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Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Thomas Everett Blasingame?

Eine Frage an Dietmar KueglerWie war das mit Thomas Everett Blasingame?

Dietmar Kuegler erinnert auf Facebook immer wieder an bestimmte Daten und Ereignisse der amerikanischen Geschichte. Diese mehr oder weniger kurzen Vignetten sind interessant und ausgesprochen informativ und auf jeden Fall lesenswert.

In Absprache mit Dietmar Kuegler wird der Zauberspiegel diese Beiträge übernehmen.

Dietmar KueglerDietmar Kuegler: Die Cowboy-Legende ist unsterblich. Der Cowboy ist und wird immer ein Symbol Amerikas bleiben. Gleichwohl ist der Cowboy zu einem Mythos geworden, dem er in der Realität selbst nicht gerecht werden konnte. Er gilt als ideale Verkörperung aller männlichen Tugenden von Moral und Ehre.

Dieses Bild entstand schon nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, als die meisten Amerikaner erstmals mit Cowboys in Berührung kamen oder von ihnen hörten. Es war die Zeit, als Texas – wie alle Südstaaten – geschlagen am Boden lag und die Viehzuchtbetriebe vor dem Kolabieren standen. Die großen Rindertrails zu den Bahnstationen in Kansas, als Millionen von Longhorns 1.000 Meilen nach Norden zogen, begründeten die Cowboy-Legende. Es entstand ein Bild von aufrechten, prinzipientreuen, furchtlosen Männern, die es mit Tod und Teufel aufnahmen.

In der Tat, die Cowboys retteten Texas vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Aber die Schattenseiten wurden oft übersehen. In den Cattle Towns von Kansas waren diese jungen, ausgehungerten Männer, die nach den monatelangen knochenbrechenden Trails ihre Energien unkontrolliert auslebten, geradezu verhasst.

Der Beruf des Cowboys – nach heutigen Begriffen ein qualifizierter landwirtschaftlicher Facharbeiter – war hart und auszehrend, schlecht bezahlt und sozial nicht hoch angesiedelt. Aber die Aura von Freiheit, Stärke und Abenteuer verblasste nie und hat sich bis heute gehalten.

Menschen brauchen Legenden und Ideale, um den eigenen Alltag mit seinen Niederlagen, Rückschlägen und Trostlosigkeiten zu bewältigen.

Noch heute genießt der Cowboy eine Attraktivität, die rational kaum zu erklären ist. Die Arbeit ist noch immer hart. Die Bezahlung ist noch immer nicht sonderlich gut. Aber die Aura der unendlichen Freiheit ist ungebrochen.

Ich habe junge Männer getroffen, die ihren Job als Computer-Fachleute in den Büros der großen Städte verlassen haben, um auf einer Ranch am Rande der Rockys zu arbeiten. Sie leben die Legende.

Der letzte historische Cowboy wurde am 2. Februar 1898 in Waxhachie, Texas, geboren – vor 123 Jahren. Sein Name war THOMAS EVERETT BLASINGAME. Schon als Kind entschied er, Cowboy zu werden. Das Leben im Sattel und die weiten Horizonte zogen ihn unwiderstehlich an. 1918 begann Tom Blasingame seine Arbeit als Cowboy auf der JA-Ranch im Texas Panhandle – das war die Ranch des „Rinderbarons“ Charles Goodnight, der zu den einflußreichsten Viehzüchtern von Texas gehörte, nach dem Bürgerkrieg 1866 den Goodnight-Loving Trail nach New Mexico anlegte und zeitweise mehr als 60.000 Rinder auf seinen Weiden im und um den Palo Duro Canyon stehen hatte.

Blasingame verwirklichte seinen Traum. Er ging für einige Jahre nach Kalifornien, New Mexico und Arizona und kehrte Anfang der 1930er Jahre auf die alte Goodnight-Ranch zurück. Hier blieb er für den Rest seines Lebens, auch wenn die Ranchindustrie sich zunehmend wandelte. „Cattle Kings“ wie Goodnight verschwanden. Die Viehzuchtbetriebe wurden zu Aktiengesellschaften.

Tom Blasingame tat seine Arbeit unbeeindruckt. Und er wurde im Laufe der Jahrzehnte zu einem lebenden Denkmal des texanischen Cowboys.

Mit 35 Jahren heiratete Blasingame seine Frau Eleanor. Das Paar baute ein kleines Haus in der Gemeinde Claude und hatte zwei Kinder. Im Grunde aber war Blasingame mit der Ranch verheiratet. Er kam nur an den Wochenenden heim und lebte ansonsten von Montag bis Freitag in einer Weidehütte ohne Elektrizität und fließend Wasser.

Am eiskalten frühen Morgen des 27. Dezember 1989, vor kaum 32 Jahren, fand man den 91jährigen Tom Blasingame auf der Weide. Er lag auf dem Rücken neben seinem Pferd und hatte die Stiefel an den Füßen. Er war offenbar während eines Kontrollritts abgestiegen, hatte sich auf den gefrorenen Boden gelegt und war gestorben.

Seine Frau sagte, sein Leben sei zu Ende gegangen, wie er es sich immer gewünscht habe – während seiner Arbeit, auf den Weiden, neben seinem Pferd. Der Ranch-Vormann, Buster McLaury, sagte: „Er muss gewußt haben, dass etwas nicht in Ordnung war. Er ist abgestiegen und hat sich hingelegt. Er ist nicht abgeworfen worden. Wir haben keine Spuren von einem Sturz gefunden.“

Der Manager der JA-Ranch – noch heute eine der größten Ranches von Texas – sagte: „Tom kontrollierte jeden Tag die Herden, die Pferde, die Weidezäune und die Windmühlen an den Wasserlöchern. Trotz seines Alters war er einer der zuverlässigsten und besten Cowboys, die diese Ranch hatte. Er machte seine Arbeit wie alle jüngeren Cowboys. Die Jüngeren riefen ihn oft, wenn seine Erfahrungen vonnöten waren.“

Seine Frau Eleanor überlebte ihn bis zum Juli 1999.

Es muss um 1984 gewesen sein, als mir Tom Blasingame im Palo Duro Canyon begegnet ist. Ich war bis in einen abgelegenen Teil des Canyons gefahren, um alte Weidehütten der Goodnight-Ranch zu fotografieren, die es bis heute dort gibt, als ein Reiter auftauchte.

Ich muss gestehen, dass ich damals nicht die geringste Ahnung hatte, dass mir ein Stück lebendige Cowboy-Geschichte begegnete. Ein alter Reiter mit speckigem, breitrandigem Hut, der pfeilgerade im Sattel saß. Wir wechselten ein paar Worte. Ich fragte ihn, ob es nicht einfacher sei, die weidenden Rinder im Jeep zu kontrollieren, und er antwortete: „Ich bin ein sehr schlechter Autofahrer. Ich bin im Sattel zuhause. Ich stamme aus einer Zeit, als man mit der Pferdekutsche fuhr.“ Ich erinnere mich, dass er mich mit seinen hellen Augen anblinzelte und im breiten texanischen Tonfall sagte: „Ich kann noch immer vom Reiten nie genug kriegen. Ich glaube, ich bin nur deshalb Cowboy geworden, weil ich viel reiten wollte.“ Er fügte hinzu: „Heute sind wir nicht mehr so dicht bei den Rindern wie früher. Das ist schade.“

Dann ritt er davon. Ich wünschte heute, nach fast 40 Jahren, dass ich gewußt hätte, wer mir da gegenüberstand. Zu dieser Zeit war Blasingame bereits mit dem „Western Heritage Wrangler Award“ ausgezeichnet worden, und der Gouverneur von Texas hatte ihn als texanisches Symbol geehrt. Ein Mann des 19. Jahrhunderts, der das Atomzeitalter erreicht, aber die Lebenssicht der alten Cowboys nie aufgegeben hatte. Bis zum letzten Atemzug.


Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de

Das Magazin für Amerikanistik, September 2020Die aktuelle Ausgabe

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