Der Hammer der Justiz - Mai 2013
Der Hammer der Justiz
: Das Gerichtswesen gehört zu den großen Klischees der Pionierzeit, wobei auch – wie immer – amerikanische Westernfilme ihren Anteil an der Fehleinschätzung haben. Im Westen gab es demnach nur „Faustrecht“, alle Streitigkeiten wurden mit Messer oder Revolver geklärt, und die Richter machten sich ihre Gesetze selber und schickten die Delinquenten am Fließband an den Galgen – natürlich alles Unsinn.
Wie schon an anderer Stelle erwähnt: Bürokratie gehört offenbar zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Wo immer menschliche Gesellschaften entstehen, ist die Bürokratie innerhalb kürzester Zeit da und organisiert den Lebensablauf.
Sosehr wir auch alle über sie jammern, weil sie uns häufig im Alltag kleinlich behindert, aber man braucht Verwaltungen für alle Lebensgrundlagen – Häuserbau, Wasserverbrauch, Energiebedarf, Abfallentsorgung, Landvermessung, Anlage von Straßen, Transportwesen, um nur einige Beispiele zu nennen, und natürlich auch für den Umgang miteinander. Streit zwischen Nachbarn, Geschäftspartnern usw. muss geregelt werden. Und zwar nicht mit dem Revolver, dem Messer oder mit der Faust – auch wenn das natürlich passiert ist, sondern am besten von neutralen Dritten, die allgemeingültige Regeln finden, damit sich soziales Leben entwickeln kann und Gerechtigkeit herrscht, so weit das überhaupt möglich ist.
Wenn kein Jurist vor Ort war, wurde aus der Mitte der Siedlerschaft ein Mensch gewählt, dem man es zutraute, mit einer gewissen Lebensweisheit zu urteilen. Das Justizwesen im amerikanischen Westen war in der Anfangszeit tatsächlich sehr auf Lebenserfahrung gegründet und nur zum Teil auf Papiervorschriften. Auch die Alltagserfordernisse für das Leben in einer in der Wildnis befindlichen, isolierten Gemeinschaft spielten eine Rolle.
Auf diese Weise wurde ein Mann wie Roy Bean in Texas zum Richter gewählt. Ein schlitzohriger Saloonwirt mit exzentrischen Lebenserfahrungen und einem feinen Gespür für die öffentliche Meinung. (Seine Gerichtsverhandlungen fanden in der Tat in seinem Saloon statt, und auch anderswo war der Saloon oft Schauplatz öffentlicher Zeremonien, weil das die einzigen öffentlich zugänglichen Gebäude mit ausreichend Platz waren.) Wenn das Gericht tagte, war der Ausschank gestoppt, danach ging es munter weiter. Das hatte aber nichts explizit mit der Gerichtsverhandlung zu tun, sondern weil der Wirt nun einmal sein Geschäft machen musste. Saloons wurden auch nicht nur für Gerichtsverhandlungen genutzt, sie waren generell soziale Treffpunkte. Hier wurden Geschäfte abgeschlossen, hier trafen sich Vereine, hier tagte das örtliche Parlament, solange es kein Rathaus gab.
Zurück zum Gerichtswesen: Es befanden sich erstaunlich viele Juristen unter den Siedlern, aber auch diese passten sich der Situation an und ließen ihre Gesetzesbücher häufig außer Acht.
Der Richter der Vigilanten von Montana, Wilbur F. Sanders, war tatsächlich Jurist – und wurde später einer der ersten Senatoren des Staates. Gestalten wie Roy Bean in Texas waren keine Juristen, sorgten aber dennoch für Ordnung. Menschenkenntnis, eine schlichte Philosophie von der Ordnung der Welt, ein Gespür für die Bedürfnisse der Menschen, ein gewisser Populismus – das waren schon ganz gute Grundlagen für einen Mann, der plötzlich dafür sorgen sollte, dass in einer Pionierkommune eine gewisse Gerechtigkeit herrschte. Hier ging es um Praxisbezogenheit, um Alltagstauglichkeit, nicht unbedingt um höhere Philosophie von Rechtsstaatlichkeit. Das kam später.
Gegenbeispiel zu Richtern aus dem Volk wie Roy Bean – der übrigens niemals ein Todesurteil sprach – war ein Mann wie Charles Isaac Parker, der zum Bundesrichter des Territoriums Arkansas ernannt wurde, um u. a. Ordnung in das ihm unterstehende Indianerterritorium Oklahoma zu bringen. Parker schickte bis Anfang der 1890er-Jahre letztlich über 60 Männer an den Galgen (nach mehr als 170 Todesurteilen) und steht heute noch als „Hängerichter“ in den Geschichtsbüchern.
Zwischen ihm und Roy Bean lagen Welten. Aber auch in Gebieten wie dem Indianerterritorium Oklahoma, das als „Last Frontier“ in die Geschichte einging, funktionierte das bürokratische System mit Einsprüchen und Berufungen gegen Gerichtsurteile bereits, sodass die meisten, die von Parker an den Galgen geschickt worden waren, am Ende mit einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe davonkamen.
Ferner muss man berücksichtigen, dass die Bezeichnung „Jurist“ nicht unbedingt dasselbe bedeutete wie in unserer heutigen Zeit. Ein Jurastudium war für einen Anwalt in Amerika zwar möglich, aber keine Pflicht. Abraham Lincoln hatte nie eine Hochschule und nie eine Universität von innen gesehen. Er war bei einem Anwalt „in die Lehre“ gegangen, d. h. er hatte als Bürogehilfe in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und sich in der Praxis die juristischen Fähigkeiten und Kenntnisse angeeignet. Innerhalb von drei Jahren legte er eine Prüfung ab und erhielt die Zulassung als Anwalt. Wie gut er war, zeigte sich daran, dass die Praxis, die er in Partnerschaft mit einem anderen Anwalt eröffnete, bald zu den erfolgreichsten im ganzen Staat Illinois gehörte. Und seine Kombination aus Lebensweisheit und juristischen Erkenntnissen prägten auch seine Präsidentschaft.
Diese Erfahrung, dass Gesetze flexibel genug sein müssen, um lokale und regionale Besonderheiten sowie menschliche Eigenarten zu berücksichtigen, ist übrigens noch heute Element des amerikanischen Justizwesens. Das Rechtssystem der USA beruht nicht allein auf der Gesetzgebung durch die Parlamente, sondern in stärkerem Maße auf den Urteilssprüchen der Gerichte auf den unterschiedlichsten Ebenen.
Die Parlamente geben nur Rahmenbedingungen vor. Mit Leben erfüllt werden diese von den Gerichten. Wenn irgendwo in den USA Gerichtsverfahren stattfinden, berufen sich Ankläger und Anwälte nur selten (wie bei uns) auf „Paragraph 123 des Bundesgesetzes XYZ“, sondern auf „die Gerichtsentscheidung Miller versus Brown im Jahr 1952 vor dem Bezirksgericht von Bent County in Colorado“.
Es werden also vergleichbare Fälle herangezogen und zum Maßstab von anderen Urteilen gemacht. Die Gerichtsurteile sind damit prägender für die Gesetzeslandschaft in den USA als Parlamentsbeschlüsse, und diese Urteile sind näher am Volk und entsprechen mehr der Alltagswirklichkeit.
Als in den 1930er-Jahren ein weißer Mann mit einer schwarzen Frau vor einem Friedensrichter (auch Standesbeamter) erschien, um zu heiraten, verbot ein Gesetz eine solche Ehe in vielen ehemaligen Südstaaten. Der Richter ritzte den beiden einen Finger auf, sammelte das heraustropfende Blut in einem Gefäß und gab es ihnen zu trinken. Danach urteilte er, dass in beiden „das gleiche Blut“ floß, und er führte die Eheschließung durch. Ein typisches Verhalten für einen amerikanischen Richter, der nach pragmatischen Lösungen suchte.
Noch heute kommt es beispielsweise vor, dass jemand, der Sachbeschädigungen verursacht hat, nicht etwa ins Gefängnis gesteckt oder zu einer Geldstrafe verdonnert wird, sondern dazu, die Beschädigungen in Ordnung zu bringen und danach noch weitere praktische Arbeiten zu verrichten, um ihm ein Gefühl dafür zu geben, dass fremdes Eigentum zu respektieren ist.
Ganz wie in Zeiten der Pioniere.
Ein weiteres besonderes Element sind in den USA die Geschworenengerichte. Vor diesen Kammern ist der Richter nur eine Art „Moderator“, der dafür zu sorgen hat, dass das Verfahren nach den juristischen Regeln abläuft und der dann das Urteil fällt. Die Frage, ob ein Angeklagter schuldig oder nicht schuldig ist, entscheiden die 12 Laienrichter, die Geschworenen. Der Richter führt lediglich die Verhandlung, achtet darauf, dass sich Zeugen, Angeklagte, Anwälte und Ankläger angemessen benehmen, dass die Rechte beider Seiten nicht verletzt werden, dass jede Seite alle gesetzlich erlaubten Mittel ausschöpft. Selbst wenn er anderer Meinung sein sollte als die Geschworenen, muss er deren Entscheidung akzeptieren und kann dann lediglich seinen Urteilsspruch interpretativ einsetzen und den Spielraum ausschöpfen, den das Strafmaß ihm zubilligt.
Diese Form der Verhandlung vor der „Grand Jury“ bringt dann tatsächlich Szenen hervor, wie wir sie aus populären Gerichtsserien im Fernsehen kennen. Ankläger und Anwälte kämpfen mit allen juristischen Tricks, aber auch mit psychologischen und theatralischen Mitteln, um die Geschworenen auf ihre Seite zu bringen. Und manchmal beeinflussen äußerlich geschickte Schachzüge die Geschworenen weitaus mehr als Indizien und papierene Argumente.
Wohl kaum wird exakter auf Formalien geachtet als in den USA. Schon wenn ein Polizeibeamter bei einer Verhaftung vergisst, den Delinquenten auf seine verbrieften Rechte hinzuweisen, kann das eine ganze Anklage zum Scheitern bringen – selbst wenn die Schuldfrage eindeutig ist. Das war schon bei Richter Parker so, und auch viele kleine lokale Gerichte legten großen Wert auf Korrektheit und Beachtung von Rechten der Angeklagten. (Mit dem Ergebnis, dass es manchmal zu Lynchjustiz kam, wie in einem früheren Beitrag ausgeführt, wenn das Volk mit dem Richterspruch nicht zufrieden war oder ihn als falsch empfand.)
Es gibt also traditionell nicht unerhebliche Unterschiede zwischen unserem europäischen Gerichtssystem und dem amerikanischen. Welches nun besser ist – darüber kann man trefflich streiten. Ich denke, dass beide Vor- und Nachteile haben und dass Fehlurteile in beiden gleichmäßig vorkommen.
Man sollte sich nur von der Vorstellung frei machen, dass in der Pionierzeit nur Barbarei herrschte. Wenn manche Urteile in Goldrauschregionen oder abgelegenen Wildnisgebieten härter ausfielen als in urbanen Gegenden, lag das allein daran, dass die Pioniergemeinschaft um ihren Erhalt fürchtete, und jeder dort wusste, dass er sich in einer Ausnahmesituation befand, die allerdings innerhalb weniger Monate in geregelte Bahnen einmündete.
Todesurteile für Pferdediebe kamen in der Tat vor, weil der Besitz eines Pferdes in einsamen Wildnisgebieten über Leben und Tod entscheiden konnte. Aber so häufig, wie in Filmen und Romanen dargestellt, waren diese Vorgehensweisen nicht.
Kommentare
Auch "Hanging Judge" Parker war ein besonderer Fall. Er musste schließlich in einer wirklich üblen Ecke dem Gesetz Geltung verschaffen. Ich vermute, das bei ihm auch etwas Religiösität dazu kam, der er sich ausersehen sah, hier wie der Zorn Gottes die Bösen zu bestrafen.
Roy Bean dagegen hat, das ist korrekt, nie einen hängen lassen - weil der ihm tot nichts mehr nützte. Dafür hat er sich aber an ihnen bereichert, wenn er die Chance sah - und notfalls wurde der Missetäter zu seinem zahmen Bären in den Käfig gesperrt. Kleinere Fälle konnten auch schon mal mit Lokalrunden bestraft werden. Schließlich gehörte der "Jersey-Lilly"-Saloon von Langtry dem Richter höchstpersönlich - und in meinen Reiseführern steht, das er heute noch besichtigt werden kann. So kam die "Strafe" nicht etwa in die Stadtkasse von Langtry, sondern in seine private Kassel - schließlich war es ja sein Saloon, wo die Drinks genommen wurden.
Bei Roy Bean in der "Wilden-Watz-Gegend" gab es keinen Anwalt oder Berufungsinstanzen - wie bei Richter Parker - weil der eben auch bei übergeordneten Behörden bekannt war, während man von der offiziellen Justiz doch etwas spät auf das "Gesetz westlich des Pecos" aufmerksam wurde.
Aber das sind nur zwei Namen, die eben auch immer wieder durch die Wild-West-Romane geistern. Klar ist auf jeden Fall das jede Stadt, wenn man sic auf einen Bürgermeister geeinigt hatte auch gleich einen Richter mit wählte. Ob der dann juristisch vorgebildet war, zählte erst mal nicht - zur Zeit der Frontier. aber die war sehr schnell vorbei - und aus dem Osten kamen immer neue Leute - auc mit juristischen Qualifikationen - oder auch Ärzte - die mit ihren schlechten Abschlüssen im Osten nichts werden konnten. Die machten dann eine Anwaltspraxis auf und meist war der ehrenamtliche Richter ganz froh, wenn er auf diese Art von einem jurisitisch vorgebildeten Mann abgelöst wurde. Das alles gehörte wie der Marshal als Stadtpolizist und der Sheriff als Landkreis-Polizist zu den wichtigsten Attributen, wenn "das Gesetz Einzug hielt" - und es wurden über diese Thematik mehr Western geschrieben als es damals Städte gab... Aber das macht nichts - hauptsache der Roman ist spannend geschrieben...
Das Grenznest Langtry, wo er amtierte, ist heute eine Geisterstadt. Beans Saloon steht noch - ich bin zweimal dort gewesen und war überrascht, wie klein dieser Saloon ist, eigentlich nicht viel größer als ein heutiges Wohnzimmer. Wie alte Fotos zeigen, fanden die Verhandlungen auch häufig vor der Tür statt, aus gutem Grund; es war innen einfach nicht genug Platz.