Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 21: Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887 (1888)
Teil 21:
Edward Bellamy:
Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887
(1888)
Bellamys Buch wurde so heftig diskutiert, dass sich am Ende auch Politiker, Philosophen und Kommunisten in die Debatte einklinkten.
Vor Wells gab es zwei epochale Zeitreiseromane. Beide stammten aus den USA, beide wurden in den späten 1880er Jahren verfaßt. Nahezu zeitgleich. Im wohl lustigsten phantastischen Roman zwischen Swifts „Gullivers Reisen“ und Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ läßt Mark Twain einen modernen Amerikaner das Mittelalter aufmischen und gegen Zauberer Merlin antreten. Doch selbst dieser Jahrhundertspaß (mit bitteren Untertönen) von 1889 , „Ein Yankee an König Artus' Hof“, verblasste gegen den Rummel, den Bellamys Weltbestseller zur selben Zeit machte.
Dabei kann sich der Roman in keiner Weise mit dem brillanten Stil eines Mark Twain messen.
Wie konnte ein eher dilettantischer Autor, von dem man vorher wenig bis nichts gehört hatte, den genialen Verfasser von „Tom Sawyer“ so mühelos überflügeln?
Zunächst durch ein Wagnis, das in der phantastischen Literatur relativ neu war. Bellamys Ich-Erzähler reist in die Zukunft. In eine Zukunft mit magischem Datum – ins Jahr 2000.
Doch auch das war noch nicht der Clou an der Sache. Der Roman bedient sich eines ebenso aufreizenden die einfachen Tricks, um seine Zeitgenossen aus der Fassung zu bringen. Hierin ist er ganz Sensationsroman von der sensationellsten Sorte. Der Ich-Erzähler, der im Jahr 2000 unwiderruflich feststeckt, schreibt für seine neue Epoche. Er schreibt für die Menschen von 2000.
Schon der Beginn des Buches ist ein Paukenhieb, eine furiose Eröffnung, die die damaligen Leser sofort in den Bann schlug.
Ich erblickte das Licht der Welt in Boston im Jahre 1857. »Was!« sagt der geehrte Leser, »1857? Das ist ein sonderbarer Fehler, er meint natürlich 1957.« Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist kein Irrtum. Es war ungefähr vier Uhr nachmittags am 26. Dezember, einen Tag nach Weihnachten, im Jahre 1857, nicht 1957, als ich zum erstenmale den Ostwind Bostons einatmete, welcher, wie ich dem Leser versichern kann, in jener vergangenen Zeit sich durch die nämliche Ein- und Zudringlichkeit auszeichnete, wie im gegenwärtigen Jahre des Heils 2000.
Wie gelangt ein Bostoner Bürger, Jahrgang 1857, ins Jahr 2000 – ohne Zeitmaschine?
Die Antwort ist – wie ich finde - ziemlich originell (einige zeitgenössische Kritiker waren anderer Ansicht.) Der ängstliche und hypochondrische Julian West lässt sich einen feuerfesten Bunker bauen, in dem er stets übernachtet. Da er außerdem nervös ist und unter Schlafstörungen leidet, lässt er sich von einem Profi-Hypnotiseur jede Nacht einschläfern. Sein Diener muss den Herrn morgens mit einem bestimmten Ritual aus dem hypnotischen Schlaf wecken.
Eines Nachts brennt das Haus wirklich ab. Der Diener kommt dabei ums Leben, der Arzt ist verreist, und allgemein wird geglaubt, der junge Mann sei verbrannt. Auf den Fundamenten des Hauses werden neue Gebäude errichtet. Erst im Jahr 2000 wird der hermetisch geschlossene Keller bei Bauarbeiten entdeckt – und so findet man den noch lebenden, im Hypnotischen Schlaf befindlichen Julian.
Die Besitzer des jetzigen Grundstücks nehmen den verstörten Mann auf, es trifft sich gut, dass der Hausherr Dr. Leete, Mediziner ist.
So hübsch – wenn auch etwas konstruiert – der Roman anhebt, so schnell verliert er an Tempo und versandet in endlosen Diskussionen über die neue Gesellschaftsordnung von 2000. Und jetzt zeigt sich, dass Bellamy eigentlich keinen fesselnden SF-Roman verfassen will. Sein Roman-Garn ist Verpackung, die Zuckerhülle um die eigentliche Pille. Er will eine soziale Utopie schreiben, den Amerikanern zeigen, wie ungerecht seine Welt ist, und wie einfach es sein könnte, die sozialen Ungerechtigkeiten zu ändern.
Das ist natürlich für uns, die wir nun das Jahr 2000 auch schon wieder zur Geschichte zählen, sehr amüsant. Denn die Probleme, die uns heute wirklich massiv beschäftigen, nämlich die zunehmende Monopolisierung der Welt, die Zerstörung des Einzelhandels und die Konzentration der Wirtschaft auf wenige internationale Riesenkonzerne, ist für Bellamy die Lösung! Ein sanftes Grauen stellt sich ein, wenn wir lesen, was aus der Welt von 1887 geworden ist. Was hier eine fröhliche Utopie sein soll, gerät in moderner Lesart zur Dystopie, zum düsteren Alptraum, der zum Teil schon verblüffend an Huxleys „Schöne neue Welt“ erinnert. Die Konzerne haben sich am Ende zu einem gigantischen Riesenkonzern vereinigt, und der wiederum hat den Staat geschluckt. Staat und Wirtschaft sind nun eins. Und – trara! - dies Modell präsentiert uns Bellamy wirklich als beste aller Welten, als eine Art konservativen Kommunismus. Sein Hauptargument: Durch den Wegfall der Konkurrenz, durch die Vereinfachung der politischen und wirtschaftlichen Strukturen lässt sich endlich Weltwirtschaft planen. Fehlplanungen und Wirtschaftskrisen werden unmöglich. Alle Länder werden von einem Weltkonzern regiert, beliefert, kontrolliert. Ultrakapitalismus, die absolute Kontrolle ermöglicht gewissermaßen am Ende doch noch die sozialistische Planwirtschaft.
So absurd das für uns heute klingt – damals wurde diese Vision in Amerika enthusiastisch gefeiert. Einer der genialen Züge des Autors lag darin, dass er es verstand, turbokapitalistische, faschistische und ultrakommunistische Aspekte elegant unter einen Hut zu bringen. So konnte sich die Unternehmer-Gattin ebenso für den Roman begeistern wie der Gewerkschaftsfunktionär oder der radikale Nationalist. (Die Welt von 2000 wird wie im 3. Reich von einem Ein-Parteien-System beherrscht, der „Nationalisten-Partei“) Und wirklich sprossen in den USA bald diverse Bellamy-Clubs aus dem Boden, Debattierclubs, in dem sich rechte und linke Bürger vom Rand des Spektrums begegneten. Bellamys Buch brachte es also durchaus fertig, sehr extreme Lager an einen Tisch zu bringen.
Dennoch hatte das Buch einen Schönheitsfehler – grade weil es in der fernen Zukunft spielte, weil es für jeden Geschmack etwas bereithielt, weil sich die extremen Thesen gegenseitig aufhoben – war das Buch auch harmlos. Es richtete keinen Schaden an. Sein Einfluss beschränkte sich am Ende doch auf die Literaturgeschichte. Schon Monate nach Erscheinen des Romans schliefen die Debattierclubs wieder ein. Und Bellamys Fortsetzung, „Gleichheit“ wurde ein totaler Flop.
In Deutschland allerdings verursachte der Roman eine Aufregung ganz anderer Art. Hier war der Marxismus inzwischen sehr populär; besonders nach Aufhebung des Sozialistengesetzes hatten linke Vereine, allen voran die SPD, viel Zulauf.
Zu den Eigenheiten der deutschen Linken in den 1880er Jahren gehörte, dass sie allen Fragen nach dem „Zukunftsstaat“ auswichen. Das lag sicher zum Teil daran, wie Bismarck ironisch anmerkte, dass sie selbst keinen blassen Schimmer hatten, wie der aussehen sollte. Zum andern war auch Marx kein Freund wilder Spekulationen. In die ständige, von Marx und Engels diktierte Weigerung, den Anhängern konkret auszumalen, wie es denn im Sozialismus zugehe, platzte Bellamys Buch. Die deutsche Sozialdemokratie war entsetzt, denn viele Leser nahmen den Roman nun als Ersatz für die ewig verweigerten Visionen. Ein schönes Beispiel übrigens dafür, wie tief in uns der Wunsch nach Utopien sitzt und wie sehr wir sie brauchen - verweigert man sie uns an einer Stelle, holen wir sie uns woanders. Eine Erfahrung, die auch die moralinsauren Gegner der von ihnen so diffamierten „Schundliteratur“ immer machen mussten und zum Teil immer noch machen.
Verständlicherweise reagierten die großen Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie sehr verschnupft bis wütend auf den Roman. Hier haben wir den seltenen Fall, dass sich wirklich linke Politiker von Kautsky bis Bebel herabließen, über ein SF-Werk zu reflektieren. Ja, Klara Zetkin ging sogar soweit, dass sie den Roman übersetzte. Ihre deutsche Übersetzung ist weiß Gott nicht die einzige aus der Jahrhundertwende – dafür war der Roman viel zu populär – aber bis heute die beste und lesbarste.
Zetkin hält sich für eine Kommunistin erstaunlich präzise an den Urtext und erträgt die offen antikommunistischen Stellen mit geradezu zen-buddhistischer Geduld (anstatt sie wegzulassen oder hämisch zu kommentieren.) Dass Zektin das Werk überhaupt übersetzt hat, verwundert – denn wie gesagt war es bei den meisten Linken verhasst. Vermutlich reizte sie das wirklich verblüffend moderne Konzept der Geschlechter-Gleichstellung, das der Autor propagiert.
Wie man auch zu linken Ideen stehen mag – der Groll ist nachvollziehbar, denn Bellamys Ideen wurden von den Lesern nicht selten für das gehalten, was sich Linke insgeheim wünschten, aber nicht auszusprechen wagten – und entsprechend abgelehnt oder befürwortet.
Bemerkenswert ist eine lange und wütende Rezension des Romans von Karl Kautsky, einem der wichtigsten sozialistischen Theoretiker jener Zeit. Damals war er noch orthodoxer Marxist, (später nähert er sich ironischerweise Bellamys Thesen an), und natürlich kann er nicht umhin, das Totschlagargument anzubringen, das uns aus DDR-Zeiten hinlänglich bekannt ist: Alle sich von Marx entfernenden Ideen sind „unwissenschaftlich“, weil Marx selbst zum unanfechtbaren Wissenschaftler deklariert wird. Der beliebte (vulgär)marxistische Zirkelschluss halt. Aber dennoch enthält Kautskys Kritik einige heute noch beachtenswerte Punkte, sein scharfer Verstand erhellt die Schwächen des Romans durchaus.
„Es fehlt dem Verfasser jegliches Gestaltungsvermögen. Statt die neue Gesellschaft, in die Julian West versetzt wird, in ihrem Leben und ihrem Treiben uns vor Augen zu führen, bannt uns der Dichter fast ständig im Haus des Dr. Leete fest, wo dieser und seine Tochter erzählen, wie es in dem neuen Boston aussieht.“
Das ist leider nur zu wahr. Das meiste liest sich sehr papieren und akademisch, zuweilen sogar zäh. Vor allem stößt heute unangenehm auf, wie überlegen-spießig diese Besserwisser des 21. Jahrhunderts sind und jeden, aber auch jeden Einwand oder Zweifel des Ich-Erzählers – und damit des Lesers - mit dem mokanten Lächeln eines nervigen Klugscheißers entkräften.
Auch die hineingequetschte Liebesgeschichte ist nicht dazu angetan, die Story aufzuwerten – Julian verliebt sich unsterblich in die Tochter des Dr. Leete, die sich wiederum als Ahnin der Ex-Verlobten Julians aus den Tagen des 19. Jahrhunderts outet!
Tatsächlich wurde die arrogante Attitüde der Zukunftsprotagonisten, die müde Herablassung der neuen Menschen schon damals von Zeitgenossen als störend empfunden. Den Autor Richard Michaelis wird das sogar zu einem originellen, wesentlich spannender geschriebenen Fortsetzungsroman inspirieren, in dem sich die saturierte Überheblichkeit von Dr. Leete und seinesgleichen als verzweifelter Versuch entpuppt, blutige Kriege zwischen Arbeitern und Unternehmern vor dem Zeitreisenden zu vertuschen. Der geschockte Julian muss bald feststellen, dass die Welt doch nicht so perfekt ist, wie ihm im abgeschotteten Haus erzählt wird.
Doch trotz aller Schwächen: Auch aus heutiger Sicht erweist Bellamy sich noch als erfreulicher Querulant und herrlich unbequemer Provokateur. Denn sein Roman bietet durchaus noch andere moderne Lesarten. Die Arroganz gegenüber unseren Vorfahren – zeichnet sie uns nicht wirklich aus? Liest man heute in Foren von amazon bis audible, mit welcher unbeschreiblicher Überheblichkeit „alte“ Romanautoren von Lesern abgekanzelt werden, weil in ihren Büchern „noch“ - welche Antiquiertheit! - Disketten vorkommen und keine Sticks, sollte man sich nicht über Bellamys Klugscheißer ärgern.
Atemberaubend ist Bellamy auch in den wenigen Passagen, in denen er wirklich ein bißchen über technische Revolutionen plaudert und uns einen Zipfel seines 21. Jahrhunderts zeigt.
Fast alle seine vorhergesagten Erfindungen sind heute Normalität. Als gesichert gilt, dass er der erste SF-Autor ist, der Kreditkarten vorhersagt. Sogar wörtlich ist von ihnen dort die Rede.
Außerdem gibt es „Musikzimmer“ - Räume in jedem Haus, in denen die Bewohner Telefonverbindungen höchster Qualität zu Studios und Konzertsälen besitzen. Kurz, Bellamy sagt hier nicht nur den Rundfunk, sondern den Kabel-Rundfunk voraus – auch mehrere Sender gibt es und eine Programmzeitschrift.
Faszinierend ist auch Bellamys Vision eines perfekten Versandhandels. Zwar bleibt wohl Robert Kraft (in „Loke Klingsor“, 1916) der einzige SF-Autor, der vor dem zweiten Weltkrieg im Roman so etwas ähnliches wie Internet erfindet, doch auch Bellamy nähert sich zumindest dem Prinzip von amazon erstaunlich an.
In Kaufhäusern gibt es nur noch Muster der Waren, man sucht sie aus – und geht nach Hause. Die Waren sind dann schon da – durch pneumatische Röhren ins traute Heim gejagt – und der Geldwert wird automatisch von der Kreditkarte abgebucht. Für 1888 sind das erstaunliche Visionen.
Letztendlich mögen Bellamys Lösungsvorschläge für die großen sozialen Probleme der Menschheit uns heute eher mit Entsetzen erfüllen, doch die Beschreibung dieser Konflikte selbst, die Schiderung von Gier, Chaos, Selbstsucht im Kapitalismus, stimmt noch immer nachdenklich, ist brandaktuell und macht uns vermutlich noch ratloser als die Zeitgenossen – weder der Ist-Zustand scheint auf Dauer erträglich, geschweige denn Bellamys Gegenentwurf. Dass Bellamys Unbehagen an der Menschheit von 1887 auch von uns geteilt werden kann, weil alles beim Alten ist, dass dieser Roman uns mindestens genauso beunruhigt wie seine Zeitgenossen, macht seine Größe aus – und lässt ihn tatsächlich, trotz aller Schwächen, zum Klassiker werden, der gleichberechtigt neben Orwells „1984“ und Huxleys „Schöner neuer Welt“ steht – als eine der wichtigste Dystopien der Literaturgeschichte. (Auch wenn das so von Bellamy nicht beabsichtigt war.)
Und natürlich auch als wichtigster Katalysator für SF-Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.
Denn die Provokation des Romans löste eine Flut von Gegenentwürfen und Imitationen aus, die wiederum die Zeitreise und die Utopie (zuweilen auch die Dystopie) in die Massenliteratur katapultierten.
Heute ist der Roman in mehreren Verlagen erhältlich - meist in der vorzüglichen Übersetzung von Klara Zetkin. Die beste und empfehlenswerteste Ausgabe ist die des Golkonda – Verlags (2013, auch als ebook erhältlich) - die ergänzt wird durch eine wirklich hervorragende und kluge Einführung von Wolfgang Both, der ich auch das schöne Kautsky-Zitat entnommen habe.
Was fehlt – nicht dieser Ausgabe, sondern generell – ist eine umfassende Dokumentation der Literatur, die dies einflussreiche Buch losgetreten hat, eine Sammlung von Rezensionen und natürlich den vielen utopischen Romanen, die als Reaktion auf den „Rückblick“ entstanden. Die englische Wikpedia (List of sequels to „Looking backward“) listet über 50 Fortsetzungen auf!
Wünschenswert wäre auch eine immer noch ausstehende Übersetzung von Bellamys eigener Fortsetzung.
Immerhin: Die berühmteste Replik, William Morris' Roman „Kunde von Nirgendwo“, ist ebenfalls im Golkonda-Verlag auf deutsch erschienen.
Nächste Folgen:
Camille Flammarion: Die Mehrheit bewohnter Welten (1862) (2. November)
Giambattista Basile: Das Märchen aller Märchen (1634) (16. November)
Richard Wunderer: Rick Masters - Die Anfänge (1974) (30. November)
Kommentare
Zitat: Das überrascht mich jetzt. Dann war die schwer enttäuschende Ziegler-Ausgabe des Verlags wohl doch eine Ausnahme.
Zitat: Lässt sich auf jede Religion übertragen.