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Walkaway: Doctorows Utopia

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneWalkaway:
Doctorows Utopia

Die Zukunft ist gar nicht so verschieden von der Gegenwart. Jedenfalls nicht in den Novellen, Kurzgeschichten und Romanen Cory Doctorows. Seine Zukunft projiziert nicht Laserschwerter in eine Galaxie, die sehr, sehr weit entfernt ist. Noch interessiert er sich für all zu schwere wissenschaftliche Themen. In Doctorows Werken geht es um den Menschen und dessen Umgang mit der Technologie. Eine Technologie, deren Auswirkungen nicht immer so sind, wie wir uns das gedacht haben.

In »Walkaway« ist die Spaltung der Gesellschaft noch extremer als in unserer. Es gibt Diejenigen, die viel und alles haben, die im Überfluss leben. Diese wenigen reichen Familien bestimmen in der Meritokratie so ziemlich alles. Der Rest steht unter totaler Beobachtung. Die Erde ist durch den Klimawandel arg mitgenommen. Drei-D-Drucker haben sich durchgesetzt, es gibt fast nichts, was man nicht drucken kann oder was erweiterbar wäre … wenn es halt nicht die strikten Urheberrechtsgesetze gäbe. Zu Beginn des Romans erleben wir, wie eine Gruppe von Freunden auf eine sogenannten Kommunistenparty geht - eine überaus schicke Art gegen das Establishment zu rebellieren ohne wirklich großartig was zu tun. Man besetzt zwar kurzzeitig alte Fabrikgebäude, setzt die Drei-D-Drucker wieder in Gang aber großartig was ändern? Klar ist das illegal, aber was hätte es für Konsequenzen für Nathalie, Tochter der Redwaters, einer der Familien, die den Staat beherrschen? 

Hausarrest vielleicht. Nachdem aber auf der Party ein Freund getötet wird, entschließt sich der Rest wirklich und endlich der Default-Gesellschaft den Rücken zuzukehren und schließt sich den Walkaways an, den richtigen Rebellen also. Und da es Cory Doctorow ist, der sich seine Verdienste im Kampf gegen ein zu strenges Urheberrecht erwarb und zudem Internet-Aktivist ist, ahnt man schon zu Beginn des Ganzen, was am Schluss des Werkes stehen wird. Und das ist ein Problem. Denn wenn die Agenda eines Romans schon zu Beginn so sichtbar ist und auch nicht durch wesentliche Plotelemente abgemildert wird - dann kann die Handlung so wenden- und fintenreich sein wie sie wolle: Es ist, als ob ein vom heiligen Furiengeist erfüllter Pastor auf der Kanzel steht und permanent predigt, dass man nur durch Jesus allein erlöst werden könne. Das ist auf an die fünfhundert Seiten ausgewalzt leider furchtbar anstregend.

Jetzt ist es nicht so, dass die Walkaways nur aus guten, moralisch anständigen Menschen bestehen würden - Rucksäcke werden geklaut, ganze Hotelbauten übernommen - aber … das Gute, Hehre, Wahre findet sich halt doch immer auf der Seite der Walkaways. Es wäre noch nicht mal annähernd so schlimm, wenn die Charaktere nicht den unsagbaren Drang hätten ständig über die Welt, die eigenen Dinge, das wesentliche Sein der Welt zu reden. Die Figuren des Romans diskutieren um die Wette. Sie reden, reden, reden - und versuchen den Leser zu überreden. Das ist das große Manko dieses Romans. Leser, sagt Doctorow, gib fein Acht, ich zeige und erkläre dir jetzt, was und warum so schlecht an manchen Entwicklungen der Gegenwart ist. 

Das ist durchaus in Ordnung. Utopisten haben das seit dem Altertum so gemacht. Das Entwerfen von ganzen Staatsgebäuden, in denen es allen besser geht als Kritik an der Gegenwart: Fein. Utopien haben allerdings immer einen lehrhaften Charakter, denn sie wollen ja zeigen, dass und wie es anders besser gehen kann. Jetzt ist »Walkaway« kein philosophisches Lehrbuch geworden und es gibt immerhin eine Handlung. Aber es gelingt Cory Doctorow selten sich zurückzunehmen, die Lehrsätze und das Palavern zu vergessen und einfach interessante Figuren zu schildern, die zudem auch noch durch ihr Handeln und ihre Aktion beide Seiten der Medaille aufzeigen.

Aber das macht er doch, mögen mir jetzt Leser des Romans entgegnen, zu Beginn des Romans ist die Default-Gesellschaft gut entwickelt und später halt die Welt der Walkaways. Ja, durchaus. Natürlich sind Jugendliche auch so entschlussfreudig bisweilen von heute auf morgen die Seiten zu wechseln oder mal durchzubrennen. Nathalie Redwood setzt ihr gutes Leben und Vermögen aufs Spiel, das kann man entgegnen und das ist ein wesentlicher Teil der späteren Handlung. Durchaus. Aber Doctorow schildert kaum mehr von dieser Default-Gesellschaft als zu Beginn des Romans zu sehen oder zu spüren ist. Sie ist wirklich unangenehm und man möchte als Leser kaum in ihr leben - doch wie genau geht das Leben derer vonstatten, die nicht zu einer der Meritokraten-Familien gehören? Das wird kaum beleuchtet.

Es ist dann doch zu viel Weiß und zu viel Schwarz in diesem sehr langem Roman. Es hätte alles viel besser, viel konzentrierter und viel entschiedener auf den Punkt gebracht werden können. Dann wäre der Roman allerdings wohl eher ein utopisches Sachbuch geworden. Was eigentlich zu Cory Doctorow nun auch passen würde. Es gibt zu wenig Grau, zu wenig wirklich Spannung. Kein Wunder, wenn die Figuren dauernd reden, reden, reden und nur alle seitenlang wirklich was passiert. Was bedeutend ärgerlicher ist: Cory Doctorow denkt gewisse Aspekte seiner Utopie nicht weiter.

Denn wenn am Ende des Romans die Flatline von Gibson Fleisch wird: Was kommt dann danach? Vor allem, wenn die Erde an sich schon durch den Klimawandel in Mitleidenschaft gezogen wurde - Doctorow schildert das durchaus eindringlich - wie um Himmels Willen soll denn dann eine Gesellschaft zustande kommen, in der der Tod wirklich überwunden ist? Führt man die ein Kind-Familie wieder ein, da die Ressourcen begrenzt sind? Überhaupt: Ein Backup verbraucht Strom. Und kostet. Wie ist denn das, können sich dann ALLE ein persönliches Backup leisten, sterben und quasi wieder von den Toten später durch eine Übertragung in den Meat-Space auferstehen? Sind wir dann bei Terry Pratchetts »Going Postal« und den Zauberern, die ein Early-Death-Paket nehmen, weil das erfrischender als ein Sabbatical ist? Wenn es unendliche viele Kopien von Persönlichkeiten geben kann, was heißt das dann für den Menschen? Bei Doctorow gibts eine Crash-Phase, aber das ist ja nur Technik, das regelt sich dann mit Puffern und alles kein Problem mehr. Überhaupt keins.

Das, was am Ende als wirksame Utopie dargestellt ist könnte jederzeit wieder in eine Dystopie kippen. Dabei will Doctorow ja gar nicht, es soll ja ein Happy-End sein. Liebende sind wieder vereint, die böse Gesellschaftsform fast nicht mehr vorhanden und überall auf der Welt entwickeln  sich kleine Paradiese, in denen Adams und Evas bis in alle Ewigkeit glücklich sind. Schlussendlich ist man als Leser erleichtert endlich am Ende des Romans angekommen zu sein, klappt das Buch zu und weiß, dass Cory Doctorow ein Mann mit einer Mission ist. Eine Mission, die durchaus Etliches für sich hat, aber auch einer Mission, die den Großteil des Romans lahmlegt.

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