Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit den Heuschrecken?
Wie war das mit den Heuschrecken?
: Heute möchte ich einmal nicht an ein datumsgenaues Ereignis erinnern, sondern an eine Katastrophe, die allgemein im Juli 1874 begann: In jenem Juli vor genau 147 Jahren, verdunkelte urplötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, ein Schwarm von Millionen und Abermillionen Heuschrecken den Himmel von Colorado, Kansas, Wyoming, Montana und anderen Farmerstaaten und breitete sich binnen weniger Tage über die gesamten Great Plains des amerikanischen Westens aus. Von Kanada bis Mexiko war die Sonne plötzlich tot. Es war, als habe eine überirdische Macht den Himmel vernichtet.
Diese gigantische Wolke der sogenannten „Rocky Mountain Locusts“ senkte sich zur Erde, und dann begann eine gnadenlose Vernichtung aller Farmarbeit jenes Jahres. Es dauerte in manchen Fällen nur Minuten, und ganze Felder waren leergefressen.
Das Jahr hatte hoffnungsvoll begonnen. Es gab im Frühjahr reichlich Regen und Sonne. Die Saat auf den Feldern hatte eine glänzende Ernte versprochen.
Jetzt war alles vorbei. Hunderttausende Menschen standen vor den Ruinen ihrer Existenz. Die Heuschrecken vernichteten nicht nur die Felder. Sie stürzten in Wasserlöcher und Brunnen. Sie bedeckten die kleinen Hütten und Sodhäuser im Land der Siedler. Heuschrecken füllten die Heimstätten, drangen in Vorratsräume, Keller, Schränke und Schubläden ein. Sie fraßen den Farmern buchstäblich die Kleidung vom Körper.
Es war eine der größten Katastrophen, die den Mittelwesten je getroffen hatte. Hier hatten sich aufgrund des Heimstättengesetzes vom 1. Januar 1863 Tausende von Siedlern nach dem Ende des Bürgerkrieges niedergelassen, hatten kostenlose Parzellen Regierungsland in Besitz genommen, die Grasnarbe abgetragen und das Land unter den Pflug genommen. Die Prärien und Plains des Westens begannen sich in eine Kulturlandschaft zu verwandeln.
Jetzt dauerte es nur wenige Tage, und die Arbeit von Jahren war vernichtet. Wenn die unersättlichen Heuschrecken die Felder kahlgefressen hatten, stürzten sie sich auf weidende Schafe und fraßen ihnen die Wolle vom Leib. Sie fraßen Papier, die Rinde von frisch gepflanzen Bäumen, sie fraßen Leder und sogar hölzerne Werkzeuge.
Wenn sie selbst starben, bedeckten sie den Boden von Farmen mit einer mehrere Zoll starken Decke, in die die Menschen bis über die Knöchel einsanken, wenn sie ihre Häuser verließen. Diese Heuschrecken waren bis zu anderthalb Zoll lang. Ihr Blut verspritzte unter den Füßen der Menschen in ihren Häusern und auf den Höfen. Es war ekelerregend.
Augenzeugen berichteten: “Wir haben in der vorigen Woche Familien gesehen, die in ihren Häusern keine Mahlzeit mehr einnehmen konnten, weil Tische, Schränke und Betten voller Heuschrecken waren und weil die gierigen Insekten alle Lebensmittel vertilgt hatten. Manche Menschen mussten bei ihren Nachbarn um Essen betteln, weil sie nichts mehr besaßen. In einem Fall starb eine ganze Familie innerhalb weniger Tage – sie war tatsächlich verhungert.“
Sie waren nicht die einzigen Hungertoten in jenem Jahr. Dutzende von Farmern starben. Andere gaben verzweifelt auf und flohen mit dem bisschen, was ihnen geblieben war, von ihren Heimstätten. Jene, die blieben, trugen nicht selten Verletzungen davon, weil die gnadenlosen Insekten vor nichts, auch nicht vor den Menschen, Halt machten. Wer sich zum Schlafen niederlegte, wachte irgendwann auf, weil Arme und Beine angefressen worden waren.
In den „Annals of Kansas“ von 1886 hieß es später: „Dieser Einfall der Heuschrecken in unserem Staat war der schlimmste Vorfall dieser Art in der gesamten Geschichte. Die Wolke der Grashüpfer reichte vom Platte-Fluss im Norden bis ins nördliche Texas und bis ins östliche Missouri. Sie hinterließen ihre Eier überall und sorgten damit für eine neue Plage im nächsten Frühjahr.“
Die berühmte Schriftstellerin Laura Ingalls Wilder, Autorin der Bestseller-Bücher „Unsere kleine Farm“, schrieb in einer ihrer Geschichten: „Du konntest die Millionen von Kiefern hören, wie sie zubissen und kauten… Die Grashüpfer drangen in die Häuser ein. Die Kleidung war voll mit Heuschrecken. Einige hüpften sogar in den heißen Ofen, während das Abendessen gekocht wurde. Unsere Mutter bedeckte das Essen, nachdem sie alle Heuschrecken verjagt und erschlagen hatte. Sie fegte sie zusammen und schaufelte sie in den Ofen.“
Über derartige Szenarien hatte kein Mensch die Heimstättensiedler aufgeklärt, die mit dem Traum vom „goldenen Westen“ in die Ebenen gezogen waren. Die in der Bibel beschriebenen Katastrophen wurden hier Wirklichkeit; Tornados, Blizzards, Hagelstürme, tödliche Trockenheit und Insekten.
Derartige Plagen waren an sich nichts Unbekanntes in den Farmregionen. Es gab Berichte über Heuschreckenschwärme von 1818 und 1819 und von 1854 und 1867 von Minnesota bis zu den Rocky Mountains. Aber niemals war der Einfall dieser Insekten schlimmer als im Juli 1874. Die Plage setzte sich bis ins darauffolgende Jahr fort.
Das Parlament von Kansas setzte ein Hilfs-Komitee ein, das finanzielle Unterstützung für die am schlimmsten betroffenen Farmer beschloss. Ferner wurden Lebensmittelpakete und Saatgut verteilt. Es gab Kleiderspenden für mehr als 8.000 Männer, fast 10.000 Frauen und über 16.000 Kinder. Über 11.000 Pakete mit Bohnen, Schweinefleisch und Reis wurden ins Farmland geschickt, um die größte Not zu lindern.
In manchen Staaten wurden alle Männer zwischen 16 und 60 zu Arbeitskommandos verpflichtet, die Jagd auf Heuschrecken machten und, wenn möglich, deren Eier vernichteten. In Minnesota wurden Prämien für vernichtete Heuschrecken bezahlt, ca. 1 Dollar pro 1 Bushel (ca. 36 Kg).
Im Jahr 1874 richteten geschätzte 12 Trillionen Heuschrecken einen Schaden von mehr als 200 Millionen Dollar in Colorado, Kansas, Minnesota, Missouri, Nebraska und anderen Staaten an. Es sollte bis 1880 dauern, bis die Heimstätter in den genannten Gebieten sich einigermaßen von dieser Katastrophe erholt hatten. Dazu trug ein Wechsel des Saatguts und der Anbaumethoden bei. Viele Farmer stiegen auf Winterweizen um, der geerntet werden konnte, bevor die Heuschreckenschwärme im Sommer erneut einfielen.
Genauso plötzlich, wie die Heuschrecken aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder. Es gibt keine einzelne schlüssige Theorie dafür. Man geht davon aus, dass die neuen Landbearbeitungsmethoden zu ihrer Reduzierung beitrugen. Letztmalig wurden die „Rocky Mountain Locusts“ im Jahr 1902 gesichtet. Heute gilt diese Heuschreckenart als ausgestorben. Kleinere Arten gibt es immer noch, die allerdings in manchen Gebieten durch massiven Einsatz von Insektiziden bekämpft werden. Wer heute durch das Farmland im Westen fährt, sieht häufig kleine Flugzeuge, die eine Giftwolke hinter sich herziehen, die auf die Felder niedersinkt.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de