Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Gall?
: Am 5. Dezember 1894 starb in Amerika einer der bedeutendsten Kriegshäuptlinge der Lakota, der allerdings bis heute im Schatten von Männern wie Red Cloud, Crazy Horse oder Sitting Bull steht, obwohl er zeitweilig nicht weniger einflußreich war. Warum ihm das spektakuläre Charisma seiner Zeitgenossen fehlte, lässt sich heute kaum noch erklären, man kann nur vermuten, dass er trotz seiner Teilnahme an mehreren herausragenden Ereignissen nicht die ganz große Führungsrolle hatte und immer eher in der zweiten Reihe stand.
Sein Lakota-Name war „Phizi“ oder „Pizi“. In der englischsprachigen Geschichte heißt er „GALL“, ein machtvoller, kühner, mutiger und zeitweilig auch furchtbarer Krieger der Hunkpapa, der nichts fürchtete, der aber jahrelang zum Schrecken anderer wurde, ob Weiße oder Indianer.
Er war vermutlich im März 1840 (oder 1839) in einem Gebiet geboren worden, das heute zum Staat South Dakota gehört. Seine Eltern starben früh. Der verwaiste Junge musste sich seine Stellung und seinen Status in seinem Stamm von Kindesbeinen an erkämpfen. Angeblich erhielt er seinen Namen, weil er die Galle eines erlegten Tieres verzehrte. Unmittelbar nach seiner Pubertät zog er mit Kriegsparties gegen benachbarte, verfeindete Stämme. Er war gerade Anfang zwanzig, als er durch seinen Mut und seine Umsicht selbst als Anführer anerkannt wurde. Als die ersten amerikanischen Siedler in das Land der Lakota eindrangen, war Gall bereits ein Häuptling, der eigene Kriegsparties gegen die neuen Feinde führte und ihre Ausbreitung erbittert bekämpfte. Er schloss sich früh Sitting Bull an, der sich beharrlich weigerte, Verträge mit den Weißen zu schließen und altes Stammesland aufzugeben. Im Juni 1876 gehörte er zu den Führern in der großen Schlacht am Little Bighorn.
Wie bedeutend seine Rolle in diesem Kampf tatsächlich war, stellten Archäologen Anfang der 1980er Jahre fest, die nach einem großen Präriebrand das Schlachtfeld genauer untersuchten und ihre Funde mit den mündlichen Überlieferungen indianischer Teilnehmer verglichen. Forscher räumen Gall daher größere Anteile am großen Sieg der Indianer ein.
Der erste Zusammenstoß zwischen Armee und Indianern wurde von Major Marcus Reno am südöstlichen Ende des ausgedehnten Lagers geführt. Dabei wurden die 2 Frauen Galls und mehrere seiner Kinder getötet. Gall sagte später: „An diesem Tag wurde mein Herz gebrochen.“ Gall war einer der Männer, die die Lakota- und Cheyenne-Krieger anführten, als sie die Reno-Kompanien zurückschlugen.
Nach Galls eigenen Erzählungen und nach den Aussagen anderer Teilnehmer, war Gall einer der ersten, der die Strategie Custers durchschaute und Angriffe von mehreren Seiten erwartete – das war keineswegs sofort ersichtlich, da das Lager sich sehr weit ausdehnte und die verschiedenen Teile des Camps untereinander kaum Kontakt hatten. Das Gelände der Schlacht ist höchst unübersichtlich und kann bis heute visuell nicht geschlossen erfasst werden. So wenig wie Custer über die geographischen Gegebenheiten Bescheid wusste, als er in die Region eindrang, so wenig konnten die Indianer seine Bewegungen beobachten oder berechnen.
Nach seinem erfolgreichen Gegenangriff auf Reno, überquerte Gall mit seinen Kriegern den Little Bighorn, ritt nach Nordosten und entdeckte den Chef-Scout von Custer, Mitch Boyer, der gerade zum Hauptteil der 7. Kavallerie zurückkehrte, um über das Indianerdorf zu berichten. Gall folgte und sah die vom General selbst geführten Kompanien.
Gall kehrte um und führte zusammen mit Crazy Horse eine Kriegerstreitmacht an, die die Kompanien E und F attackierte und sie in die Defensive drängte. Innerhalb weniger Minuten eroberte Gall mit seinen Kriegern eine starke Position nordöstlich der Finley Ridge, während Crazy Horse die Formationen der Kompanien L und I mit wuchtigen Attacken aufriss.
Nach der Schlacht blieb Gall bei Sitting Bull und zog mit dessen Kriegergruppen nach Kanada, wo sie für mehrere Jahre blieben. Hier kam es zu Diskrepanzen zwischen ihm und Sitting Bull. Gall entschloss sich, mit der von ihm geführten Gruppe zurück in die USA zu gehen. Er führte 52 Familien – das waren um die 230 Menschen, Männer, Frauen und Kinder – am 3. Januar 1881 – vor 140 Jahren – nach Fort Buford und kapitulierte. Im Mai wurden er und seine Gruppe flußabwärts auf die Standing Rock Reservation gebracht.
Gall erklärte sich einverstanden, zum Farmer zu werden. Seine Autorität war offenar groß genug, seine Kriegr zu überzeugen, in der Reservation ein sesshaftes Leben zu beginnen. Er konvertierte zum Katholizismus und ließ sich auf den Namen „Abraham“ taufen.
Die Volkszählung von 1885 beschreibt Gall als Häuptling von 22 Zelten mit 114 Bewohnern. Er wurde zum Richter am Reservationsgericht ernannt.
Als Sitting Bull schließlich ebenfalls mit seinen Gefolgsleuten auf Standing Rock eintraf, brachen die schon in Kanada begonnenen Konflikte zwischen den beiden Männern wieder auf. Gall hatte sich mit der weißen Verwaltung arrangiert. Für Sitting Bull gab es Grenzen der Kompromisse. Die beiden ehemaligen Freunde standen sich jetzt feindlich gegenüber. 1890 wurde Sitting Bull von indianischen Reservationspolizisten ermordet.
Der einstige große Krieger Gall lebte in einer Hütte am Oak Creek. Er genoss Ansehen als Führer des Friedens. Er starb am 5. Dezember 1894 im Alter von etwa 54 Jahren (Manche Quellen sagen 55) und liegt in Wakpala (South Dakota) begraben.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de