Hey-Ho und Jo-ho-ho: Seashantys auf Tictoc
Hey-Ho und Jo-ho-ho
Seashantys auf Tictoc
Wobei es eher ungewöhnlich wäre das ein Sea-Shanty in das Radioprogramm aufgenommen werden würde - allerdings sind Sea-Shantys momentan das Ding auf TicToc. Selbst als Rap-, als Heavy-Metal-Variante. Da steht man etwas ratlos davor und fragt sich: Warum um alles in der Welt Sea-Shantys?
Es liegt einerseits an einer technischen Funktion, andererseits an der gesellschaftlichen Lage und dann - drei Dinge auf einmal - daran, wie Sea-Shantys gebaut sind. Fangen wir demnächst mal mit dem dritten Punkt an. Sea-Shantys sind Lieder der arbeitenden Matrosen. Sie dienen also einem gewissen Zweck. Es sind Lieder, mit denen Arbeitsvorgänge koordiniert werden, sie sind geschaffen worden, um eine Menge von Matrosen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Handlung vollziehen zu lassen. Was heutzutage meistens mit Maschinen erledigt wird, musste in früheren Zeiten die Muskelkraft erledigen. Den Anker heben und senken, die Segel raffen, Kisten ent- und beladen - dazu braucht es eine vereinte Anstrengung. Das muss also koordiniert werden. Wenn die eine Hälfte der Matrosen anfängt, in die eine Richtung zu ziehen, die andere Hätte nichts macht ist das nun nicht effektiv. Zudem: Es muss auch noch die gleiche Richtung sein. Um diese Arbeitsvorgänge zu koordinieren gibt es die Shantys. Sie funktionieren nach dem Call-and-Response-Prinzip. Jemand singt etwas vor, die anderen singen ihm nach oder ergänzen die Zeile. Meistens folgt dann eine gemeinsam gesungene Zeile. Die Meisten kennen das Lied vom Betrunkenen Seeman: „What shall we do with with a drunken sailor early in the morning?“, fragt der Vorsänger. Die Antwort: „Hooray - and up he rises“ ist ja eindeutig ein Hinweis darauf, dass es hier wohl das Hissen der Segel geht. Gemeinsam wird beim „hooray“ gezogen, zweimal die Zeile wiederholt. Zum Schluss stimmen alle ein in „early in the morning“. Was früher mit einer Trommel an Bord der römischen Galeere geregelt wurde, die Koordinierung von Arbeitskräften, wird hier mit dem Lied vollbracht. Dementsprechend sind die meisten traditionellen Sea-Shantys auch voll mit „Jo, ho, ho, ho“, „hooray“, „huh“ und anderen parasprachlichen Ausdrücken. Gleichzeitig kräftig ziehen und die Glocke von Schiller zu zitieren dürfte schwierig sein.
Durch ihren Aufbau eignen sich Shantys sehr gut für TicToc. TicToc hat die technische Funktion des „Duet“ eingebaut - damit kann man auf Videos in Videoform antworten. Die Videoantwort wird im Splitscreen präsentiert, man hat also auf der einen Seite das Originalvideo, auf der anderen Seite die Reaktion darauf. Die Funktion schreit geradezu danach für die Musik benutzt zu werden und natürlich für Duette. Da man nach der Aufnahme eines Duets die Funktion nochmal anwenden kann, kann man theoretisch einen ganzen Chor auf Tic-Toc aufbauen. Es würde nur etwas unübersichtlich werden - natürlich kann man TicToc-Videos herunterladen und sie separat bearbeiten, um sie anschließend erneut hochzuladen. Es gibt ja ein weitere Phänomen bei TicToc, bei dem eine einfache Melodie genommen wird, geklatscht wird oder getrommelt und dann der Sänger, die Sängerin auf diese Weise seinen Frust in einem witzigen Songtext verpackt.
Sea-Shantys sind ideal für die Duet-Funktion. Jemand singt vor, der Text ist eingeblendet, die Melodien sind in der Regel bekannt oder so eingängig, dass man sie leicht mitsingen kann. Man selbst singt dann einen Teil mit und stellt das Ergebnis auf TicToc. Da Sea-Shantys auch urheberrechtsfrei sind - die traditionellen jedenfalls - hat man da auch keine Probleme mit. Und: Der Aufwand ist gering. Höchstens sechzig Sekunden dauert ein TicToc-Video und zum Aufnehmen reicht das Drücken des jeweiligen Knopfes.
Schön und gut - aber haben Gospels und Spirituals nicht den gleichen Aufbau? Es gibt traditionelle Lieder, die beim Bau der Eisenbahn gesungen wurden und die genau das gleiche Format haben. Oder wenn wir an „Häschen in der Grube“ denken - auch bei Kinderliedern wird öfters mal was vorgesungen, was dann nachgesungen werden kann. Warum also Sea-Shantys? Die traditionellen Shantys sind Gebrauchsmusik. Zwar spiegeln sich in ihnen auch Dinge, die die Mannschaft eines Schiffes bewegen - das Spottlied „Ick heb mal in Hamburg a Veermaster seen“ bündelt wohl so ziemlich alle schlechten Erfahrungen zusammen, die Matrosen auf See gehabt haben. Spätestens mit der Industrialisierung und der Mechanisierung der Seefahrt sind Shantys überflüssig. Sicherlich werden sie noch gesungen, aber sie erinnern nur noch an das, was ursprünglich mal war: An das Meer, die harte Arbeit, das Leben an Deck. Dabei wird mehr und mehr vergessen, wie hart das Leben auf See gewesen ist und der romantische Duktus übernimmt die Oberhand. Das Meer als Sehnsuchtsort.
Ein Ort der Freiheit vom Alltag und von den Zwängen, in denen wir uns befinden. Momentan noch mehr als zuvor dank Corona. Die neueren Shantys wie „The Wellerman“ sind dann musikalisch auch anders aufgebaut. Sicherlich: Man kann sie mitsingen, wenn man die Melodie einmal hört. Und auch bei „The Wellerman“ gibt es an einer Stelle ein „Uh“. Mit diesem Lied jedoch könnte man kaum irgendwie irgendwas arbeiten. „The Wellerman“ ist für eine andere Situation gemacht: Für das Zusammensitzen nach der Arbeit. Ein Lied fürs Vortragen und Mitsingen, aber eines, dass nicht mehr direkt aus der Arbeitssituation entspanden ist sondern eine Geschichte erzählen möchte. Das tut „The Wellerman“ - manchmal auch ohne den Artikel zu finden - ja auch: Es geht um Sturm, Wellen, einen Wal, der ein Schiff hinter sich herzieht und das bis in alle Ewigkeit tun wird.
„Soon may the Wellerman come To bring us sugar and tea and rum One day, when the tonguing' is done We'll take our leave and go“. Und das haben die, die das Lied im Pub singen ja gemacht: Sie haben die Heuer empfangen und sind von Bord um jetzt in der Sicherheit des Pubs von den Gefahren der See zu singen. Oder auch davon, wie schön die See eigentlich sein kann, von der herzzerreißenden Geschichte eines Matrosen, dessen Maid immer noch auf ihn wartet … aber andererseits auch über das Gefühl der Freiheit, die Salzluft, die fremden Gestade … Ach ja.
In einer Zeit, in der soziale Kontakte eingeschränkt sind, in einer Zeit, in der wir per Social Media kommunizieren, bricht sich die Sehnsucht nach einem Alltag ohne Beschränkungen bahn. Während wir in unseren Home-Offices sitzen, sehnen wir uns wenn nicht nach der unendlichen Freiheit des Meeres dann doch wenigstens nach ein paar Wochen ohne Corona-Zwänge. Uns fehlt zudem die übliche soziale Sphäre, in der wir uns bewegen. So nett Videokonferenzen auch sind, sie sind kein Ersatz für die Nähe und Wärme des menschlichen Gegenübers. Immerhin bleibt uns die Möglichkeit, zusammen auf TicToc etwas Kreatives zu erschaffen. Und unsere Hoffnung fasst der Refrain von Wellerman nun auch perfekt zusammen: „One day, when the tonguing’ is done, we’ll take our leave and go.“ In der Zwischenzeit müssen wir durchhalten und auf den Wellerman warten. - Wobei: The Wellerman ist ein Proviantschiff der Gebrüder Weller. Heutzutage warten wir dann auf her PicNic …