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Zeitenwende

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneZeitenwende

Seit letzten Donnerstag ist alles anders. Über Nacht marschierten russische Truppen in der Ukraine ein. Es ist, als wäre über Nacht der Geist der 80ger zurück: Machtblöcke stehen sich gegenüber und die Finger scheinen über den roten Knöpfen zu schweben. Friedensgebete und -demonstrationen sind wieder zurück, der kommende Ostermarsch wird mit Sicherheit eindringlich und eindrücklich werden. Der Schock sitzt tief. Die Frage, wie man jetzt reagieren soll steht im Raum:

Kann man in Krisenzeiten weitermachen wie zuvor? Oder muss man es nicht sogar?

Das ist eine Frage, die so einfach nicht zu beantworten ist. Erstmal dies: Nur, weil nicht Jede*r etwas zu aktuellen politischen Situation im Netz sagt heißt es nicht, dass die Sache jemanden nicht bedrückt, verängstigt oder beschäftigt. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, Dinge im Netz als „wirklich“ zu nehmen. Erinnern müssen wir uns daran, dass wir nur das sehen, was wir sehen sollen - jedenfalls wenn es um die Sozialen Netzwerke geht. Die Identität im Netz spiegelt nicht die Identität im analogen Raum wieder. Es mag jemand im Netz selbstbewusst und selbstsicher auftreten - es muss nicht unbedingt heißen, dass er das im analogen Leben auch ist. Ich vermeide den Begriff „richtiges Leben“, weil das digitale Leben natürlich nicht unbedingt ein falsches sein muss. Sicherlich ist die Frage, was wahr und was gelogen ist in Zeiten von kriegerischen Auseinandersetzungen zu stellen. Aber wenn jemand sich inszeniert, dann ist auch das Teil seines Lebens. Er ist halt nur nicht rund um die Uhr so wie er sich gibt. Aber wer ist das schon …

Weiterhin auch dies: Medienkompetenz ist wegen der digitalen Propaganda wichtiger denn je. Wenn es auch überwiegend eine Aufgabe von Journalist*innen ist, ist es auch im Alltag wichtig zu wissen, ob das Video, dieses Bild wirklich das darstellt was es zeigt. Fakenews haben in diesen Zeiten leichtes Spiel, vor allem auf TikTok kann man schwer nachprüfen von wann ein Video ist. Jetzt zeigt sich mal wieder, wie schwerwiegend die Vernachlässigung dieser Vermittlung in der Schule und im Berufsleben ist. Wer nämlich angesichts der Tatsache, dass man ja eh nichts glauben kann was in Medien berichtet wird das Handtuch wirft, steht mit einem halben Bein schon im Querdenkerlager. Und schon diese hätten eigentlich ein Alarmsignal für die Politik sein müssen was das Sortieren und Analysieren von Medien und dem Umgang mit ihnen anbelangt.

Aber auch jenes: Was wir aus den ersten Tagen der Corona-Pandemie gelernt haben sollten ist, dass wir nicht in Nachrichtentickern, Sondermeldungen und Pressemitteilungen ertrinken sollten. Sicherlich ist die Lage ernst, sich informiert zu halten auch wichtig. Doch ständig sich mit der Lage zu beschäftigen lähmt die notwendigen Ressourcen, die wir für den Alltag brauchen. Denn der geht für uns ebenfalls weiter. Da der Alltag nicht auf die stille Treppe geschickt werden kann, wir alle weiterhin zur Arbeite gehen werden, der Kühlschrank muss ja gefüllt werden, ist das Weiter-So von Influencer*innen auch etwas Gutes. Es vermittelt einen Hauch von Normalität. Sicherlich kann man es sarkastisch formulieren: Solange Diana zur Löwen irgendwelche Dinge bewirbt, solange kann die Lage ja noch nicht so dramatisch sein. Solange nicht Rabattcodes für Panzer angepriesen werden … Wobei: Es würde mich auch nicht wundern.

So stehen wir also im Schatten der Zeitenwende, hoffend, dass der Krieg in der Ukraine bald beendet werden wird. Was werden wird, wissen wir nicht. Anders als in den 80gern ist aber keine generelle Apokalypse über unsere Häuptern. Auch, wenn Russland uns daran erinnert, dass es immer noch Atomwaffen gibt - auch, wenn wir nicht den sauren Regen haben, aber genügend Umweltprobleme - ist keine bleischwere depressive Stimmung zu vernehmen. Das kann sich noch ändern. Ich hoffe nicht so schnell.

Kommentare  

#1 Robert Martschinke 2022-03-04 09:37
So weit d´accord. Wichtiger noch als Medienkompetenz ist in diesem Kontext allerdings das Wissen um historische, geographische und politische Zusammenhänge - und die Einsicht, dass auch Journalist*innen im privaten wie öffentlich-rechtlichen Auftrag letztendlich von (Wirtschafts-)Interessen geleitete "Influencer" sind.
#2 Ganthet 2022-03-04 10:19
@ Robert
Habe ich das richtig verstanden: Alle Journalisten sind deiner Meinung nach das Sprachrohr der Wirtschaftseliten? Wenn ja, wer soll das sein?
#3 Laurin 2022-03-04 10:43
Nun ja, man muss Putin nicht lieben, aber für blöd hatte ich ihn bisher auch nicht gehalten (was irgendwie wohl eine Fehleinschätzung war). Gut, ein Spieler ist er auch noch und spielt dementsprechend nun auch mit den Ängsten anderer. Deshalb würde ich die atomare Apokalypse aber nicht zu weit wegschieben, denn bereits durch die Sanktionen wird Putin nun mächtig in die Ecke gedrängt, auch wenn er jetzt noch den starken Mann macht, weil er noch finanzielle Reserven unter der Matratze gebunkert hat. Und mit konventionellen Waffen kommt er sichtbar wohl auch nicht aus der Ecke heraus. Und eines habe ich in 60 Jahren auch gelernt, das es nicht immer nur einen Schuldigen gibt, aber eine solche Erkenntnis ändert an der jetzigen Situation nun auch nichts mehr (das Kind ist halt jetzt in den Brunnen gefallen, da nutzt es also nichts, wenn einem danach erst einfällt, das man ihm hätte noch das schwimmen beibringen sollen). Und in einer Hinsicht hat Robert durchaus etwas recht, denn man hat zu lange nur wirtschaftliche Interessen im Auge gehabt, statt auf die Stolpersteine am Rande zu achten, die langfristig wie jetzt auch zu einem unsinnigen und menschenverachtenden Krieg führen können.

Ich für meine Person ziehe mir nur noch die wichtigsten Informationen heran, habe mich allerdings aus dem ganzen medialen Rummel in den verschiedenen Medien herausgezogen, und das aus zwei Gründen: 1.) Es ist kein gutes Zeichen, wenn mögliche Ängste anfangen, das eigene tägliche Leben mitzubestimmen und 2.), ich persönlich werde an der Situation mit Sicherheit eh nichts ändern können, egal wie es am Ende auch ausgeht.
#4 Robert Martschinke 2022-03-04 13:25
@Ganthet: Angestellte privater Medienunternehmen (praktisch sämtliche Journalist*innen in der printmedialen Branche etwa) dienen den Interessen ihres Unternehmens(-verbundes); sog. "öffentlich-rechtliche" Berichterstattung erfolgt stets im Hinblick und mit Rücksicht aufs / im Interesse des Nationalkapital(s).
Im Segment Tageszeitungen fallen mir lediglich zwei Ausnahmen ein: "junge Welt" und "nd.Der Tag" (vormals "neues Deutschland"). - Beide werden von Genossenschaften herausgegeben.
#5 Cartwing 2022-03-04 21:33
Zitat:
Weiterhin auch dies: Medienkompetenz ist wegen der digitalen Propaganda wichtiger denn je. Wenn es auch überwiegend eine Aufgabe von Journalist*innen ist, ist es auch im Alltag wichtig zu wissen, ob das Video, dieses Bild wirklich das darstellt was es zeigt. Fakenews haben in diesen Zeiten leichtes Spiel, vor allem auf TikTok kann man schwer nachprüfen von wann ein Video ist.
Leider orientiert sich die Jugend nun mal genau daran, weil das für sie die Plattformen sind, mit denen sie sich identifizieren.

Wobei ich weiß, dass meine Kinder das trotzdem immer hinterfagen, im Gegensatz zu den erwachsenen Lesern einer gewissen Boulevard - Zeitung, denen gerade der Weltuntergang prophezeit wird, und die das auch glauben
#6 Ganthet 2022-03-05 08:39
@Robert
Hm. Das klingt ein bißchen nach Verschwörungsideen: Sämtliche Berichterstattung ist auf den Erhalt des Nationalkapitals ausgerichtet?
Was soll das Nationalkapital überhaupt sein?

Die von dir genannten Medien (junge Welt, ND,) sind ja nun nicht gerade ein Beispiel für journalistische Ausgewogenheit. Vielleicht verfolgen die keine ökonomischen Ziele, sondern sind rein ideologisch grfärbt, was es ja auch wirklich nicht besser macht.

Der
#7 Robert Martschinke 2022-03-05 19:21
@Ganthet:
Nationalkapital bezeichnet den verfügbaren materiellen und finanziellen Reichtum eines Staates, ausschnittsweise abgebildet beispielsweise Im DAX.
Dem (kapitalistischen) Staat bzw. seiner Regierung als "ideellem Gesamtkapitalisten" (Engels) obliegt es, dieses Kapital zu hegen und zu mehren.
Die Annahme, dass Arbeitnehmer*innen selbstverständlich im Interesse ihres Arbeitgebers* agieren, als Verschwörungstheorie einzuordnen, erscheint mir - gelinde gesagt - recht bizarr.
Und welches - amtliche oder industriell produzierte - Medium bietet Deiner Meinung nach denn journalistische "Ausgewogenheit"?
#8 Ganthet 2022-03-07 15:10
Deine Frage nach einem "amtlichen oder industriell produziertem Medium" erschwert es, eine sachliche Antwort zu geben. Diese Einteilung der Medienlandschaft ist schon sonderbar.

Der ÖR bietet mir die Ausgewogenheit, die ich benötige. Ich nehme an, das bezeichnest du als amtlich. Diese und ähnliche Bezeichnungen für den ÖR finde ich bei extremen Kräften links und rechts.

Die Wochenzeitung Die ZEIT bemüht sich ebenfalls um Ausgewogenheit, was sie in vielen Fällen auch gut hinbekommt. Ist das für dich ein industriell produziertes Medium? Klingt auch sehr abwertend.
#9 G. Walt 2022-03-12 16:31
Ich bin 52, das Wort Zeitenwende hörte ich bereits sehr oft.
#10 Hermes 2022-03-13 16:06
@ G.Walt

Leider scheint der Begriff diesmal zutreffend.

Obwohl die Zeiten sich schon seit Anfang der 2000er geändert haben. Bei uns wollte oder konnte man dies aber nicht sehen.
Mir fällt dazu irgendwie der Satz aus "Der Krieg der Welten" ein:

"And slowly and surely, they drew their plans against us."
#11 G. Walt 2022-03-14 12:02
@Hermes

Zeitenwende 89, 90, 2001, 2022 und da dazwischen könnte wohl auch was nennen, wenn man wolte.

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