Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Mary Elizabeth „Libby“ Haley Thompson?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit Mary Elizabeth Haley Thompson?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Am 13. April starb eine Frau, die heute meist nur noch Kennern der amerikanischen Pioniergeschichte ein Begriff ist, die es aber wert ist, dass man sich an sie erinnert: Mary Elizabeth „Libby“ Haley Thompson. Sie war besser bekannt als SQUIRREL-TOOTH ALICE; eine “soiled dove“, wie man damals sagte, ein „schmutziges Täubchen“. Sie war eine Prostituierte in den wilden Pioniertagen des amerikanischen Westens, die ihren populären Spitznamen – „Eichhörnchen-Zahn“ – wegen einer auffälligen Zahnlücke erhielt, und weil sie gelegentlich Präriehunde als Haustiere hielt.

Ihr Leben war so lang, abenteuerlich und facettenreich, dass es erstaunlich ist, dass sie im Schatten von Frauen wie Calamity Jane steht, deren Biografie fast vollständig frei erfunden war.

Elizabeth „Libby“ Thompson wurde 1855 in Belton (Texas) geboren. Ihre Eltern besaßen eine kleine Farm. 1864, gegen Ende des Krieges, griffen Comanchen den Besitz an und brannten ihn nieder. Die Eltern kamen wie durch ein Wunder mit dem Leben davon, aber die kleine Elizabeth wurde entführt. Sie lebte bis 1867 bei den Indianern; dann gelang es ihren Eltern, sie freizukaufen. Zwar war sie wieder bei ihrer Familie, aber ihr Leben war nicht mehr dasselbe. Das gerade dreizehnjährige Mädchen galt bei allen Nachbarn als „gebrandmarkt“. Sie wurde als „Indianerhure“ bezeichnet und als Außenseiterin angesehen, obwohl niemals bewiesen wurde, dass sie tatsächlich sexuell mißbraucht worden war. Und selbst wenn – es war ja nicht ihre Schuld, dass sie entführt worden war. Als sie einen älteren Mann kennenlernte, der sie heiraten wollte, kam es zum Bruch mit ihrer Familie. Ihr Vater lehnte den Mann ab – und erschoss ihn.

Die vierzehnjährige Elizabeth lief danach von daheim weg, landete auf der Straße und tauchte irgendwann in der wilden Cowboystadt Abilene in Kansas auf.

In jenen Tagen, zumal in den ungeordneten Pioniergebieten, hatte ein junges Mädchen wenige Optionen für ein bürgerliches Leben. Wenn sie nicht eine Ehe einging, konnte sie als Wäscherin und Näherin arbeiten, oder sich in einem Saloon als Tänzerin verdingen – was letztlich meistens in der Prostitution endete. Genauso kam es. Elizabeth wollte nicht verhungern, also wurde sie zum “Upstairs Girl“, wie man ebenso freundlich wie abfällig sagte – zu einer Tänzerin, die jede Nacht gegen Geld Männer mit in ihre Kammer über der Tanzhalle nahm.

In Abilene lernte sie den 1845 in England geborenen Spieler und Cowboy Billy Thompson kennen, den Bruder des berühmt-berüchtigten Revolvermannes Ben Thompson. Die beiden wurden zeitweise unzertrennlich. Gleichwohl war es eine Ehe, die von pausenlosen Turbulenzen geprägt war. Er arbeitete als Viehtreiber auf dem Chisholm Trail und verdiente sich danach sein Geld an den Spieltischen von Abilene und Wichita, während Elizabeth weiter in den Tanzhallen der Cattle Towns arbeitete.

1873 heirateten beide. Aus “Libby“ Haley wurde Elizabeth Thompson. Sie brachte ihr erstes Kind zur Welt. Aber im August 1873 erschoss der völlig betrunkene Billy Thompson in Ellsworth den Sheriff Chauncey B. Whitney. Das Paar flüchtete nach Texas, wo Billy Thompson von Texas Rangers gestellt und zurück nach Kansas gebracht wurde.

Ein Gericht urteilte milde und stufte den Tod des Sheriffs als „Unfall“ ein. Kurz darauf tauchten Billy und Elizabeth in Dodge City auf. Er verdiente sein Geld als Spieler, sie wieder als Tanzhallengirl.

Billy Thompson war ein notorischer Gesetzloser, der im Laufe seines Lebens 4 Männer umbrachte und einen fünften schwer verletzte. Jedesmal entkam er einer gerechten Strafe, obwohl er in mehreren Bundesstaaten gesucht wurde.

Es war ein ständiges Auf und Ab: Mal lebte er kurzzeitig mit seiner Famile, dann zog er wieder rastlos durch die Spielhallen der Boom-Städte an der Wildnisgrenze. Elizabeth musste die meiste Zeit allein für die wachsende Familie sorgen.

Von Dodge City aus zogen die Thompsons zunächst nach Colorado und von hier aus wieder nach Texas. In der Nähe von Sweetwater konnten sie eine kleine Ranch kaufen. Während Billy Thompson die geregelte Arbeit als Viehzüchter immer wieder verließ und sich dem Glücksspiel hingab, mietete Elizabeth in Sweetwater ein Haus und eröffnete einen Saloon mit gutgehendem Bordell.

In den folgenden Jahren brachte sie 7 Kinder (einige Quellen sagen sogar 9) zur Welt – von denen drei nicht von Billy Thompson stammten. (Einer ihrer Söhne lebte bis 1986.)

1897 starb Billy Thompson in Houston (Texas) vermutlich an Magenkrebs. Elizabeth hatte schon vorher die Familie und ihr Geschäft allein versorgt. Sie führte ihr Bordell in Sweetwater bis 1921; dann setzte sie sich zur Ruhe.

Elizabeth Thompson - „Squirrel-Tooth“ Alice - verkaufte ihren Besitz in Texas und zog nach Kalifornien, wo sie am 13. April 1953, im Alter von 98 Jahren, in einem Altersheim, dem „Sunbeam Rest Home“, in Los Angeles starb.

Sie hatte, angefangen von den Comanchenkriegen in Texas, über die Zeit der Rindertrails und der wilden Cowboystädte in Kansas, bis hin zur Besiedelung der Prärien und dem Übergang ins 20. Jahrhundert, alle Höhepunkte der amerikanischen Pionierzeit miterlebt. Sie hatte auch die dunkelsten Perioden dieser Ära erfahren: die Entführung durch Indianer, das harte Leben in den von Rücksichtslosigkeit und Gewalt geprägten Siedlungen an der Zivilisationsgrenze. Es war eine Zeit, in der eine junge Frau nur geringe Chancen auf Anerkennung und Würde hatte; aber sie hatte sich selbst nie aufgegeben. Sie hatte überlebt, und das war in jenen Tagen schon eine Leistung an sich.

Die meisten Mitbewohner des Altersheims, in dem sie starb, wußten nichts von der Odyssee, die die kleine, gebrechliche Frau mit der großen Zahnlücke in fast 100 Jahren hinter sich gebracht hatte.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2019Die aktuelle Ausgabe

 

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.