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Im Netz bist du ausgeliefert: Der »rechtsfreie Raum« des Netzes?

In (Multi-)Medias Res - Die Multimedia-KolumneIm Netz bist du ausgeliefert
Der »rechtsfreie Raum« des Netzes?

War es nicht erst vor kurzem, dass Jan Böhmermann zu Tage gebracht hat, dass die Polizei offenbar nicht gerade sehr effektiv ist, wenn es um Straftaten im Internet geht? Folgte daraufhin zwar eine Debatte, aber schwieg die Politik nicht weitestgehend dazu? Die Nachricht, dass eine österreichische Ärztin zuerst ihre Klinik schloss, weil sie Anfeindungen aus der Schwurbei-Szene sehr ernst nehmen musste und für die Sicherheit des Personals nicht mehr sorgen konnte, sorgte hierzulande kaum für Reaktionen.

Es war halt Österreich. Hierzulande kommt sowas nicht vor. Als dann aber bekannt wurde, dass die Ärztin Selbstmord begang, weil sie offenbar nicht mehr weiterwusste in ihrem Bemühen um die eigene Sicherheit … da war wenigstens kurz eine Reaktion zu sehen. Ansonsten aber: Eher Schweigen im Walde.

Es gibt ein Narrativ, dass sehr gefährlich ist und an dieser Stelle zuerst abgehandelt werden muss: „Wer seine Meinung sagt, muss halt mit Reaktionen rechnen.“ Richtig. Wer eine Meinung und Haltung hat, die Anderen querliegt, wird mit Kritik an dieser Meinung leben müssen. Das war schon zur Zeiten des Leserbriefes so. Jedoch ist dort, wo es sich um Morddrohungen handelt, um Verleumdung, um Herabwürdigung des Gegenübers handelt definitiv eine rote Linie überschritten. Deswegen ist es billig zu meinen, warum auch hat er seine Meinung halt zu diesem Thema im Netz gesagt. Wenn er doch genau wußte, dass es Ärger geben würde. Es wäre ja eh besser, man würde nur noch Katzenbilder posten. Soziale Medien sind für kontroverse Diskussionen halt nicht geschaffen.

Woher auch diese Meinung nun wieder kommen mag: Es mag sein, dass mit der Entstehung der Sozialen Netzwerke die Hoffnung bestand, dass Menschen näher zusammenrücken würden. Sich durch Kommunikation miteinander verständigen würden und vielleicht, eventuell die Welt retten würden. Dies Utopie ist genau wie des Cyberspaces als Ort, an dem wir uns entfleischlichen und nur noch aus Datenströmen bestehen werden, verpufft. Der Mensch nutzt halt bestehende Systeme so, wie er vorangegangene genutzt hat. Jetzt aber kommt in den Sozialen Netzwerken nicht nur die Meinungsäußerung an sich dazu, sondern der Umstand, dass sie weltweit - soweit es keine Sprachbarriere gibt - gelesen werden kann. Ein Brief an die örtliche Zeitung lief nie Gefahr in den Großstädten der Welt publik gemacht zu werden. Er blieb dem Örtlichen verhaftet. Doch jetzt genügen wenige Klicks, um seine Meinung kundzutun. Was zum Einen sicherlich eine spannende Entwicklung ist. Dumm nur, dass Jede*r das jetzt auch noch tut. Wo man sich in früheren Zeiten schon überlegte, ob eine Meinung ein Leserbrief wert war - der dann vermutlich auch nie gedruckt wurde - ist die Hemmschwelle sehr gesunken.

Soziale Medien sind für tiefgreifende Diskussionen, in denen es um den Austausch von Meinungen geht, tatsächlich nicht geschaffen. Wenn es gelingt, dass ein zufriedenstellender Meinungsaustausch im Sinne eines Regens und Nehmens, der Toleranzregeln sowie der menschlichen Neugier stattfindet - dann ist das so selten wie ein schwarzer Schwan. Das kann gelingen. In der Regel aber eher selten. Denn es regiert halt der Mob. Man muss nur einmal das Thema Impfen erwähnen - die nächsten Tage und Nächte hat man sicherlich viel zu tun um Accounts zu blockieren. Oder gar um Screenshots anzufertigen und sie dann entweder der Polizei zu mailen oder halt diesen Knopf zum Melden bei den Netzwerken zu drücken. Das Problem, das auch Dr. Janos Hegedüs in einem Video zur Causa Frau Dr. Kellermeyr beschreibt: Selbst, als er gewisse Statements auf einer Webseite zur Anzeige brachte, reagierte die Polizei erstmal Monate gar nicht - und dann kam der Bescheid, das Verfahren sei eingestellt. Die Webseite an sich, die über Hegedüs herzog ist immer noch online. Übrigens generell ein Video, dass man sich anschauen sollte: youtu.be/RHoTreBCivs

Auf der einen Seite scheint also die Exekutive im Staat überfordert zu sein, was Hetze und Gewalt im Internet anbelangt. Auf der anderen Seite führt das aber zu einem problematischem Verhalten: Angesehene Stimme gegen Schwurbler haben sich in den letzten Tagen mehr und mehr von Twitter als Plattform verabschiedet. Sie sind - wenn vielleicht auch nur in diesem Medium - verstummt. Und Twitter, das muss man bedenken, ist eigentlich für sich gesehen eine relative überschaubare Plattform in Deutschland. Die Mehrheit ist auf Facebook oder auf Instagram. Und YouTube natürlich. Ach, TikTok ist auch noch da. Snapchat. Jedenfalls: Auch wenn man Twitter für sich gesehen nicht als „das Becken der Masse“ verstehen kann und sollte, besorgniserregend ist es schon, wenn Leute wie der Anwalt Jun als kritische Stimme Twitter verlassen und somit dort „den Dummen, die dann den Staat regieren“ mehr Raum gegeben wird. Auch, wenn er weiterhin auf YouTube aktiv sein wird - eine Stimme fehlt. Und beobachtet man die letzten Tage Twitter aufmerksamer, wird ein Unwohlsein offensichtlich. Ein Unwohlsein derer, die gerade bisher die Flagge der objektiven Wissenschaft hochgehalten haben. Ein Unwohlsein, dass dadurch entsteht, dass Gesetze entweder nicht richtig durchgesetzt werden oder letzten Endes am Ende immer „das ist von der Meinungsfreiheit komplett gedeckt“ als Ergebnis herauskommt. Siehe Dr. Hegedüs.

Was passiert, wenn man einen Mob ungezügelt walten lässt ist nicht nur in jedem Frankenstein-Hammer-Streifen sichtbar. Ein Abtun mit „das ist halt nur das Netz, das hat doch keinen Bezug zum Alltag“ sollte durch den Fall Frau Dr. Kellermeyr wohl als Argument in Grund und Boden gestampft worden sein. Menschen sind im Netz vielleicht noch eine Spur zügelloser, weil sie vermeintlich anonymer sind. Schön, Klarnamenpflicht bringt auch nichts, hat Facebook ja gezeigt: Gehetzt wird dennoch. Und wenn sich der Mob im Netz ungehemmt entfaltet, dann hat das früher oder später Auswirkungen auf den Alltag. Wenn ein Teil der Gesellschaft online die Maske der guten Bürgerschaft fallenlassen kann, dann hält sie nichts davon ab, dies auch im Büro, auf der Party und an anderen Stellen zu tun. Bekanntermaßen sinkt das Intelligenzniveau der Einzelperson, je mehr andere Personen anwesend sind. So jedenfalls ein Bonmot von Terry Pratchett. Der auch schon zum Begriff des „Besorgten Bürgers“ - wir erinnern uns an Pegida und Co., die weiterhin existieren, nur nicht so öffentlich auftreten - die richtigen Worte fand. „Wo auch immer sie sich aufhielten: Sie sprachen immer die gleiche private Sprache, in der „traditionelle Werte“ und ähnliche Ausdrücke auf „jemanden lynchen“ hinausliefen.“ - Aus „Die volle Wahrheit“.

Es ist allerdings auch nicht, da hat Dr. Hegedüs schon Recht, damit getan jetzt zum „Kampf gegen die Schwurbler“ aufzurufen. „Gewalt erzeugt Gegengewalt, hat man dir das nicht erzählt?“ - Die Ärzte, Ein Song namens Schunder. Aber wir müssen uns auf die Hinterbeine stellen. Wir müssen anmahnen, dass Gesetze durchgesetzt werden, wir müssen der Polizei notfalls immer wieder auf die Nerven gehen, wir können einfach nicht über den Umstand schweigen, dass das Netzdurchirgendwas-Gesetz kaum eine Wirkung hat. Dass Dienste Postings teilweise sehr leichtfertig sperren, aber andererseits richtige Hetze nicht in den Griff bekommen. Wir brauchen Leute mit dem Arsch in der Hose, da stimme ich Dr. Hegedüs durchaus zu. Wir müssen gegenhalten. Wir müssen das Falsche als falsch benennen, wir müssen natürlich aufklären - laut Poppers Toleranzparadoxon aber auch darauf achten, dass wir mit Leuten, die sich von selbst aus dem Diskurs rausnehmen nicht lange reden. Wer die eigene Meinung auf Teufel komm raus durchdrücken will, wer Morddrohungen ausspricht oder zutiefst persönliche Beleidigungen ausstößt - der ist vom Toleranzdiskurs halt ausgenommen. Dringend notwendig scheint aber auch ein besseres Vernetzen, ein besserer Verbund gegen diese Leute zu sein. Damit nicht der Eindruck entsteht, man sei im Netz komplett alleine, wenn man seine Meinung frei und offen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung äußert.

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