Was, wenn unsere Realität die »alternative Realität« ist? - Brett Battles‘ »Rewinder«
Was, wenn unsere Realität
die »alternative Realität« ist?
Brett Battles‘ »Rewinder«
Ich verstehe nur zu gut die Faszination, die Freunde phantastischer und/oder historischer Erzählungen solchen Themen entgegenbringen.
Mit »Rewinder« hat der US-amerikanische Autor Brett Battles, in Deutschland wohl am besten bekannt für seine Reihe um den Cleaner Jonathan Quinn (z.B. der Roman »Der Profi«), einen solchen Alternate History-Roman vorgelegt. Einen Roman, der dem Genre einen interessanten Twist verpasst: Was wäre, wenn unsere Realität gar nicht die echte, sondern eben die „alternative Realität“ bzw. die „alternative Zeitlinie“ wäre?
Die Story von »Rewinder«
»Rewinder« wird komplett aus der Sicht des Hauptprotagonisten Denny Younger erzählt und beginnt mit einer ebenso absurd wie faszinierend anmutenden Behauptung. Denny nennt sich selbst den „Zerstörer von Welten“ und begrüßt den Leser mit den Worten: „You wouldn’t be here if not for me.“ Was genau sich hinter diesem Ausspruch verbirgt, offenbart sich im Laufe der Erzählung, in der Denny seine Geschichte zum Besten gibt.
»Rewinder« spielt in einer Realität, in der die Welt in ein starres Kastensystem aufgeteilt ist. Die Geburt in eine bestimmte Kaste bestimmt in der Regel den kompletten Lebensweg eines Menschen. Denny Younger ist eine Acht, gehört somit einer niederen Kaste an, deren Mitglieder in erster Linie für mechanische und nur bedingt qualifizierte Arbeiten verantwortlich sind. Kinder folgen zumeist dem Weg ihrer Eltern. Für Denny bedeutet dies, dass er Arbeiter in einem örtlichen Kraftwerk wird – eine Vorstellung, mit der sich der junge Mann überhaupt nicht anfreunden kann.
Dennys Interesse an Geschichte und historischen Ereignissen ist es zu verdanken, dass alles ganz anders kommt. Nach außergewöhnlichen Ergebnissen in seiner Schulabschlussprüfung im Fach Geschichte wird er in das geheimnisvolle Upjohn Institute eingeladen, wo er die Möglichkeit bekommt, als „Rewinder“ ausgebildet zu werden. Hierbei handelt es sich um Personen, die die Abstammung und Ereignisse im Leben von Angehörigen meist höherer Kasten und deren Ahnen untersuchen. In einer Welt, in der die Zugehörigkeit zur „richtigen“ Familienlinie über Wohl und Wehe einer Person entscheidet, sind solche Informationen im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert.
Begeistert von der Möglichkeit, einem eintönigen Leben als einfacher Arbeiter zu entfliehen, tritt Denny die Ausbildung an – und erfährt so vom wohl bestgehütetsten Geheimnis der Welt. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, wühlen sich Rewinder nicht einfach durch alte Folianten und Stammbäume. Vielmehr reisen Sie mit Hilfe komplexer Technologien in die Vergangenheit, um sich so mit eigenen Augen ein Bild von den Geschehnissen zu machen, die sie verifizieren sollen.
Die Ausbildung zum Rewinder ist hart, doch Denny ist begeistert. Nach und nach allerdings muss er erfahren, dass das Upjohn Institute alles andere als die ehrbare Einrichtung ist, für die sie sich ausgibt. Korruption und Machtgier durchziehen die Institutsleistung. Schon bald schwindet Dennys anfänglicher Enthusiasmus dahin.
Und dann geschieht etwas, wovor Denny immer wieder eindringlich gewarnt wurde: Durch eine winzige Unachtsamkeit verändert Denny die Zeitlinie. Als er aus einem Trip in die Vergangenheit in die Gegenwart zurückkehrt, muss er feststellen, dass diese nicht mehr die Gegenwart ist, die er kennt – sondern die unsere! Verzweifelt sucht Denny – der erst gar nicht weiß, warum genau denn eine Veränderung der Zeitlinie stattgefunden hat – nach einer Möglichkeit, wieder in seine Realität zurückzukommen. Doch je länger er sich in unserer Zeitlinie aufhält, umso mehr kommen ihm, aller Probleme dieser Realität zum Trotz, Zweifel, ob es wirklich sinnvoll ist, die „alte“ Realität wiederherzustellen.
Und dann sind da noch einige anderer Rewinder, die die Veränderung der Zeitlinie ebenfalls miterlebt haben und denen es in „ihrer“ Realität recht gut gefällt – und die nun ihrerseits alles dran setzen, die Veränderung der Zeitlinie rückgängig zu machen.
So faszinierend der Ansatz auch klingt …
… wird der Roman der ansprechenden Prämisse schlussendlich leider nicht gerecht. »Rewinder« entpuppt sich als mäßig inspirierendes Machwerk, das ohne echte Höhepunkte oder unerwartete Wendungen vor sich hinplätschert und die vielversprechende Ausgangslage leider nicht im Mindesten ausnutzt. Die Ursachen für die Enttäuschung sind vielfältig.
Ein erstes Manko ist darin zu sehen, dass »Rewinder« allzu kurz geraten ist. Battles sieht sich der schwierigen Aufgabe gegenüber, auf ca. 250 Seiten eine neue Welt bzw. Zeitlinie zu erschaffen, die sich in vielerlei Hinsicht von unserer unterscheidet, und zudem seinen Hauptprotagonisten in „unsere“ Zeitlinie zu verfrachten, die er kennen und lieben lernt. Eine Aufgabe, die nicht gemeistert wird – dem Autor bleibt aufgrund der Tatsache, dass er ja neben zweier Weltenbeschreibungen auch noch eine spannende Geschichte liefern muss, einfach nicht ausreichend Raum, die beiden Zeitlinien ansprechend und lebendig zu schildern. Allen voran Dennys Zeitlinie wird nur sehr oberflächlich in Szene gesetzt. Der Leser kann sich nur bedingt ein Bild von dieser ungewöhnlichen Welt machen. Die Ereignisse in unserer Zeitlinie hingegen wirken beliebig, vieles, insbesondere Dennys Akklimatisation und allmählich erstarkende Vorliebe für unsere Realität, ist abgehackt und ohne echten Elan dargestellt.
Das zweite Manko ist die Unentschlossenheit, mit der Battles die Erzählung angeht. Historisches Epos, Sci-Fi-Erzählung, Actionthriller, charakterbasiertes Drama – das Buch schwankt zwischen einer Vielzahl von Genres hin und her, ohne jemals eine echte Linie finden zu können. Es gelingt Battles einfach nicht, die verschiedenen Storyebenen zu einer harmonischen Einheit zusammenzufügen. Der Roman will viel und wird schlussendlich leider keinem Genre gerecht. Zu spannungsarm für einen Thriller (Dennys Kampf gegen das Upjohn Institute) und zu oberflächlich für ein intensives Charakterdrama (Dennys Entwicklung und seine zunehmende Vorliebe für unsere Zeitlinie), gelingt es dem Roman leider nie, wirklich Fahrt aufzunehmen und den Leser an die Seiten zu fesseln. Allen voran die vermeintliche Thriller-Handlung, die den Leser, wie der Prolog glauben machen will, erwartet, entpuppt sich bald als beiläufig behandelter Handlungsstrang, der lediglich auf den letzten Seiten des Buchs in den Vordergrund treten darf und kurzzeitig so etwas wie milde Spannung aufkommen lässt.
Was dem Buch letztendlich allerdings das Genick bricht, sind die beliebigen, austauschbaren Figuren. Die Protagonisten sind samt und sonders oberflächlich geschildert, sie kommen durchweg stereotyp und charakterlich ohne jegliche Ecken und Kanten daher. Schon jetzt, gerade einmal wenige Stunden nach Ende der Lektüre des Romans, wo ich diese Rezension schreibe, fällt es mir ausgesprochen schwer, mich an irgendeinen Protagonisten abseits von Denny zu erinnern. Und selbst dieser wirkt blass, farblos und uninteressant – ein Unding für einen Ich-Erzähler!
Was am Ende übrig bleibt …
… ist ein kurzes, gut lesbares, aber leider eben recht enttäuschendes Buch, das aus einer vielversprechenden Ausgangssituation einfach nicht genug macht. Statt eines spannenden Abenteuers mit starken Charakteren bekommt der Leser eine wenig überzeugende, flache Geschichte geboten, die schnell im Reich des Vergessens versinken wird. Kurzum: Ein Buch, das selbst die größten Fans von Alternate History-Erzählungen nicht gelesen haben müssen.
Schade – hier ist definitiv mehr drin gewesen!
: Das Buch ist bislang nur in englischer Originalversion verfügbar. Ob und wann einen deutschsprachige Ausgabe erscheint, kann ich zu diesem Zeitpunkt leider nicht sagen.
Daten zum Buch: