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Alte Schinken: Frankenstein – oder wer liest denn bitte sowas ALTES?

Alte SchinkenFrankenstein – oder wer liest denn bitte sowas ALTES?

Neulich in der Bibliothek. Bei meiner Erkundung der Horror-Abteilung fiel mir neben altbekannten Vertretern wie Herrn King und Co. ein unscheinbares Büchlein mit vergilbtem Inhalt auf: „Frankenstein – von Mary Shelley“. Mein Hirn ordnete es zu der Liste „Bücher, die man kennen muss, aber irgendwann mal lesen kann“ ab. Aber Herr Boris Karloff alias Frankensteins Monster schaute mich auf den Cover so traurig an, dass ich mich entschloss, dem Urwerk des Horrors eine Chance zu geben. Mit überraschendem Ergebnis.

Frankenstein Cover und seine AutorinDaheim stellte ich fest, dass ich eine ungekürzte Ausgabe von Ullstein in Händen hielt, die 1994 in Druck gegangen war und 251 Seiten umfasste. Allein die Entstehungsgeschichte von Frankenstein ist lesenswert. Im Sommer 1816 hielt sich die neunzehnjährige (!) Mary Wollstonecraft Godwin, ihr zukünftiger Ehemann Percy Bysshe Shelley und der berühmte Lord Byron samt Leibarzt Polidori am Genfer See auf, in dessen düstere, nächtlicher Atmosphäre sich die vier kurzerhand entschlossen, Grundsteine für die heutige Horror-Literatur zu legen.

Mary Wollstonecraft ShelleyEin Wettbewerb für Schauergeschichten sollte neben Marys Frankenstein auch den Beginn des Vampir-Genres hervorbringen ( Polidoris The Vampyre gilt als erster Vertreter der Blutsauger). Die junge Mary schrieb in dieser Nacht ihren Frankenstein oder der moderne Prometheus, ohne zu ahnen, dass knapp zweihundert Jahre später ich ihn finden würde.Dem Naturwissenschaftler Viktor Frankenstein gelingt das Unmögliche, nämlich durch alchemistische Experimente, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Sein Triumphgefühl wandelt sich in Schrecken, als er sich einem äußerlich grauenerregendem Monster gegenübersieht. Ohne sich weiter um sein erschaffenes „Kind“ zu kümmern, ergreift Frankenstein die Flucht und lässt es alleine zurück.

 

Vom Vater verlassen versucht sich das unwissende Wesen in der neuen, fremden Welt zurechtzufinden. Er sehnt sich nach menschlicher Gemeinschaft und Liebe, aber jeder seiner Annäherungsversuche wird mit Entsetzen und Ekel vergolten. Als er erkennt, dass er niemals akzeptiert werden würde, egal wie sehr er sich bemüht, wird das Wesen zu dem todbringenden Monster, als welches ihn die Menschen von Vornherein abgestempelt haben. Sein Hass richtet sich gegen seinen Schöpfer, aber ebenso entsteht in ihm ein Wunsch. Das Monster erkennt nur einen Weg, in dieser Welt leben zu wollen: nämlich an der Seite eines weiblichen Wesens gleich seiner Art, eine Frau, erschaffen von niemand geringeren als Frankenstein.

 

Frankensteins Flucht vor seiner Schöpfung verwandelt sich in ein Martyrium, da diese nach und nach seine Liebsten umbringt und bis zu seinem Tod nicht von ihm ablassen wird.

 

Eine reißerisch aufgemachte US-AusgabeDer moderne Leser mag als erstes aufstöhnen und denken: „Warum liest sich das ganze als Brief?“ Das war damals groß in Mode, nannte sich Briefroman, und gewinnt nach kurzer Eingewöhnung einiges an Reiz. Natürlich ist es nicht nur das, was manchem Leser missfallen könnte. Die Erzählsprache ist veraltet, holt weit aus und verharrt an manch Ortsbeschreibungen oder Gedankengängen, die weder zur Handlung beitragen oder sie fortführen. Aber was erwartet man von einem zweihundert Jahre alten Buch? Es wurde damals anders geschrieben und anders gelesen – doch zu guter Letzt gibt es einen zentralen Anker, an dem sich alle Geschichten seit Odysseus messen lassen müssen: ob sie gut ist. Und das ist Frankenstein ohne Zweifel. Emotion, Tiefgang und Atmosphäre tragen einen durch den Roman und lassen einen öfter einmal aufhorchen und nachdenken. Wer sich fallen lässt in Viktor Frankensteins zunehmenden Wahn, wer mitfühlen kann mit den vergeblichen Anpassungsversuchen seines Monsters, der wird vergessen, wann die Geschichte geschrieben wurde. Der Horrorfaktor im Buch ist ein subtiler, es sind vor allem die Filme, die aus Frankensteins Monster das Monster gemacht haben. Mary Shelleys Frankenstein ist ein mitleideregendes Wesen, dessen Tragödie allzu menschlich ist.

 

Ein zeitloses Werk, an dem sich nicht nur Horror-Autoren bis heute gut und gerne eine Scheibe Tiefgang abschneiden können. Wer es noch nicht kennt … geht einmal in die örtliche Bibliothek.

Kommentare  

#1 Gabriel Adams 2008-08-17 21:58
Super Artikel! So toll die neuen Werke von Meyer, Prachett, Hohlbein und Co auch sein mögen, die alten Klaasiker sollte man niemals vergessen! Ich selbst bin ein begeisterter Jules-Verne Fan und kann daher gut verstehen, dass man einen Klassiker wie "Frankenstein" weiterempfehlen möchte.
Beide Daumen hoch: Klasse Beitrag, bitte mehr davon!!!
Eine Frage hätte ich aber noch: Du erwähnst, dass im Sommer 1816 die Grundsteine für die Horrorliteratur gelegt wurden, unter anderem für Vampirromane und eben Geschichten über das Frankensteinmonster. Weißt du zufällig, welche weiteren Geschichten in diesem Sommer bei dem Treffen der angehenden Autoren noch entstanden sind?

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