Ringo´s Plattenkiste - After all - After all
Die Plattenkiste führt uns heute weit zurück in die Sechziger, als die Zukunft noch besser war. Der Duft nach Räucherstäbchen, Haschisch und verschwitzten Leibern liegt in der Luft. Die Haare sind lang, die Kleidung ungewöhnlich und der Blick ist seltsam entrück und verklärt. „Peace“ sagt man anstelle von “Hello“, und jedes zweite Wort in einer Konversation ist „Mann“. Alternativ gab es für Eloquente auch noch „Hey, Mann“. Alle waren Brüder und Schwestern, alle Menschen waren gleich. Doch auch damals schon waren einige gleicher. Retrospektiv scheint die ganze Hippiekultur doch etwas verklärt und durch die rosa Brille betrachtet zu sein. Anfangs war dieses neue Lebensgefühl ehrlich und alternativ, allerdings hatte die Industrie den Gedanken von „Make Love, not War“ schnell für sich entdeckt, aufgegriffen und sich zu eigen gemacht: Hey, damit lässt sich jede Menge Kohle machen!
2 Jahre nach dem legendären Summer of Love hatte die Hippiebewegung zwar ihren Zenit überschritten, allerdings stand noch ein Knaller bevor: Woodstock - 3 days of Peace and music. Damit sollte die Hippiekultur auch ihr Ende finden, denn Jugend und Musikbranche hatten sich bereits neuen Welten zugewandt, die es zu erkunden und auszubeuten galt: Acid-Rock und Psychedelic waren nun hip. Die Songs wurden länger, der Sound experimenteller und die sanftmütig vorgetragenen Texte handelten nicht mehr ausschließlich von Liebe und Frieden, sondern wurden zunehmend schräger, experimenteller und surrealistisch. Bands wie The Doors oder Pink Floyd waren am Start, ebenso wie heutzutage fast vergessene Acts wie z.B. The Silver Apples (Ringo berichtete). Im Schatten der Großen und auch der Eintagsfliegen gab es aber auch eine Fülle von Bands, die tatsächlich vergessen wurden, bzw. damals keinen nennenswerten Bekanntheitsgrad erlangten. Eine dieser Bands, die eigentlich gar keine richtige Band war, ist unser heutiges Thema: After all.
Vier junge Musiker aus Florida schlossen sich zu einer Art Kollektiv zusammen und hatten die Idee, musikalisch eine mit surrealen und anspruchsvollen Texten garnierte Fusion aus klassischem Rock mit Acid/Psychedelic zu schaffen. Ein Album sollte aufgenommen werden, und man suchte nach einer passenden und vor allem günstigen Möglichkeit. Die Band hatte aber Glück, denn durch Beziehungen erhielten sie die Chance, gratis im Athena Recording Studio in Tennessee aufzunehmen. In relativ kurzer Zeit entstanden dort die Aufnahmen, produziert von Rick Powell und Tom Brannon, der auch an den Reglern saß. Brannon war selbst Musiker und Mitglied der Anita Kerr Singers, einer Gesangstruppe, die schon seit den Fünfzigern aktiv war. Gelegentlich arbeitete er auch als Tontechniker. After all war und ist seine einzige Arbeit als Produzent. Rick Powell hatte bereits Erfahrung als Produzent für unbekannte Pop/Rock-Acts wie z. B. The feminine Complex oder The Jaedes. Kennt garantiert keine Sau mehr. Nebenbei war Brannon auch ein versierter Arrangeur und Songschreiber.
Die Besetzung sah aus wie folgt:
Moon war ein alter Hase im Musikgeschäft und zupfte seit den Fünfzigern in diversen Bands den Bass. Unter anderem spielte er auch schon zuvor mit Mark Ellerbee, der 1969 frisch aus Vietnam zurückgekehrt war, wo er als Sanitäter gedient hatte in der Band „The Casuals“ zusammen, die sich später in „The Chaotics“ umbenannten. Der Grund dafür war vermutlich eine britische Band, die sich ebenfalls „The Casuals“ nannten und als One-Hit-Wonder gelten. Eine Band namens „The Chaotics“ gibt es übrigens auch hierzulande: eine 5-köpfige Combo aus Heidelberg, die hauptsächlich Coverversionen aus den 80ern und 90ern spielt. After all ist auch der Name einer 1987 gegründeten Metalband aus Belgien.
Ellerbee war wie auch Alan Gold Absolvent der Florida State School of Music wie, Charlie Short war ein versierter und bekannter Jazzgitarrist.
Die Kompositionen stammten, bis auf eine Ausnahme, von Drummer Mark Ellerbee. Alle Texte, ebenfalls bis auf eine Ausnahme, waren von der jungen Poetin Linda Hargrove, die später Karriere als Songwriterin machen sollte.
Das fertige Album erschien 1969 auf Athena Records in einer einfachen Hülle, einer surrealistischen, aber etwas unbeholfen wirkende Photographie von einem gewissen Bill Grine, der eigentlich Bill Grein heißt und damals als professioneller Photograph hauptsächlich für die Country-Szene arbeitete. Die Rückseite zeigt die vier Musiker, abgelichtet von Marks Frau Terri. Die vier Jungs sehen eher wie brave Familienväter aus, sehr gepflegt und konventionell gekleidet. Von Hippiestyle keine Spur. So weit, so gut.
Hier nun die Original-Tracklist:
Sehen wir uns die Songs, wie üblich, ein wenig genauer an.
Der Longtrack beginnt mit einem getragenen Orgelintro, das in einen schnellen, an Drum and Bass erinnernden Part übergeht. Tatsächlich erinnert Ellerbees Drumspiel an den legendären „Amen-Break“, der unzählige Male gesampelt wurde. Danach setzt der eigentliche Song, eine swingende Ballade mit sehr viel Orgel und deutlichen Blues- und Jazzanleihen, ein. Der Song lebt hauptsächlich vom Zusammenspiel der Drums und der Orgel. Der Gesang ist gefühlvoll und ein wenig „Black“. Bemerkenswert ist Charles Shorts Gitarrensolo, das teilweise frappierend an Carlos Santanas Spiel erinnert. Als man denkt, der Song wäre schon aus, beginnt ein ausgedehnter Instrumentalpart mit wilder Orgel und konträr-sphärischen Backgroundvocals.
ist eine verspielte, erotisch-verträumte Ballade. Der Sänger träumt wehmütig von einem Mädchen, das einst sein Herz (und wohl nicht nur das alleine) zum Glühen brachte und nun erwachsen ist. Unerfüllte Liebe und Sehnsüchte eben.
Der Song ist jazzig und passend zum Text, sehr gefühlvoll mit vertracktem Dave-Brubeck-Rhythmus inszeniert. Alan Gold verzichtet auf seine Orgel und lässt Pianotöne wie Tautropfen in der Sonne schweben. Als Krönung gönnt uns Short ein jazziges Gitarrensolo vom feinsten. Ein wundervoller Song, ganz wie ein toller, heißer Sommertag, der nie zu Ende gehen sollte. Interessanterweise ist am Ende des Songs eine Querflöte zu hören, die in den Credits aber unerwähnt bleibt.
Der nächste Song, , beginnt melancholisch-getragen mit Piano und mehrstimmigem Gesang: sehr langsam, sehr gedämpft und sehr moll-lastig, fast wie ein Klagelied. Ellerbee spielt seine Drums diesmal mit dem Besen. Sparsam eingesetzte und unaufdringliche Echo-Effekte lockern das Soundgefüge auf und verleihen dem Song etwas Abgehobenes, entrücktes, als wäre er nicht von dieser Welt. Allerdings wird der Hörer aus diesem melancholisch-träumerischen Idyll jäh und brachial aufgeschreckt, denn die Band löst sich aus ihrem musikalischen Wehklagen und legt ordentlich los. Orgel, Drums und Gesang scheinen an Tempo und Intensität zu wetteifern; Melodie und Sound erinnern nun gar an Zirkusmusik. Aber dieser Ausbruch ist nur von kurzer Dauer, wie ein Platzregen oder ein Sommergewitter, denn gegen Ende kehrt die Band wieder zum kanonartigen Klagelied zurück.
Und dann ist die erste Seite leider schon aus.
Seite zwei beginnt mit , dessen Orgel-Intro stark an „Stairway to heaven“ erinnert, das aber erst 2 Jahre später veröffentlicht werden sollte. Ein Plagiat also? Könnte durchaus sein, doch bereits ein Anderer, nämlich Randy California von der Band Spirit, behauptet, dass Stairway auf seine Komposition „Taurus“ von 1967 zurück ginge, dessen Gitarrenpart tatsächlich ebenfalls nach dem berühmten Stairway.-Intro klingt. Ob die Jungs von After all „Taurus“ ebenfalls kannten oder nicht, bleibt dahingestellt. Golds Orgelmelodie klingt jedenfalls weit mehr nach „Stairway“, als es der Spirit-Song tut. And I Will follow ist ein melancholischer und düsterer Track, bei dem eine Procol Harum-Orgel dominiert. Toller Song, Scheiß auf „Stairway to heaven“!
In trumpft wieder Short mit seiner Gitarre, die diesmal rockig, gleichzeitig aber auch wieder jazzig ist. Ein Widerspruch, der keiner ist, denn Short versteht sein Handwerk und kombiniert diese beiden unterschiedlichen Stile scheinbar mühelos. Ein richtig toller Song, der glatt von der britischen Band Colosseum stammen könnte. Die Orgel bleibt weitgehend im Hintergrund und erhebt sich aus dem Hintergrund erst im Refrain und im Instrumentalpart. Eine grandiose Nummer, die in jedem Ton das Lebensgefühl der Sechziger verströmt.
ist eine treibende Jazz-Rock-Nummer aus der Feder des Bassisten Bill Moon mit harten Orgelklängen und melancholischem Intro. Gold lässt hier mal ordentlich die Sau raus und malträtiert seine Schweineorgel wie Keith Emerson oder Ray Manzarek.
ist ein schneller Rocksong, der mit seiner Orgel verdammt stark an die Doors erinnert. Ellerbee lässt die Drums donnern, und Short steuert ein eingängiges Gitarrenriff bei. Ein mitreißender Song, der sich stetig steigert und letztlich richtig wild wird.
ist eine rockige Ballade, die wie eine Mischung aus Moody Blues und Procol Harum klingt. Vor allem die Melodie “Nights in white satin“ blitzt im Intro ganz kurz durch, dann wird es rockig und soulige, denn die Vocals sind very black.
Tja, und dann ist diese grandiose Platte auch leider schon aus.
After all lösten sich kurz nach der Veröffentlichung sofort wieder auf und jeder der Vier ging wieder seinen eigenen Weg. Die Platte wurde kaum beachtet und deshalb wenig erfolgreich und verschwand bald wieder aus den Läden. Es gab keine Promotion, keine Tour, keine Single-Auskopplungen. Nur die Platte, die für sich selbst steht und spricht. Sie ist musikalisch typisch für die Sechziger und das Lebensgefühl, typisch für die Menschen dieser Zeit, typisch für den Umbruch, den die Hippies so herbeisehnten, der aber leider ausblieb.
Band und Album scheinen fast wie aus einem Paralleluniversum, denn fast niemand kennt sie, oder hat zumindest schon mal von ihnen gehört. Was sehr schade ist, denn es ist ein hervorragendes Album, von dem ich nicht genug kriegen kann. Ein Album, das ich nicht oft genug hören kann. Ein seltsam anmutendes Gebilde, das oft an bereits bekanntes erinnert, wie z.B. The Doors, Moody Blues, Procol Harum, aber in seiner Gesamtheit trotzdem völlig eigenständig und neu ist. Und sehr melancholisch. In meinen Ohren geht der gesetzte Anspruch der Fusion von Rock und Psychedelic nicht ganz auf, was aber nichts macht, ganz im Gegenteil. Die Fusion besteht meiner Meinung nach eher aus Rock, Jazz und Soul mit einem Spritzer Psychedelic, garniert mit einer Acid-Cocktailkirsche. Alle Songs sind qualitativ hochwertig, sie wirken wie aus einem Guss. Die Musiker spielen homogen zusammen, als würden sie das schon seit Jahren tun und ergänzen sich gegenseitig. Es ist unüberhörbar, dass es sich um äußerst versierte Könner handelt. Was ein wenig erstaunt, da After all ja eigentlich gar keine richtige Band im herkömmlichen Sinne waren, sondern extra und exklusiv für diese eine Platte zusammengekommen waren. Ein Projekt für ein einziges Album. Aber was für eins! Schade, dass sie nur ein einziges Album veröffentlichten und dann wieder in der Versenkung verschwanden.
Ich entdeckte After all letztes Jahr ganz zufällig, als ich bei YouTube nach etwas ganz anderem suchte. Gefiel mir auf Anhieb, und natürlich musste ich das Album haben, keine Frage! Allerdings war das gar nicht so einfach. Die Original-Platte war nur zu horrenden Preisen ab ca. 200,00€ aufwärtszubekommen. Nachpressungen waren günstiger, aber nur über Import erhältlich. Schließlich gelang es mir, ein CD-Reissue zu ergattern, leider ebenfalls über Import und den damit verbundenen hohen Portokosten. Aber das war es mir wert.
Meins, meins!!!
Was wurde aus den Beteiligten?
Das ist diesmal gar nicht so einfach zu beantworten.
war auf L. Ron Hubbard & Friends Album „The Road to Freedom “als Backgroundsänger zu hören, dann verlieren sich seine Spuren.
ging zu den Oak Ridge Boys, einem Quartett, das es bereits seit den Vierzigern gab. Anfangs spielten sie Gospel, später aber wandten sie sich mehr und mehr dem Country zu und waren damit sehr erfolgreich. Außerdem wirkte er bei unbekannten Bands wie z.B. The Deweys, The Orrells, The Antoine Indian Family, etc. mit. Bei den Oak Ridge Boys blieb er bis 1981 und reaktivierte dann die „Chaotics“, bei denen er bis 2012 blieb. Er verstarb 2013 im Alter von 71 Jahren.
wurde, wie bereits erwähnt, eine erfolgreiche Songschreiberin, deren Songs unter anderem von Tammy Wynette und Olivia Newton-John gesungen wurden. Hargrove trug den niedlichen Spitznamen „The Blue Jean Country Queen“, da sie hauptsächlich in Blue Jeans auftrat und komplett auf Kosmetik verzichtete. In dieser Aufmachung stellte sie in den vom Moonshine glasigen Augen der eingefleischten Country-Fans wohl eine Art Idealbild dar: ehrlich, ungeschminkt und hart arbeitend, Yee-haw!
Nach ihrer Heirat entdeckte Linda ihre Religiösität und veröffentlichte in den Achtzigern zwei Gospelalben. Danach wurde es weitgehend still um sie. Hargrove starb 2010 in Tallahasse.
Über und konnte ich leider nichts in Erfahrung zu bringen. Vermutlich sind auch sie inzwischen verstorben.