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Keiner wacht: Von Engeln und Menschen

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-Kolumne»Keiner wacht«
Von Engeln und Menschen

Der erste Arbeitstag ist ja immer etwas Besonderes. Neue Kollegen. Neue Büros. Neue Dinge. Neue Regeln. Noch etwas Besonderes: Wenn es nicht nur der erste Arbeitstag, sondern überhaupt der erste Tag im Leben ist. Und das Ganze kann man noch steigern: Wenn es nicht nur der erste Arbeitstag, der erste im eigenen Leben sondern zudem noch der erste Tag im Himmel ist. Es geht allerdings noch eine Spur höher: Wenn man der erste neu erschaffene Angelus - nicht Engel - seit Jahrtausenden ist.

So beginnt die Serie »Keiner Wacht« - ein Titel, der wie so oft auf Deutsch weitaus mehr verrät als er eigentlich sollte. Gut, der originale brasilianische Titel heißt etwa »Der ungehorsame Engel«, aber das nimmt die eigentliche Pointe der Serie nun halt weitaus weniger vorweg als der deutsche Titel. Und wer sich die Serie, deren Folgen ungefähr immer eine halbe Stunde lang dauern, bis zum Ende anschaut wird nicht nur ungehorsame Schutzengel und über die Bürokratie im Himmel erfahren.

Zusammen mit dem neuen Angelus Uli werden wir als Zuschauer*in jedenfalls zuerst in die Himmelsorganisation eingeführt. Jeder Mensch hat einen Schutzengel. Natürlich sollte der sich nicht den Menschen zeigen und die Menschen sollten auch möglichst nicht mit ihnen in Berührung kommen. Deswegen trainieren die Engel auch ihre Reflexe, wenn sie frei haben. Von dem Bild eines persönlichen Schutzengels fürs ganze Leben sollte man sich aber verabschieden - im Himmel herrscht eine Art von Zuweisungsbingo. Jeder Engel bekommt jedes Mal einen neuen Sterblichen zugewiesen. Ansonsten gibts jede Menge Formulare und Stempel.

Das Jenseits als eine Art von Behörde zu zeigen ist nun nichts Neues. In »Reiter auf dem Schwarzen Pferd« von Piers Anthony ist das Fegefeuer ein bürokratische Bau, in dem Seelen ihren Dienst tun. Davon inspiriert entpuppt sich der Tod in »Dead Like Me« als Organisation, in der sogenannte Reaper am rechten Ort zur rechten Zeit die Seele abholen müssen. »Miracle Workers« gibt es göttliche Mitarbeiter für alles - Gott selbst ist hier noch vorhanden, aber in einer sehr depressiven Phase. In der Sketchreihe »Chefsache« verhandelt Gott mit seinem Engel über die Details der Schöpfung und hat offenbar ein Haufen von Untergebenen, die eifrig Intelligent Design betreiben. Kurz: Das Jenseits als Bürokratie - kein neuer Gedanke.

Ebenfalls auch nicht neu: Engel, die sich in Sterbliche verlieben. Dieser Stoff ist so alt, dass er schon in der Genesis auftaucht - hier steigen die Himmelssöhne herab, um sich mit den Erdentöchtern zu vereinigen, daraus sollen die Giganten der Vorzeit entstanden sein. Besonders bekannt ist natürlich »Der Himmel über Berlin« bzw. dessen Remake »Stadt der Engel«. Und der Film mit Nicolas Cage wird tatsächlich auch in »Keiner Wacht« erwähnt: Fred droht damit, dass sich jeder Engel, der ihm nicht gehorcht, sich bis in alle Ewigkeit Nicolas Cage in Dauerschleife anschauen muss. »Keiner Wacht« besticht also nicht unbedingt mit Originalität bei der Themenwahl - auch nicht, was die Frage nach der An- oder Abwesenheit Gottes betrifft.

Originell ist der Blick, den die Serie auf das Leben an sich wirft. Die Freuden des ersten Lokus-Besuches können wir sicherlich nicht unbedingt nachvollziehen. Dafür aber sehen wir aus den Augen der Engeln auf das, was wir Alltag nennen. Teilweise komisch, teilweise tragisch, wobei die Figuren und die Situationen eher in Richtung eines sarkastischen Humors gehen. Das könnte jetzt in Klischee-Kitsch a la »A Wonderful Life« ausarten. Hach, wie gut es ist, dass es uns gibt, das Leben ist schön, alles wird gut. Tut es glücklicherweise nicht. Auch, wenn das in den einzelnen Folgen so aussieht.

Zwar versucht Uli stets den Menschen zu helfen aber kurz vor dem Finale der Serie muss er sich eingestehen: Sein Eingreifen hat den Menschen an sich zwar erstmal glücklich gemacht, aber die Auswirkungen des Ganzen führten zum Unglück. Der Außenseiter-Maler, der einen Vertrag mit einer Galerie hat, muss Strich für Strich immer dasselbe Motiv malen - kreative Arbeit? Eher Fließband. Und das ist nur eine Auswirkung, die Uli am Ende an sich und seinem Tun, seiner Rebellion gegen die Regeln verzweifeln lässt.

Vielleicht ist Uli aber gerade deswegen geschaffen worden? Um aufzuzeigen, wie verstaubt und bürokratisch das ganze System ist? Und um zu zeigen, dass es keine Alternative dazu gibt? Wir als Zuschauer*innen können das nur vermuten, weil die erste Staffel der Serie dummerweise mit einem Cliffhanger endet - und einem eher erwartbarem Twist.

Da Netflix die Serie eher unter »ferner liefen« bewirbt, also bis auf einen Trailer und der Vorschlagsliste halt gar nicht, ist nicht klar, ob wir als Zuschauer*innen jemals erfahren werden, wie und ob Uli den Erwartungen des Bosses genüge tun wird und vor allem, wie das mit ihm und seiner Freundin weitergeht. Aber selbst, wenn das nicht geklärt wird - der erfrischend sarkastische Blick auf unseren Alltag gepaart mit der Erkenntnis, dass unser Leben bisweilen tatsächlich trotz des ganzen Mistes wunderschön sein kann. 

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