Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit dem »Ashishishe«?
Wie war das mit dem »Ashishishe«?
: Gestern habe ich an White-Man-Runs-Him, einen der prominenten Scouts von G. A. Custer am Little Bighorn erinnert. Neben ihm war es vor allem ein anderer junger Crow-Indianer, der nach der Schlacht die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit erregte: Curly.
Unter dem Namen „Ashishishe” wurde er vermutlich 1856, also vor 162 Jahren, geboren. Man kann Curly (manchmal auch „Curley“ geschrieben) mit Fug und Recht als frühes Opfer der Sensationspresse ansehen, die es auch im 19. Jahrhundert schon gab.
Curly meldete sich wie andere junge Crow-Krieger zur US-Armee, um gegen die alten Feinde seines Volkes, die Sioux und Cheyenne, zu kämpfen. Er war zu diesem Zeitpunkt schon mit „Bird Woman“ verheiratet.
Als Custer die Crow-Scouts – nach deren Angaben – nur kurz vor der Schlacht entließ, weil er ihre Überzeugung, daß der kommende Kampf verloren gehen würde, als defätistisch einstufte, zog sich Curly zurück und beobachtete die Schlacht aus der Distanz. So wurde er Augenzeuge der Vernichtung des Custer-Kommandos, brachte sich in Sicherheit und stieß an der Mündung des Bighorn River in den Yellowstone auf das Dampfschiff „Far West“, das mit Proviant und Ausrüstung für die Armee beladen war. Hier berichtete er von der Niederlage der 7. Kavallerie.
Curly erzählte wahrheitsgemäß, daß er den Kampf für vielleicht eine halbe Stunde aus der Ferne beobachtet habe. Dann hielt er es für besser, zu flüchten. Nur wenig später begannen Reporter das Bild des attraktiven jungen Kriegers zu verbreiten und phantasievolle Geschichten über seine Teilnahme an der Schlacht und seine wundersamen Flucht zu erzählen. Er wurde zeitweise als „einziger Überlebender von Custers Kommando“ gefeiert – was völliger Unsinn war.
Curly selbst stritt diese Geschichten lange Zeit ab, wann immer er darauf angesprochen wurde. Irgendwann aber war er müde, sich dagegen zu wehren, als „Held vom Little Bighorn“ gefeiert zu werden. Er schwieg einfach, und später erzählte seine Familie einige phantastische Stories über seine Flucht aus dem wildesten Schlachtgetümmel: Danach hatte er einem erschossenen Pferd den Leib aufgeschnitten, die Därme herausgerissen und sich im Kadaver versteckt. Eine weniger spektakuläre Geschichtete von ihm lautete, daß er sich Kleidung und Kopfschmuck eines Lakota-Kriegers aneignete und auf diese Weise unerkannt fliehen konnte. Das empörte schließlich sogar die ehemaligen Feinde. Lakota- und Cheyenne-Teilnehmer an der Schlacht beschimpften Curly als „Großmaul“, und viele Crow-Indianer distanzierten sich von ihm.
Der Autor Thomas Leforge, der jahrelang unter den Crow-Indianern lebte, schrieb in seinem Buch „Memoirs of a White Crow Indian“ (1928): „Ich war Dolmetscher von Lieutenant Bradley, als er Curly mehrere Tage nach der Schlacht verhörte. Er wurde als ‚einziger Überlebender‘ bezeichnet. Aber er selbst behauptete das nicht. Im Gegenteil. Wieder und wieder sagte der junge Scout: ‚Ich habe nicht am Kampf teilgenommen.‘ Wenn er von anderen beglückwünscht wurde erklärte er: ‚Ich habe nichts Großartiges getan.‘ … Einige Schriftsteller machten Curly zum romantischen Objekt ihrer fantasievollen Geschichten. Er wurde entgegen seinem Willen wie ein Held behandelt. Er konnte nicht lesen, er sprach nur wenig Englisch, und wahrscheinlich sah er keinen Grund, sich ständig zu erklären. … Angeklagt wurde er von den Sioux, die sagten: „Curly ist ein Lügner. Niemand von Custers Leuten ist uns entkommen.“ Aber Curly war kein Lügner. Er wiederholte immer wieder, daß er nicht an dem Kampf teilgenommen hatte. … Ich kannte ihn von Kindheit an bis zu seinem frühen Tod. Er war ein guter Junge. Ein unauffälliger, stiller junger Mann, ein zuverlässiger Scout.“
Curly wurde später von der Reservationsagentur als Polizist angestellt. Er ließ sich von seiner Frau scheiden, heiratete erneut und hatte eine Tochter. Aufgrund der prominenten Rolle, die ihm von der Boulevard-Presse zuerkannt wurde, war er in seinen letzten Jahren in der Reservation ziemlich isoliert und lebte in einer kleinen Hütte am Little Bighorn, unweit des Schlachtfeldes. (Seine Hütte steht heute in Cody (Wyoming) im Freilichtmuseum “Old Trail Town“.) 1923 starb er an Lungenentzündung.
Seine Tochter war “Bird of Another Year”; sie wurde später auf den Namen „Dora“ christlich getauft.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de