Eine Frage an ... Werner J. Egli: Gibt es den traditionellen Indianer noch?
Gibt es den traditionellen Indianer noch?
Ein alter „Indianer“ den ich in Montana getroffen habe, fand seine Identität nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft, sondern im Moment, in dem er sich jeden Tag aufs neue auf dem gleichen Stein am Rande des Judith Basins setzte, um ihn herum nichts als Ödland, soweit das Auge reichte. Dass er mich an einigen Tagen dorthin mitnahm, hatte etwas damit zu tun, dass er in mir nichts anders sah, als einen Gefährten auf Zeit.
Auf „seinem“ Stein war Lester mitten in seinem Leben. Nicht wissend, woher er kam und wohin er ging, bedeutete der Stein für ihn das Zentrum seiner Welt. Was er in der Ferne sah, war der Horizont seines Daseins. Alles was es um ihn herum gab, war ihm bekannt. Jeder noch so kleine und unscheinbare Stein, jeder Halm eines Grasbüschels, jedes Tier, das sich in seinem direkten Umfeld aufhielt, war ein Teil seines Lebens. Jede Veränderung, die über Nacht passierte, der Pfotenabdruck eines Kojoten , ein Büschel Fell im Dornengestrüpp, ein toter Vogel mit zerzausten Gefieder, war genau wie ich, ein Teil seiner eigenen Geschichte. „Ich brauche nirgendwo anders hinzugehen“, erklärte er mir, als ich ihm erzählte, wie es mich über viele Umwege aus der Schweiz hierher verschlagen hatte. „Du hast dich dabei nicht zu deinem Glück nicht verirrt“, meine er dazu. „Ich hingegen bin hier, weil mein Leben hier zu Ende geht. Ich weiß, dass ich einen Namen habe, aufrecht gehen kann und gern auf diesem Stein hier sitze. Ich habe eine Familie. Drei Töchter, die mich manchmal besuchen. Meine Eltern haben im Reservat gelebt. Meine Frau ist gestorben. Einmal habe ich als Eisenbahner gearbeitet. Ich war ein Bremser. Jetzt komme ich jeden Tag hierher und beobachte, was um mich herum geschieht.“
Ich sah mich um. „Geschieht hier was?“ fragte ich unsicher. „Und wie“, sagte er. „Schau den Ameisen zu, die diesen Käfer mit sich schleppen, der Spinne in ihrem Netz dort drüben im Geäst des Busches. Den Wolken über den Hügeln und ihre Schatten. Hier geschieht alles, was geschehen muss. Nichts anderes.“
Nun setzte ich mich auf einen der anderen Steine, von denen es in dieser Gegend so viele gab. Menschen, dachte ich, die sich kulturell nach ihrer Umgebung orientieren, wie das schon Lesters Vorfahren in Sibirien getan hatten, können sich nicht verirren, egal wo sie sich aufhalten, was sie tun und für wen sie sich halten. In diesem Sinn war Lester als Bremser bei der Northern Pacific genauso authentisch, wie er es jetzt als Einsiedler war, und genauso authentisch wie Mrs. Redstone, die Schullehrerin in einer Reservats-Schule, der indianische Rodeo Cowboy in Omak, der sich beim Sturz im berüchtigten „Suicide Race“ beinahe das Genick brach, Thomasine, die mir bei einem Social Dance der Kiowa-Apachen und Ponca ob ihrer Schönheit aufgefallen war, oder der Streifenwagenpolizist im Navajo Reservat, der mich auf einer schnurgeraden Strasse zwischen Nirgendwo und Nirgendwo mit seiner Radar-Kanone abschoss.
Vielleicht hatte ich mich tatsächlich bei meiner Suche nach Indianern, die ich aus Geschichtsbüchern, Filmen und Romanen kannte, verirrt. Eines ist mir jedoch in der Zeit, in der ich viel mit Indianern zusammen war, sehr bewusst geworden: Aus einem wie mir konnte keiner von ihnen werden, egal wohin ich mir die Federn steckte.
: Mit der Zeit ändert sich alles. Alte Traditionen vermischen sich mit neueren. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Das gilt auch für Indianer. Wenn ich davon ausgehe, dass nordamerikanische Indianer möglicherweise von nomadisierenden und sesshaften kleineren und größeren indigenen Völkern Sibiriens abstammen, ist es nicht verwunderlich, dass viele von ihnen manchmal in unserer Zeit und unserer Welt etwas verloren wirken. Völkerwanderungen haben ihre Vorfahren aus dem fernen Osten in großen und kurzen Zeit-Abschnitten, und unter verschiedenen Bedingungen, nach Amerika gebracht. Warum sie dort, wo sie vorher gelebt hatten, weggezogen sind, weiß heute wahrscheinlich niemand mehr, da ihre Geschichte nicht einer Schriftsprache überliefert wurden, sondern ausschließlich durch Gesänge und Erzählungen, die inzwischen längst vergessen waren.
Kommentare
Das ist schon hervorragend geschrieben.
Ja. Es gibt eine Frage (übermittelt via Facebook) und dann kommt die Antwort ... Die nächste Frage ist in Arbeit.
zitiere Andreas Decker:
Finde ich auch. Ich bin begeistert.
Es ist wohl fast 40 Jahre her, als ich meinen ersten Indianer sah. Es war in Wyoming am Rande der Big Horns. Ein Shoshone. Er stand als Flagman am Eingang einer Baustelle, trug einen gelben Schutzhelm und ein verwaschenes T-Shirt und regelte den Verkehr. In diesem Moment zerbrachen einige meiner romantischen Indianervorstellungen.
Später hatte ich ein Gespräch mit einem Blackfoot, Curly Bear Wagner, der sich über einige Esoteriker aus Europa lustig machte, die auf Reservationen kommen und in jedem Indianer einen "Medizinmann" sehen. Er sagte zu mir: "Dietmar, Du kannst heute noch Amerikaner werden. jeder kann das. Aber Du kannst kein Indianer werden. Keiner kann das."
So ist es, und warum, daß hast Du mit Deiner Geschichte wieder einmal bestens geschrieben. Es gibt tiefverwurzelte Denkweisen, die nicht zu unserer Kultur gehören und in die man hineingeboren werden muß.
Die Reservationszeit hat zudem so viele intertribale Mischungen erzeugt, daß "Traditionen" nur noch schwer eindeutg zuzuweisen sind. Mein Freund Ken Wody, ein Mohawk, Chief-Ranger am Little Big Horn, erzählte mir von seinem Großvater, der als "Plainsindianer" mit Buffalo Bill auf Tour war. Von diesem hat er seine eigene Begeisterung für die Plainskultur; seine eigene kulturelle Herkunft liegt ihm inzwischen nicht mehr so nahe. Egal: Er IST Indianer. Wir sind es nicht, und auch das hast Du wieder großartig ausgedrückt.
Danke Dietmar, ich freue mich auch immer über deine Beiträge und die Art, wie Du dein überwältigendes Fachwissen rüberbringst.
Danke Andreas für dein Lob.