Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Jesse Chisholm?
Wie war das mit Jesse Chisholm?
: Am 4. März 1868 starb ein Mann, dessen Name zu den großen Legenden des amerikanischen Westens gehört, obwohl er mit dem Mythos, der damit verbunden ist, gar nichts zu tun hatte: JESSE CHISHOLM.
Seltsamerweise wird nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA häufig angenommen, dass er ein texanischer Großrancher war, der nach dem Bürgerkrieg große Rinderherden zu den Bahnstationen in Kansas getrieben hat.
Nichts könnte falscher sein.
Als der Boom der großen Rindertrecks einsetzte, war Chisholm gerade gestorben. Und er war weder ein Rancher, noch ein Texaner.
Jesse Chisholm, vermutlich im Jahr 1805 geboren, war der Sohn einer Cherokee-Frau und eines schottischen Pelzhändlers, der als junger Mann 1826 mit seiner Mutter den „Weg der Tränen“ von der Heimat der Cherokee im Südosten der USA ins Indianerterritorium Oklahoma mitmachte und hier aufwuchs. 1830 schloss er sich einigen Goldsuchern an, die nordwärts durch Oklahoma bis nach Kansas in die Region der späteren Stadt Wichita zogen. Dabei lernte er das Land kennen und wurde 1834 einer der Scouts und Führer der sogenannten „Dodge-Leavenworth-Expedition“, bei der die US-Armee erste Kontakte mit den Indianervölkern der südlichen Plains knüpfte und Friedensverträge verhandelte.
1836 heiratete er Eliza Edwards und übernahm den Handelsposten seines Schwiegervaters am Zusammenfluss des Little River mit dem Canadian. Das war sein Einstieg in den lukrativen Indianerhandel, das Tauschgeschäft mit Handelswaren gegen Pelze, Bisonhäute und Vieh. Nebenbei war er zwischen 1838 und 1858 immer wieder als Dolmetscher und Scout für die Armee tätig und vermittelte zwischen den Regierungsbehörden und den Indianervölkern im nördlichen Texas.
Der Weg, den er regelmäßig zwischen Texas und Kansas mit seinen Frachtwagen zurücklegte, entsprach der Route, die er als junger Mann mit den Goldsuchern gezogen war. Sie wurde daher als „Chisholm Trail“ bekannt. Er war eine bekannte Persönlichkeit bei Soldaten, Siedlern und Indianern in dieser Region.
Da er sich während des Bürgerkrieges weitgehend neutral verhielt – im Gegensatz zu einem Teil seiner Cherokee-Verwandten – konnte er seine Geschäfte relativ ungestört fortsetzen und führte Gruppen von Siedlern und Indianern, die sich dem Krieg entziehen wollten, ins westliche Oklahoma.
Nach Ende des Krieges, ließ er sich mit seiner Familie in der Nähe von Wichita (Kansas) nieder und betrieb seinen Handel von hier aus ins Indianerterritorium.
Inzwischen war sein Handelsweg eine beliebte Route für jede Art Reisende geworden, da er gut geeignet für schwere Frachtwagen war und ausreichend Gras für Reit- und Zugtiere und Wasser für Mensch und Tier aufwies.
Als die texanische Viehwirtschaft nach dem Bürgerkrieg faktisch am Boden lag, begannen einige der großen Rancher, riesige Rinderherden zu den Bahnstationen in Kansas zu treiben. Die erste „Cattle Town“ wurde Abilene, aber die zu jener Zeit eher unbedeutende Siedlung Wichita zog rasch nach, sowie sie einen Bahnanschluß erhielt. Wichita wurde zum Endpunkt des „Chisholm Trails“.
Zwischen 6 und 10 Millionen Rinder zogen in einer Periode von ca. 15 - 20 Jahren von Texas durch die Staubschüsseln Oklahomas nach Norden. Es war die größte von Menschen veranlaßte Tierwanderung in der Weltgeschichte. Die bekannteste Route der großen Herden blieb der „Chisholm Trail“, die Handelsstraße von Jesse Chisholm.
Obwohl später der „Great Western Trail“ nach Dodge City weitaus frequentierter war, prägte sich der Chisholm Trail besonders ein. Er wurde Teil der amerikanischen Nationallegende, und der Cowboy wurde zur führenden amerikanischen Symbolgestalt, der zur Bildung der amerikanischen Identität beitrug und die Folklore der Neuen Welt – Gedichte, Lieder, Bücher – ebenso befeuerte wie den historischen Mythos der Westbesiedelung.
Jesse Chisholm hat das alles nicht mehr erlebt. Er starb in einem Lager neben dem Trail, der seinen Namen trug, am 4. März 1868 an einer Lebensmittelvergiftung; er hatte verdorbenes Bärenfleisch gegessen. Dass sein Name mit der Cowboy-Legende verbunden werden würde, hat er nicht einmal ahnen können.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de