"Wie entstand Iwans Feuerwasser"
Es war Mitte der Sechziger Jahre...Mit "es war" fangen in der Regel alle Märchen an, aber das, liebe Freunde, was ich euch jetzt erzähle, ist kein Märchen, sondern die reine Wahrheit.
Also: Mitte der Sechziger Jahre hatten die Briefträger noch mehr Zeit und vorallem Muse, an die Haustür zu kommen, die Post abzuliefern und dabei manchmal ein paar Worte zu wechseln. Und aus ein paar Worten wurde gelegentlich eine handfeste Geschichte, die dieser Briefträger gern erzählte.
Ich war damals noch zu jung, um etwas über das Liebesleben dieses Briefträgers zu erfahren, es gab noch keinen "Hausfrauen-" und keinen "Briefträger-Report" und so ist es verständlich, daß ich das zu hören bekam, was meinem Alter entsprechend war.
Der Briefträger, der damals in unsere Straße die Post zustellte, war der "Herr Schenk", (nicht zu verwechseln mit Heinz Schenk, den Wirt des "Blauen Bocks").
Also: Unser Herr Schenk kam eines Nachmittags (das ist kein Tippfehler, zu dieser Zeit kam der Briefträger täglich zweimal, um die Post abzuliefern). Herr Schenk war sehr beliebt, und das zahlte sich für ihn so aus, daß er überall in der Nachbarschaft mal einen Tee oder Kaffee und auch hochgeistige Getränke angeboten bekam.
Besonders Nachmittags sah man ihn dann an seinen roten Bäckchen an, daß er einige Schnäpse verkonsumiert hatte. Auch daran schon erkennbar, daß er sein Fahrrad nicht mehr fuhr, sondern im Seemannsgang vor sich herschob.
Als Herr Schenk am Nachmittag auch noch mal zu mir kam, um einige Briefe abzuliefern, saß ich draußen vor dem Haus und konnte genau beobachten, wie er mit einigen ungelenken Bewegungen sein Fahrrad gegen den Staketenzaun bugsierte. Ich merkte gleich: mit dem Herrn Schenk stimmt heute etwas nicht! Seine Wangen waren diesmal nicht gerötet - sondern er war totenbleich und seine Augen glänzten feucht.
"Ist Ihnen nicht gut?" fragte ich besorgt.
Er setzte zum Sprechen an, winkte dann aber nur ab, als fiele es ihm schwer, die Worte zu formen.
Mit unsicheren Schritten wankte er in leichter Schräglage zu den beiden Mülltonnen, die an der anderen Seite des Hauseingangs standen.
Er setzte sich auf eine, stützte sich am Vorgartenzaun dahinter ab und sagte dann mit rauher Stimme: "Drüben... an der zweiunddreißig... muß ein Wahnsinniger hausen... ich trink ja ganz gerne mal einen Klaren... aber was der Kerl mir angeboten hat, ist einfach unglaublich. Hast Du schon einmal von einen Pepperoni-Schnaps gehört?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, noch nie. Ich wüßte auch nicht, wo es sowas zu kaufen gibt."
"Kaufen kann man den auch nicht. Das ist eine Privat-Mixtur vom alten Opa Koch..." Bei diesen Worten wandte er leicht den Kopf und blickte hinüber zu den altem ockergelben Haus auf der anderen Straßenseite. "Das Rezept ist ganz einfach: Man nehme ein Kilo Pepperoni und läßt diesen acht Tage lang in ein Liter Schnaps ziehen... Das Ergebnis, mein Junge, ist grauenerregend. Ein Schluck von diesem Teufelszeug wirft selbst den stärksten Briefträger vom Rad. Dem alten Opa Koch aber macht dieses Teufelswasser nichts aus. Der ist quietschfidel. Das Zeug bekommt ihm prächtig, und er ist der Meinung, daß in Schnaps versetzter Pepperoni ein wahres Lebens- und Verjüngungselixier darstellt..."
Ich habe diese Geschichte nie vergessen und wurde einige Jahre später noch einmal auf dramatische Weise damit konfrontiert.
Inzwischen war ich umgezogen. Die Abenteuer mit Larry Brent erschienen regelmäßig und die "Schnaps-Idee" verwertete ich irgendwann in einer Folge und erwähnte das Rezept. Dies wiederum hatte auch eine Folge - ein Fan meiner Serie fühlte sich von der Schilderung so angesprochen, daß er nichts eiligeres zu tun hatte, als das Pepperoni-Rezept auszuprobieren. Er schickte eine Flasche als Präsent an den Zauberkreis-Verlag, der sie mir zukommen ließ.
Ich stellte die Flasche zur Seite - und sie ging vergessen. Das Ergebnis sollte ziemlich bitter enden. Und wieder erwischte es einen Briefträger...
Ich wollte meinem Zusteller zu Beginn des neuen Jahres mit einem Schnaps begrüßen und erinnerte mich an die ungeöffnete Flasche in meinem Barschrank.
Am 2. oder 3. Januar des nächsten Jahres bekam mein Briefträger ein entsprechendes Trinkgeld und einen Schnaps aus der Fan-Bottle.
Der Mann schluckte herzhaft und freute sich noch über die Morgengabe. Dann veränderte sich sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck schlagartig. Er wurde abwechselnd blaß und rot, die Tränen schossen ihm in die Augen und er tat einen Satz zur Seite, als hätte ihn ein Pferd getreten. Er lief mit aufgerissenem Mund und nach Luft japsend den Weg an meinem Fenster auf und ab. "Wasser...!" röchelte er auf der Höhe meines weitgeöffneten Fensters. "Schnell ein Glas Wasser..." Dabei hüpfte er herum, als wäre er in einen Sack Flöhe gefallen.
Meine Frau Karin stürmte mit einer Flasche Mineralwasser herbei, die er ansetzte, als wolle er ein inneres Feuer löschen. Erst nach einigen Minuten war er wieder ansprechbar und ich begriff was geschehen war. Die rätselhafte Fan-Bottle war das Original-Rezept: Ein Kilo Pepperoni auf ein Liter Schnaps. Einwirkungsdauer normalerweise acht Tage. Aber der Pepperoni in meiner Flasche hatte inzwischen acht Wochen lang gezogen!
Der Briefträger kam zwar regelmäßig weiter zu mir und lieferte alle Sendungen korrekt ab, aber er hat nie wieder ein Glas Schnaps angenommen.