Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit den Nez Perce?
Wie war das mit den Nez Perce?
: Vor 150 Jahren, im Sommer 1877, gerade ein Jahr nach dem Untergang von Custers 7. Kavallerie am Little Bighorn, erschütterten Pressemeldungen über den Krieg mit einem kleinen Indianervolk im Westen die Vereinigten Staaten.
Die Kriegertradition der Nez Perce, die zur Kulturregion des Plateau im pazifischen Nordwesten gehörten, beruhte auf Konflikten mit anderen Stämmen, etwa im Kampf um Bison-Ressourcen. Den Weißen gegenüber hatten sie sich grundsätzlich friedlich verhalten. Die Lewis & Clark Expedition hatten sie 1805 unterstützt und später sogar um die Entsendung von katholischen Missionaren gebeten. 1855 unterschrieben sie in Fort Walla Walla einen Vertrag, mit dem sie ihre alte Heimat aufgaben und in eine große Reservation im heutigen Idaho zogen. Als hier 1860 Gold entdeckt wurde und mehr als 5.000 Prospektoren illegal in das Nez Perce-Gebiet eindrangen, verlangte die Regierung, daß die Nez Perce auf 90% ihrer Reservation verzichten sollten. Ein kleiner Teil des Stammes akzeptierte die neuen Konditionen. Der größte Teil der Nez Perce weigerte sich, dem Bruch des Walla-Walla-Vertrags zuzustimmen.
In den folgenden 10 Jahren wurde zwar verhandelt, aber die Spannungen zwischen den Indianern, der Armee und der wachsenden Zahl Goldsucher und Farmer, die rechtswidrig in das traditionelle Heimatgebiet der Nez Perce im Wallowa Valley eindrangen, wuchsen. Sie erreichten ihren Höhepunkt in den Jahren 1876 und 1877. Der Konflikt eskalierte, als die Armee die Nicht-Vertrags-Nez Perce ultimativ aufforderte, in die kleine Reservation in Idaho umzuziehen.
Was dann folgte, gehört zu den großen Dramen des amerikanischen Westens. Mehrere Stammesgruppen der Nez Perce unter den Häuptlingen Joseph, Looking Glass, White Bird u. a. – insgesamt etwa 250 Krieger und ca. 500 Frauen und Kinder, dazu etwa 2.000 Pferde (der größte Schatz der Nez Perce) – beschlossen im Juni 1877, vor den Drohungen der Armee zu flüchten. Ihre Hoffnungen ruhten zunächst auf den traditionell mit ihnen befreundeten Crow-Indianern. Als diese sich weigerten, die Nez Perce zu unterstützen, faßten die Häuptlinge den Beschluß, nach Kanada, ins „Land der Großen Mutter“ (Königin Victoria) zu ziehen und sich mit der Lakota-Gruppe von Sitting Bull zu vereinigen, die nach dem Kampf am Little Bighorn dorthin geflüchtet war.
Die Odyssee durch Idaho und Montana entwickelte sich zu einer wahren Heldensaga in der Geschichte der letzten Indianerkriege und zu einem Albtraum für die US-Armee. Auf ihrem fast 2.000 km langen Weg gab es nicht weniger als 18 Zusammenstöße mit der Armee und 4 größere Schlachten. Die kleine Kriegerschar widerstand und siegte in fast allen diesen Auseinandersetzungen gegen meist zahlenmäßig überlegene Truppen. Am Ende waren rd. 2.000 Soldaten in die Verfolgung der Nez Perce involviert. Ihre Unterwerfung wurde zu einer prinzipiellen Prestige-Angelegenheit, zumal die meisten Presseorgane und die Öffentlichkeit im amerikanischen Osten sich auf die Seite der Indianer stellten.
Zu den bekanntesten Auseinandersetzungen zählt die Schlacht von Big Hole im Westen Montanas.
Die Flucht der Nez Perce endete in den letzten September-Tagen nur 40 Meilen vor der kanadischen Grenze, als die Häuptlinge irrigerweise glaubten, die Verfolger abgeschüttelt und bereits kanadischen Boden erreicht zu haben. Die völlig erschöpften Indianer wurden am 30. September am Fuße der Bear Paw Mountains von der Armee überrascht und eingeschlossen.
Was heute selten erwähnt wird: die Armee wurde von Lakota- und Cheyenne-Kriegern begleitet und unterstützt, die die Nez Perce als Feinde ansahen.
Chief White Bird schaffte es, sich mit seiner Lamátta-Gruppe durch die Reihen der Belagerer zu schleichen und nach Kanada zu Sitting Bull zu entkommen. Die verbleibenden 418 Nez Perce mußten am 5. Oktober 1877 aufgrund von Hunger, Erschöpfung, Kälte und Munitionsmangel aufgeben. Chief Joseph übergab seine Winchester und wurde mit seiner Kapitulations-Rede unsterblich: „Ich bin des Kämpfens müde. … Mein Herz ist krank und traurig. Von dem Punkt, an dem die Sonne jetzt steht, werde ich nie wieder kämpfen.“
Die Nez Perce wurden zunächst nach Fort Buford gebracht, dann nach Fort Abraham Lincoln – wo viele Bürger der benachbarten Stadt Bismarck ihre Sympathie mit den Indianern bekundeten, indem sie sie mit Essen und Decken versorgten. Dann wurden sie nach Fort Leavenworth in Kansas deportiert. Erst 1885 wurde ihnen erlaubt, in den pazifischen Nordwesten zurückzukehren. Chief Joseph mußte sich in der Colville Reservation im Bundesstaat Washington niederlassen, wo er 1904 starb – an „gebrochenem Herzen“, wie sein Arzt sagte.
Die Flucht der Nez Perce, seine Kapitulation und sein Auftreten danach machten ihn zu einem Mythos. Amerikanische Zeitungen ernannten ihn zu einem „roten Napoleon“, einem militärischen Genie - und zeigten damit, bei aller Bewunderung, ihre Unkenntnis der sozialen und politischen Struktur von Indianervölkern. Bei allem Respekt vor seiner Persönlichkeit – nichts konnte falscher sein. Joseph war ein Friedenshäuptling, ein Diplomat, ein großer Verhandler. Die militärischen Erfolge der Nez Perce gingen auf Häuptlinge wie seinen Bruder Ollokot, Looking Glass, Toohoolhoolzote und White Bird zurück. Aber als die Kapitulation anstand, war Joseph der letzte der Häuptlinge, der noch da war, also wurden ihm kurzerhand die zurückliegenden Siege über die Armee zugeschrieben. Und es war seine Persönlichkeit, die den Nez Perce letztlich große Sympathien in der amerikanischen Öffentlichkeit eintrug. Die „New York Times“ schrieb 1877: „Der Nez Perce Krieg war, was unsere Seite betrifft, in seinem Ursprung und seiner Motivation nichts als ein gigantischer Fehler und ein Verbrechen.“ Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. In diesem Sommer wird an verschiedenen Schauplätzen der Ereignisse vor 150 Jahren gedacht.
Ich habe den Nez-Perce-Krieg schon 2006 in allen Einzelheiten in meiner Arbeit „Ich bin des Kämpfens müde“ für die militärwissenschaftliche Zeitschrift „Pallasch“ beschrieben. (Nachgedruckt in „Soldiers – Amerikanische Militärgeschichte, 2013).
Die Bilder zeigen Chief Joseph (1840-1904) und Perspektiven vom Bear-Paw-Schlachtfeld im Norden Montanas (darunter ein Stein, an dem noch die Kugeleinschläge des Kampfes sichtbar sind), sowie Josephs Winchester Modell 1866 in einem Museum von Fort Benton.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de