, verschwand in der Dunkelheit, um Sekunden später erneut aus dem schwarzen Nichts heraus seinen Hals von hinten anzugreifen. Erneut zog es sich zurück, um mit furchtbarer Wucht in Jimmys Gesicht zu klatschen. Allerdings schien es von der modernen Technik, mit einem Kinnhaken den Gegner auszuknocken, keine Ahnung zu haben. Es zielte wahllos auf jeden Teil des Kopfes. So schnell wie die Angriffe aus der Finsternis kamen, war es Jimmy unmöglich, sie abzuwehren. Jeglicher Vorteil lag bei dem personifiziertem angestauten Haß, dem grausigen Wesen, das sich im Dunklen orientieren konnte. Das Ding konnte anscheinend einen Mann ganz nach seinem rachlustigen Gutdünken zusammenschlagen.
Mit Armen und Ellbogen , wie ein bereits geschlagener Boxer, versuchte Jimmy fuchtelnd sein Gesicht zu schützen. Dann war das Ding wieder an seiner Kehle, als ob es wußte, dass Jimmy von den Schlägen und dem Qualm der Schüsse zu benommen war, um sich noch lange zu wehren.
Jimmys äußerste Verzweiflung gab ihm die Kraft, die Hand abermals von der Kehle wegzureißen. Er konnte spüren, wie das Blut seinen Hals hinunterlief. Und das Ding, das keine Pause brauchte, hämmerte erneut auf sein Gesicht ein. Es flog durch die Luft, es schien von überall zu kommen und Schläge gegen seine Schultern, seine Arme, ja sogar gegen seine Brust auszuteilen, auf jeden Platz, den es mit einem Sprung erreichen konnte. Plötzlich verfehlte es einen Hieb. Sein eigener gewaltiger Schwung beförderte es mit hohlem Ploppen gegen einen Sarg. Es klatschte auf den Boden.
Mit wilder Hoffnung sprang Jimmy drauflos, beide Füße geschlossen, um es mit  einem Satz zu zerquetschen. Daneben! Denn da war es wieder, kletterte sein Hosenbein hinauf, ein teuflisches Insekt der Finsternis, voll boshafter Vitalität, überbordend mit dem Willen zu töten. Jimmys Beine stolperten über das andere tote Ding im Raum – die Leiche. Deren steife Gliedmaßen ließen ihn straucheln. Er fiel. In selben Augenblick fühlte er krabbelde Finger auf seiner Brust. Sein panischer Griff fing es diesmal ab. Mit wenig Effekt. Die Kraft der Hand war so gewaltig, dass es ihr gelang,  Jimmys eigene Hände an den Hals zu legen. Tote Finger zwangen lebende ins Fleisch. Benommen glaubte Jimmy, Stimmen und Gehämmer an der Tür zu hören.
Das flößte ihm neuen verzweifelten Mut ein. Er wrang das Ding abermals von sich los. Er wußte, daß er mit den Krallen auch Fleisch mitriß. Es wand sich aus seinen Händen. Jimmy versuchte, von ihm wegzurollen. Schlechter Plan. Auf dem Boden konnte die Hand jeden erdenklichen Punkt wählen, um ihn erneut wirkungsvoll anzuspringen. Jimmy quälte sich hoch auf die Knie. Dann war es wieder soweit – ein neuer Spung auf die Kehle. Seine überspannten Nerven ließen Lichtblitze vor seinen Augen tanzen...
Doch dann gab das Biest ihn plötzlich auf. Jimmy war in der Lage, ein paar lebensrettende Atemzüge zu machen und wild mit den Armen zu fuchteln. War es möglich, dass solch ein Geschöpf sich von so etwas Weichem wie einer menschlichen Faust für einen Moment aufhalten ließ...?
Nein - es waren nicht seine Fäuste, die das Ding zum Rückzug zwangen. Die Lichtblitze explodierten nicht in seinem Kopf. Sie waren real. Grelle Strahlen von Taschenlampen... Der Doktor versuchte, Jimmy dazu zu bringen, seine ziellosen hysterischen Schläge aufzugeben. Er mühte sich ab, ihm aufzuhelfen und wurde dabei von Eula behindert, die sich heftig schluchzend auf Jimmy geworfen hatte. Der Doktor gab ihr eine Ohrfeige. „Kommen Sie zu sich! Fassen Sie mit an! Dieser Ort ist verseucht mit den Ausdünstungen aller möglichen höllischen Dinge!“
Jimmy war in der Lage zu krächzen: „Paßt auf! Es ist hier! Es kommt von überall!“ Eula produzierte in ihrer Hysterie abgerissene Quieker. Zusammen zogen die beiden Jimmy aus der Krypta. Der Doktor trat mit dem Fuß die Tür ins Schloß – absurderweise, denn sie hatten vorher die Füllung herausgetreten. So schnell sie konnten, rutschend und sich an den Wänden anklammernd, zerrten sie ihn über die schleimigen grünen Stufen hinauf ans gesegnete Tageslicht. Auch oben schlug der Doktor die Tür zu.  

13.
Es war Mrs. Medford, die zuerst den Mut aufbrachte vorzuschlagen, zurückzugehen. Nachdem Jimmy gesäubert, sein Hals verbunden war und ein steifer Aufmunterer die Runde machte, den nur Mrs. Medford ablehnte, erwog sie laut diesen Gedanken.
„Jetzt nach dem Kampf ist es so schwach, wie es später vielleicht nie wieder sein wird. Licht, sagen Sie, erschreckt es. Wenn es überhaupt zerstört werden kann, dann jetzt.“
Der Doktor blickte versonnen auf diese außergewöhnliche Frau. Dann begann er langsam zu nicken. Auch Jimmy nickte mit verkniffenen Lippen. Selbst Eula schlug die Hände vors Gesicht – und nickte.
Und so kehrten sie zurück – mitsamt der abgesägten Schrotflinte und einer Taschenlampe für jeden. Die äußere Tür zum Keller war immer noch geschlossen. Die innere war zerbrochen – so, wie sie sie verlassen hatten.
„Sie ziehen sie auf!“ befahl der Doktor Jimmy. „Ich stehe bereit – mit der Flinte!“
Innerhalb der Krypta bewegte sich nichts. Die Lampenstrahlen enthüllten nur die  schmierigen Pfützen, in denen Jimmy sich gewälzt hatte. Pfützen - und eingekerbte Kratzer von Fingernägeln. Aus Jimmys Kehre röchelte ein gequältes Stöhnen der Erinnerung, und er ließ seinen Lichtstrahl zum Sarg hinaufwandern. Der weiße Knochen, den er schon vorher dort gesehen hatte, befand sich noch an Ort und Stelle – im Spalt zwischen Sarg und Deckel.
Eula schrie. Der Doktor erhob das Gewehr, um es gleich wieder sinken zu lassen. Dann pfiff er erstaunt. Mrs. Medford trompetete: „Aaah! Ich hätte es wissen müssen!“
Das weiße Ding war ein Armknochen – an dem die Hand fehlte!
Der Doktor sah die anderen mit runden Augen an. Er zeigte mit dem Finger auf den Sarg und flüsterte: „Es ist da drin! Genau da, wo es hingehört!“
So leise wie möglich, als handle es sich darum, eine giftige Schlange zu fangen, reichte er Jimmy das Gewehr. Dann rannte er auf den Sarg zu, schob den Knochenarm hinein und zerrte den Deckel auf seinen Platz zurück.
„Helft mir!“, rief er aufgeregt, „helft mir, es drinnen zu halten! Wir wissen nicht, wie stark es ist!“
Alle zusammen, ihre Abscheu überwindend, packten sie den langen hölzernen Kasten.
„Licht!“, keuchte Dr. Harries. „Raus ins Sonnenlicht!“
Tollpatschig, immer einer dem andern im Weg, verzweifelt den Deckel niederhaltend, zogen und schoben sie den Sarg aus dem Regal. Schleiften ihn die feuchten Stufen hinauf und stellten ihn in die warme Sommersonne.
Dann, mit erstaunlicher Courage, wuchtete der Doktor sein ganzes Gewicht auf den Sarg. Er winkte Jimmy, sich zu ihm zu gesellen. Winkte Eula. Sie kam, zog es aber vor, nicht direkt auf dem Sarg zu sitzen, sondern auf Jimmys Schoß.
Mrs Medford dröhnte: „So, nun haben Sie es also gefangen. Vielleicht können Sie uns nun auch verraten, sie Sie es schaffen wollen, dass es gefangen bleibt!“
Des Doktors Blick verschwamm, er kramte gedanklich in den Archiven seines dunklen Wissens.
„Keine...Ahnung..“, gab er zu. „Ich gehe mal davon aus, dass es fürs Erste im prallen Sonnenlicht keinen Versuch machen wird, auszubrechen. Lassen Sie mich nachdenken... Mein unmittelbarer Gedanke ist – Nägel. Eisennägel. Bestimmt weiß Mrs. Medford, wo welche sind. Ach übrigens, das wäre mein zweiter Gedanke – was ist eigentlich mit dem unglücklichen Wachmann passiert?“
„Das können wir nur vermuten“, meinte Jimmy. „Ich schätze, er sah etwas und schlich hinterher, und dann, dort unten...“ Er schauderte in der warmen Sonne, und seine Finger berührten vorsichtig seinen Hals.
„Ja, wahrscheinlich war es so. Wir müssen ihn da rausholen und die Behörden informieren.“
Mrs. Medford kam mit Hammer und Nägeln zurück.  „Nicht daß Sie es lange aufhalten werden. Nicht nach Anbruch der Dunkelheit.“
„Nein...Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen.“
Eula, mit gekräuselter Nase, sah mit rachsüchtiger Genugtuung zu, wie der Doktor den Deckel zunagelte. Plötzlich wies sie auf eine Stelle, wo seine Hand den grauen Schimmel beseitegewischt hatte.
„Sehrt nur! Er war es wirklich! Ohne Zweifel!“
Verblichene gotische Buchstaben waren sichtbar geworden:
„B-n-t d- Ceinture“.
„Ja, stimmte Doktor Harries zu. „Das hier wäre ein unschätzbares Museumsstück! Aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, daß Licht die teuflische Macht zerstören würde... Moment mal...Licht... Feuer! Warum verbrennen wir es nicht? Gleich jetzt und hier?“
„Hier liegt weiß Gott genug altes Baugerümpel herum!“ Jimmy, ohne den Vorschlag auch nur im geringsten in Frage zu stellen, begann hölzerne Bruchstücke einzusammeln. Eula half ihm mit entschlossenem Enthusiasmus. „Das einzige, das ich an diesem baufälligen Kasten wirklich schätze“, murmelte sie, „ist sein Riesenvorrat an Brennholz.“
Bald hatten sie im hellen Sonnenschein einen Scheiterhaufen errichtet, auf den sie den grauen, vermoderten Sarg hievten. Eula zündete ihn grimmig an, und sie traten zurück.
Die trockenen Trümmer flammten auf wie Zunder und verwandelten sich schnell in einen rot leuchtenden Hochofen, in dessen Mitte der Sarg zu qualmen begann. Bald begannen die Seiten aufzureißen, und lange Feuerzungen fraßen sich weiter an den Bruchlinen entlang, die fauligen Eingeweide des Kastens gierig verschlingend. Eula schlug plötzlich die Hände vor die Augen und schrie. Mit wilder Genugtuung sah Jimmy die graue spinnenhafte Schreckenskreatur durch die brennende Seite brechen, in der Glut gräßlich zappeln und dann erstarren.
Still, mit aufeinandergepressten Lippen, alle Nerven angespannt, sah er zu, wie die grauen Finger sich schwarz verfärbten, dann zusammenkrümmten, rot aufglühen, um schließlich in kleinen blauen Flämmchen zu vergehen.
„Tja“ sagte der Doktor. „Das wars dann wohl.“
Jimmy legte seinen Arm um Eula. „Auf jeden Fall“, meinte er, „beweist das Ganze doch eins: Unsere Linie ist die respektable Linie. Das Ding kroch damals in meine Tasche, um sich zu rächen. Komisch, dass ich ausgerechnet in den Laden gegangen bin, in dem es die ganzen Jahre über herumlag. Tja, aber was heißt das jetzt für uns? Wie sprechen wir unseren Namen aus? Duck? D'Auk?“
Eula stieß ihn von sich. „Ich will nichts mehr mit der Vergangenheit deiner Familie zu tun haben!“   
„Aber...meinst du...“
„Wir heißen so, wie du jetzt heißt! Neumodisches Amerikanisch ist mir nach dieser Geschichte grade recht.“
„Okie-Duckie“ gab Jimmy nach, und zum erstenmal seit langem brachte er wieder ein Grinsen zustande. „Ich frag mich nur, wie wir es Dad beibringen...“

Ende

Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4

Anmerkungen: Gordon MacGreagh: The Hand von Saint Ury (Weird Tales 1951)

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