Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit der Stadt Nicodemus?
Wie war das mit der Stadt Nicodemus?
: Vor etwas mehr als 140 Jahren, Anfang September 1877, begann im Nordwesten des US-Bundesstaates Kansas die Geschichte der kleinen Stadt Nicodemus.
Nach Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges waren die ehemals schwarzen Sklaven zwar formal alle „frei“, aber ihre Existenz und ihre Zukunft waren völlig ungeklärt. Bundesbehörden wie das „Freedman’s Bureau“ taten ihr Bestes, Schulen einzurichten, um vor allem die jungen Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten, aber auch Suppenküchen zu installieren, um die Heimatlosen und Hungernden zu versorgen. (Die Küchen des Freedman’s Bureaus versorgten auch verarmte weiße Südstaatler, die durch den Krieg ihren Besitz verloren hatten.)
Es bildeten sich in jenen Tagen schwarze Siedlungsgesellschaften, die davon überzeugt waren, daß die befreiten Sklaven in den Gebieten der ehemaligen Konföderation keine Perspektive hatten. Auf der Basis des 1863 in Kraft getretenen Heimstättengesetzes forderten sie ihre Brüder und Schwestern auf, nach Westen zu gehen, in die Siedlungsgebiete von Kansas, Nebraska, Oklahoma, u. a., Land abzustecken, ein neues Leben zu beginnen und sich am Aufbau des Landes zu beteiligen. Damit begann ein regelrechter Exodus befreiter Sklaven – analog dazu wurden sie häufig „Exodusters“ genannt.
In Lexington (Kentucky) entstand die „Nicodemus Town Company“ – benannt nach einem legendären schwarzen Sklaven der Bibel. (Manche Legenden nennen auch einen schwarzen Prinzen, der in die Sklaverei verschleppt wurde.)
Die Gesellschaft, die u. a. von den schwarzen Pastoren W. H. Smith und Reverend Roundtree geleitet wurde, warb um Afro-Amerikaner und führte einen Treck schwarzer Siedler nach Kansas, die hier die Siedlung „Nicodemus“ gründeten.
Heute so gut wie vergessen – es gab Dutzende rein schwarze Städte im amerikanischen Westen. Man schätzt zwischen 80 und 100, allein 6 in Kansas, über 30 in Oklahoma. Ein Aspekt der amerikanischen Pionierzeit, an den kaum noch jemand denkt.
Im Spätsommer 1877 wurden 308 Eisenbahnfahrkarten an die Siedler verteilt. Mit dem Zug erreichten sie die Bahnstation Ellis in Kansas. Von hier aus wanderte die Karawane der neuen Siedler zu Fuß, mit ihrer wenigen Habe auf dem Rücken, bis zu dem abgesteckten Siedlungsplatz und begann im September mit dem Aufbau der neuen Gemeinde. Im selben Monat wurde das erste schwarze Kind in dieser Region von Kansas geboren. Einer der maßgeblichen Führer der Siedlergruppe war der „Moses of the Black Exodus“ Benjamin „Pap“ Singleton, ein schwarzer Tischler aus Nashville (Tennessee).
Die Aussicht auf einen Eisenbahnanschluß ließ Nicodemus rasch wachsen. Um 1880 lebten bereits ca. 500 Menschen hier. Es gab eine Kirche, eine Schule, zahlreiche Geschäfte. 1887 hatte sich ein prosperierender Ort entwickelt, mit zwei Zeitungen, einer literarischen Gesellschaft, Hotels und weiteren Geschäften. Die Bewohner sammelten Geld für Anteilsscheine an der „Union Pacific Railroad“, die der Siedlung weiteren Wohlstand bringen sollte. Aber schon ein Jahr später verflogen die Blütenträume: Die „Union Pacific“ entschied, ihre neue Station 6 Meilen entfernt zu errichten. Damit sanken die wirtschaftlichen Aussichten von Nicodemus rapide.
Die Stadt begann wieder zu schrumpfen. Viele Bewohner zogen fort. Die Verbliebenen kämpften um den Erhalt ihrer Siedlung. Aber 1929 brachte die große Wirtschaftskrise der USA die meisten kleinen Farmen rings um Nicodemus zum Zusammenbruch. 1935 hatte der Ort nur noch 76 Bewohner. Alle anderen waren in wirtschaftlich besser strukturierte Regionen gezogen. 1953 schloß das örtliche Postamt – da lebten noch 16 Menschen hier. Nicodemus war zur Geisterstadt geworden. Aber die letzten Bewohner harrten eisern aus.
Zu den prominenten Bürgern der kleinen Gemeinde zählte Edward McCabe, der erste schwarze Wirtschaftsprüfer (State Auditor) der Regierung von Kansas.
1976 stellte der amerikanische Nationalpark Service die verbliebene Gemeinde unter Schutz – denn inzwischen gab es von den einst ca. 100 rein schwarzen Siedlungen im Westen nur noch diese. Alle anderen waren entweder verschwunden oder durch Zuzug von Siedlern anderer ethnischer Zugehörigkeit vermischt worden und hatten ihren Ursprungscharakter verloren – vielfach wissen heutige Bewohner solcher Städte nicht einmal mehr, daß ihre Kommunen einst von ehemaligen Sklaven gegründet und jahrelang rein schwarze Gemeinden gewesen waren. (Dazu gehören z.B. Langston, Boley und Summit in Oklahoma.)
Nur noch Nicodemus in Kansas ist erhalten. 1996 wurde der Ort zum „National Historic Site“. Neben Angestellten des Nationalpark-Service leben hier noch immer 20 Menschen, die alle von den ersten Siedlern abstammen, die im September 1877 hier eintrafen.
Der Besuch von Nicodemus über den verlassenen US Highway 24 - ich bin zweimal dort gewesen - ist in gewisser Weise „hardcore history“, aber man sollte dieses Kapitel amerikanischer Geschichte nicht vergessen.
Immer am letzten Wochenende im Juli treffen sich die direkten Nachkommen der ersten Siedler von Nicodemus in der Siedlung ihrer Vorfahren und halten Paraden und Gedenkveranstaltungen ab. Ein Stück amerikanische Pioniergeschichte, das des Erinnerns wert ist.
Meine Fotos zeigen das Werbeplakat der Siedlungsgesellschaft, ein altes Bild der aufstrebenden Gemeinde von ca. 1885, die erste Kirche von 1877, die heutige Mainstreet von Nicodemus und das 1939 errichtete Community Center, in dem heute der Nationalpark-Service residiert. Leider nur s/w; ich habe damals noch analog fotografiert.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de