Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit John Henry ›Doc‹ Holliday?
Wie war das mit John Henry ›Doc‹ Holliday?
: Vor mehr als 130 Jahren, am 8. November 1887, starb eine der legendärsten Gestalten der Frontier-Geschichte Amerikas, der heute untrennbares Element der Western-Folklore ist: John Henry „Doc“ Holliday.
Schon zu Lebzeiten galt er in den westlichen Gebieten der USA als einer der gefährlichsten und schnellsten Revolvermänner – dieses Bild wurde bis heute durch zahllose Filme und reißerische Literatur multipliziert und gepflegt. Die Wahrheit war tatsächlich profaner. Im Grunde verdankte Holliday einen Großteil seines Ruhms – besser gesagt seines Rufs – der Tatsache, dass er ein jahrelanger Freund Wyatt Earps war.
Folgt man seinem Lebenslauf, kann man Doc Holliday als Beispiel für die Entstehung von Western-Legenden ansehen – viel Rauch, wenig Feuer. Damit stellt er ein Exempel für viele andere pittoreske Gestalten der Zeit der amerikanischen Westwanderung dar, die in der populären Geschichtsschreibung zu Ikonen mutierten.
John Henry Holliday wurde am 14. August 1851 in Griffin (Georgia) geboren, einem zentralen Umschlagplatz für Baumwolle. Hier arbeitete sein Vater als Apotheker.
John Henry kam mit einer Gaumenspalte zur Welt, die operativ korrigiert werden musste. Danach musste er völlig neu sprechen lernen. Dieser Aufgabe widmete sich vorwiegend seine Mutter, weshalb zwischen ihm und ihr ein besonders enges Verhältnis entstand.
Während des Bürgerkrieges (1861-65) diente sein Vater als Major der 27. Georgia Infanterie der konföderierten Armee. 1864 zog die Familie in die Nähe der Stadt Valdosta um sich in Sicherheit zu bringen; Griffin befand sich auf der Route von General Shermans „Marsch durch Georgia“. In Valdosta starb 1866 Hollidays Mutter an Tuberkulose.
Entgegen häufig verbreiteten Legenden, hatte sich John Henry Holliday nicht als Zahnarzt bei einem Patienten mit dieser Lungenkrankheit infiziert, sondern war bereits von seiner Mutter angesteckt worden.
Der Tod der Mutter war für den 15jährigen Holliday ein Schock, den er schwer überwinden konnte. Sein Vater heiratete 3 Monate später eine Frau, die nur wenige Jahre älter als Holliday war. Der Junge fand nie eine richtige Beziehung zu seiner Stiefmutter und schloss sich mehr der Familie einer Cousine an – die vermutlich sogar seine erste Liebe war. (Über diese Cousine – Martha Anne Holliday – gab es eine sehr entfernte verwandtschaftliche Beziehung zu Martha Mitchell, die mit ihrem Roman „Vom Winde verweht“ zu Weltruhm gelangte.) Seine erste schulische Ausbildung erhielt er am Valdosta-Institut in Rhetorik, Grammatik, Mathematik und Sprachen.
Mit 19 Jahren ging er nach Philadelphia und schrieb sich hier am College für Zahnchirurgie ein. 1872 graduierte er mit besten Zensuren, erhielt sein Diplom als Zahnarzt aber – entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen – erst an seinem 21. Geburtstag. (Dieses College ist heute Teil der University of Pennsylvania.)
Er kehrte nach Georgia zurück und arbeitete zunächst für einen angesehenen Zahnarzt, bevor er seine erste eigene Praxis eröffnete. Inzwischen hatte sich seine Tuberkulose verschlimmert. Dem Rat von Ärzten folgend, gab er seine Praxis 1873 wieder auf und zog in den Westen, dessen trockenes Klima ihm Linderung seiner Krankheit versprach.
Über seine Zeit in Georgia gibt es überwiegend nicht belegbare Gerüchte. Angeblich war er hier bereits in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt und hatte einen Afro-Amerikaner erschossen. Vermutlich handelte es sich bei dieser Geschichte bereits um reine Fantasie späterer Autoren.
Im September 1873 unterhielt Holliday in Dallas (Texas) zusammen mit Dr. John Seegar wieder eine Zahnarztpraxis. Zusammen mit Seegar erhielt Holliday Auszeichnungen für überragende Leistungen bei der Herstellung von Zahnprothesen. Trotz der glänzenden beruflichen Aussichten, offenbarte sich bei ihm in Dallas eine verhängnisvolle Leidenschaft für das Kartenspiel. Angeblich geriet er häufig in Streit mit anderen Spielern. 1875 wurde er wegen eines Schusswechsels mit einem Saloonbesitzer verhaftet. Danach verließ er Dallas und zog ruhelos durch verschiedene Städte von Texas, Colorado, Wyoming und den Dakotas. In fast allen Boomtowns dieser Regionen, von Denver bis Deadwood, verdiente er sein Geld am Spieltisch und bot gleichzeitig zahnärztliche Behandlungen an.
In einer dieser wilden Städte lernte er Mary Katherine Harony, besser bekannt als Kate Elder, noch besser bekannt als „Big Nose Kate“ kennen, eine in Deutsch-Ungarn geborene Prostituierte, die ihn für Jahre seines Lebens begleiten sollte. (Sie überlebte ihn bis 1940.)
In Dodge City (Kansas), wo Holliday einen Spieltisch mietete und gleichzeitig in seinem Hotelzimmer im „Dodge House“ als Zahnarzt praktizierte, lernte er Wyatt Earp kennen, der hier als Assistant Marshal (Stellvertreter des Polizeichefs) arbeitete. 1878 geriet Wyatt Earp in einem Saloon in eine prekäre Situation mit mehreren angetrunkenen Cowboys, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hatten. Holliday saß im Hintergrund an seinem Spieltisch, zog seinen Revolver und zwang die Cowboys, ihre Waffen abzulegen.
Wyatt Earp selbst erklärte seither, dass Holliday ihm das Leben gerettet habe. Von diesem Zeitpunkt an waren die beiden Männer befreundet – eine Beziehung, die weder Earps Brüdern noch seinen anderen Freunden je verständlich war, denen Holliday immer als launisch und unberechenbar galt.
Nach einem kurzen Aufenthalt in New Mexico, wo Holliday und Big Nose Kate einen kleinen Saloon betrieben, folgten sie 1880 den Earps nach Tombstone (Arizona). Hier amtierte Virgil Earp als Deputy US Marshal und Polizeichef der Stadt. Morgan Earp war Deputy Marshal, Wyatt Earp zeitweise Deputy Sheriff des Cochise County.
Gerüchte, dass Holliday hier an einem Postkutschenraub beteiligt war, wurden von der Clanton-Fraktion aufgebracht und stellten sich als Verleumdung heraus. Allerdings war Holliday in zahlreiche Auseinandersetzungen in den Spielhöllen der Stadt verwickelt. Meist war er angetrunken – sein Alkoholkonsum war enorm. Mehrfach wurde er von Virgil Earp festgenommen und zur Ausnüchterung eingesperrt.
Am 26. Oktober 1881 vereidigte Virgil Earp ihn – zusammen mit seinen Brüdern – als Deputy Marshal. Holliday begleitete die Earps zum OK Corral Mietstall, wo es zum Kampf mit den Clantons und McLaurys kam. Er war somit am berühmtesten Revolverduell der amerikanischen Pionierzeit beteiligt.
Holliday war mit einer Schrotflinte bewaffnet. Er tötete Tom McLaury mit einer Schrotladung in den Bauch. Frank McLaury hatte vorher gerufen: „Ich kriege dich jetzt!“ Holliday hatte angeblich geantwortet: „Verpiss dich! Du wärst der Größte, wenn Du das könntest.“
Dann feuerte er erneut. Frank McLaury starb an der Schrotladung und einem Treffer am Kopf, der vermutlich von Morgan Earp stammte. Holliday verwundete angeblich auch Billy Clanton.
Nachdem Virgil Earp einige Wochen später heimtückisch zum Krüppel geschossen und Morgan Earp hinterrücks ermordet worden war, begann Wyatt Earp seinen sogenannten „Vendetta Ride“, da er seitens der County-Behörden keine Ahndung der Anschläge auf seine Brüder erwarten konnte. Er war zeitweise zum Deputy US Marshal ernannt worden und verpflichtete formal mehrere Männer, darunter auch Doc Holliday, als Gehilfen. Als legitimiertes Aufgebot machte er Jagd auf alle, die an den Attentaten auf seine Brüder beteiligt waren. Holliday war zweifellos dabei, als Frank Stilwell auf der Bahnstation von Tucson gestellt und erschossen wurde.
Danach verließen Earp und Holliday Arizona. Holliday blieb allein in Colorado, nachdem es zu einem persönlichen Zerwürfnis zwischen ihm und Wyatt Earp gekommen war. Earp war in Tombstone eine Beziehung mit der Tänzerin und Schauspielerin Josephine Sarah Marcus eingegangen, die jüdischen Glaubens war. (Mit ihr blieb er bis zum Ende seines Lebens zusammen.) Als Holliday im angetrunkenen Zustand eine antisemitische Bemerkung fallen ließ, trennte sich Earp von ihm.
Gleichwohl leistete er seinem ehemaligen Freund noch einmal Hilfe: Die Behörden Arizona erließen nach Ende der Tombstone-Fehde nur gegen Doc Holliday einen Haftbefehl und stellten 1882 ein Auslieferungsersuchen an den Staat Colorado. Als Wyatt Earp davon hörte, kontaktierte er seinen alten Freund Bat Masterson, der zu jener Zeit Polizeichef von Trinidad war und gute Beziehungen zum amtierenden Gouverneur von Colorado hatte. Masterson konstruierte ein angebliches Vergehen Hollidays in Colorado und behauptete, ihn in Haft nehmen zu müssen. Der Gouverneur lehnte daraufhin die Auslieferung Hollidays ab – unter der Bedingung, dass er sich in Colorado keinerlei Gesetzesverstöße schuldig machte.
Tatsächlich führte Holliday in den nächsten Jahren ein recht jämmerliches Leben. Um Ärger mit dem Gesetz und damit eine mögliche Auslieferung nach Arizona zu vermeiden, ging er jedem Konflikt aus dem Weg, selbst in für ihn demütigenden Situationen. Nur einmal wehrte er sich, als ein Barkeeper ihn physisch bedrohte und schoss den Mann an. Er wurde freigesprochen.
Er schlug sich mehr schlecht als recht als Spieler in den Minenstädten Colorados durch, war ständig verschuldet, während seine Tuberkulose sich immer mehr verschlimmerte. In einem Interview für einen sensationshaschenden Artikel wurde er gefragt, ob er angesichts seines ruchlosen Lebens kein schlechtes Gewissen habe. Holliday antwortete: „Mein Gewissen habe ich zusammen mit dem größten Teil meiner Lunge herausgehustet.“
Schließlich suchte er medizinische Hilfe in Glenwood Springs. Diese Stadt in den Rocky Mountains war schon im 19. Jahrhundert ein Kurort für Lungenkranke. Hier starb er am 8. November 1887 im Alter von 36 Jahren – im Bett. Nicht in einer dramatischen Schießerei, wie es seiner Legende entsprochen hätte. Seine letzten Worte waren: „This is funny.“ (Das ist komisch.)
Ob er tatsächlich in dem Grab liegt, das auf dem Friedhof von Glenwood Springs gekennzeichnet ist, weiß niemand.
Gerüchte besagen, dass er dem Inhaber der Pension, in der er zum Schluss wohnte, die Miete schuldig war und der Mann den Leichnam zu Versuchszwecken an die medizinische Fakultät einer Universität verkaufte – nicht ungewöhnlich in jener Zeit. Danach wurde nur ein Sack mit Steinen in den Sarg gelegt.
Entgegen seinem spektakulären Ruf, entgegen den über ihn verbreiteten Geschichten, dass er in jeder Stadt, in der er gewesen war, Tote und Verletzte hinterlassen habe, dass er einer der „schnellsten Männer mit dem Sechsschüsser“ gewesen sei, ergibt eine genauere Untersuchung seines Lebens, dass er zwar an mehreren Schießereien beteiligt war, aber höchstens 2 oder 3 Männer getötet – inklusive im Gunfight am OK Corral –, sowie 8 Männer verletzt hatte, und das immer in Selbstverteidigung. Mehr geben die lokalen Zeitungsberichte über ihn nicht her. Alles andere ist eine pure Übertreibung von Sensationsautoren aus dem amerikanischen Osten.
Auch hier gilt: Legenden haben ihre eigene Wahrheit.
Meine Fotos zeigen John Henry Holliday, das „Dodge House“, wo er in Dodge City wohnte, die Zeitungsannonce, mit der er seine zahnärztlichen Dienste anbot, den „Silverdollar Saloon“ und das „Delaware Hotel“ in Leadville (Colorado), wo Holliday in seinen letzten Jahren Spieltische betrieb, einen Spieltisch im "Birdcage Theater" in Tombstone, wo er oft zu Gast war, ein Denkmal für Doc Holliday und Wyatt Earp am Bahnhof von Tucson, wo sie Frank Stilwell erschossen, und die beiden Monumente, die sein Grab in Glenwood Springs markieren (das erste ist schon älter - mit falschem Geburtsjahr, das letzte neueren Datums).
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de