Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 43: Reginald Scott & Norvell Page The Spider - Wie alles begann. Hefte 1-4 (1933/34)
Teil 43:
Reginald Scott & Norvell Page
The Spider - Wie alles begann. Hefte 1-4
(1933/34)
I.
Natürlich gibt es Verbindungen zwischen den beiden Herren Spider und Spiderman. Sie bestehen einfach darin, dass der Erfinder der Spiderman-Comics, Stan Lee, ein Riesen-Spider-Fan war. Er verschlang in der Kindheit alle Spider-Pulps und war hingerissen. Und borgte sich den Namen.
Hero-Pulps waren in den 1930er/40er Jahren zwar äußerst erfolgreich, stellen aber eine Ausnahme in der Pulp-Magazin-Geschichte dar. Dass ein ganzes Heft einem Serienhelden gewidmet war und einen durchgehenden Roman enthielt, wie wir es von unseren Heftromanen kennen, blieb die Ausnahme. Pulps brachten in der Regel Kurzgeschichten.
Dabei war die Idee des Serienhelden innerhalb von Magazinen durchaus nicht neu.
Da war zunächst Nick Carter, der legendäre Detektiv der Dime Novels, die um 1900 gigantische Erfolge erzielten. Schon bald begannen sich aber auch populäre Detektive und Superhelden innerhalb der Kurzgeschichten-Magazine zu etablieren. Der populärste gab Tempo und Anmutung vor: Craig Kennedy, der amerikanische Sherlock Holmes, ein Professor, der seine Fälle mit völlig neuen Maschinen, Apparaturen und Messinstrumenten löst, war der Urvater aller SF-angehauchten Superhelden. Der „klassische“ Kanon beläuft sich auf 82 Stories, die zwischen 1910 und 1918 in der Zeitschrift Cosmopolitan erschienen. Ja es gab sogar eine erste Superheldin: Madame Storey. Die bildschöne Detektivin, assistiert von ihrer nicht weniger attraktiven rothaarigen Chronistin Bella (der erste weibliche „Dr. Watson“), stürzte sich in den 20er und frühen 30er Jahren in zahlreiche Abenteuer, die man im Pulp-Magazin „Argosy“ nachlesen konnte. Autor war der Kanadier Hulbert Footner.
Doch so erstaunlich die Fälle auch waren – da gab es doch ein Manko, das viele abenteuersüchtigen Leser monierten. Die Detektive veharrten oft im Auge des Orkans. Ihnen passierte nie etwas, sie lösten kaltblütig und schlau ihre Fälle, und meist geriet dabei nicht mal ihre teure Kleidung in Unordnung.
Die Epoche der Weltwirkschaftskrise und der Diktaturen schrie geradezu nach Krimi-Helden, die selbst die Ärmel hochkrempelten und ins Geschehen eingriffen.
Zunächst entdeckte das neue Medium Radio dieses Bedürfnis nach violenten Helden. 1930 jagte in den Studios ein finsterer Detektiv namens „The Shadow“ die Schurken Amerikas. Schon bald, 1931 folgten „Hefte zur Serie“, und "The Shadow" agierte auch in einem Magazin. Herausgeber war der Zeitschriften-Riese Street & Smith.
Street & Smith gehört zu den erstaunlichsten Magazin-Verlagen aller Zeiten. Er bezog seine Haupteinnahmen aus Liebesschnulzen und Western, benutzte aber einen Teil des Geldes für Experimente und anspruchsvollere Projekte. (Street & Smith gehörte u.a. auch die legendäre SF-Zeitschrift „Astounding Stories“.) Die düster-brutalen Geschichten um den Shadow-Detektiv waren ein Wagnis – das sich auszahlte. The Shadow wurde zum Sensationserfolg und Street & Smith noch reicher.
II.
Und hier kommt The Spider ins Spiel. Genauer gesagt, Popular Publications. Ich habe über diesen damals relativ jungen Verlag schon an anderer Stelle ausführlich berichtet, als es um Horror-Pulps ging.
(http://www.zauberspiegel-online.de/index.php/phantastisches/gedrucktes-mainmenu-147/26402-schlottern-zum-kleinen-preis-das-legendaere-us-amerikanische-dime-mystery-magazine-1932-50)
Besitzer Harry Steeger war ein leidenschaftlicher Horror-Fan und liebte düstere Plots. The Shadow haute ihn einfach von den Socken. Er wollte ebenfalls einen solchen Serienhelden haben. Doch einiges sollte anders sein als bei der Konkurrenz. Steeger und der Autor Reginald Scott entwickelten 1933 ein erstaunliches Profil eines "modernen" Serien-Helden.
Er sollte – anders als die meisten früheren Heros – verletzbar sein. Wichtig war, eine Figur zu erschaffen, die zwar in Ansätzen labil und neurotisch wirkt, aber nicht komisch – dann käme zu schnell eine Art Inspektor Clouseau heraus.
Auch hier wieder mußte Conan Doyles genialer Detektiv Sherlock Holmes Pate stehen. Richard Wentworth führt – wie später viele seiner Superhero-Nachfolger- ein Doppelleben. Er ist ein reicher aber brillanter Schnösel, der oft in seiner Freizeit der Polizei hilft, schwierige Fälle zu lösen. So kommt es, dass der Chefinspektor New Yorks, Stanley Kirkpatrick, sein bester Freund ist. Doch oft stößt Wentworth bei seinen Abenteuern an die Grenzen der Legalität. Dann zieht er sich um, und zieht maskiert los als rasender Mörder in der Verbrecherwelt – sein Ziel ist es, den Spieß umzudrehen und Schurken, die sich dem Zugriff des Gesetzes entziehen, gnadenlos zu töten. Seine Opfer werden mit einem purpurroten Spinnensymbol aus der Stirn gefunden...
Ein ewiger Running-Gag der Hefte ist es, dass Inspektor Kirkpatrick im Grunde ahnt, dass sein bester Freund identisch mit „The Spider“ ist. Er versucht denn auch jedesmal, ihm das zu beweisen – eine Art makabres Spiel zwischen beiden. Natürlich gelingt es ihm nie.
Wentworths durchaus psychopatische Persönlichkeit ist sehr unschematisch angelegt. Er spielt genau wie Holmes Violine, leidet aber – anders als Holmes – an Minderwertigkeitskomplexen. Außerdem ist ihm eine Archillesferse beigegeben – er liebt eine abenteuerlustige Hobbydetektivin, Nita van Sloan, die ihm oft bei den Fällen hilft (oder er ihr). Obwohl er damit verwundbar wird (nicht selten wird sie von seinen Widersachern entführt, um ihn zu erpressen) hält sich die Angelegenheit dadurch in der Waage, dass Nita umgekehrt auch Wentworth das Leben rettet. Sie und Wentworths indischer Diener Ram Singh sind die einzigen, die um sein Geheimnis wissen.
Dass wir hier also keinen Klischeehelden präsentiert bekommen (viele Züge der Hefte werden später bei Imitatoren zum Klischee, aber dafür kann Steeger nichts), ist schon mal großartig.
Aber dabei beließen es die Erfinder nicht.
Nicht umsonst war Steeger der wichtigste Initiator und Förderer des modernen Gore-Horrors, der in seinen berüchtigten Shudder-Pulps zelebriert wurde. Steeger wollte von Anfang an eine blutige Note in den Heften, eine schockierenden Unterton, der sich dezidiert an Erwachsene richtet. Dabei war Steeger durchaus auch – als echter Horror-Fan – für abgedrehte morbide Ideen empfänglich.
In späteren Jahren sollte er davon mehr bekommen, als ihm vielleicht lieb war...
III.
Reginald Scott begann mit der Ausarbeitung der ersten zwei Romane. Die erste Ausgabe erschien im Oktober 1933.
„The Spider Strikes“ hieß das erste Heft.
An dieser Stelle muß eine alte hartnäckige Legende erwähnt werden, die immer wieder kolportiert wird – die Legende von den angeblich ersten beiden schwachen Romanen. Der Hintergrund: Autor Reginald Scott wird nach 2 Heften gefeuert. Warum, weiß man nicht. Stattdessen setzt ein erfahrener Pulp-Autor die Reihe fort: Norvell Page.
Die Tatsache, dass Scott nur 2 frühe Abenteuer beisteuerte (insgesamt erschienen bis 1943 118 Ausgaben), dürfte zum hartnäckigen Gerücht geführt haben, diese Romane wären schwach. Sie sind vielleicht keine Highlights der Krimiliteratur, aber zumindest nicht schwächer als die ersten beiden von Page. Im Gegenteil.
Nun ist es ein generelles literarisches Gesetz, das Piloten einer großen Serie meist nicht besonders zündend sind. Denn der Held muß eingeführt, die Nebenfiguren vorgestellt werden. Das ganze schwerfällige Gerüst muß etabliert werden. Das erledigt Regnald Scott auf bewunderungswürdige Weise. Tatsächlich hat Scott ein Faible für atmosphärische Beschreibungen, die Page, als er einstieg, zunächst nicht gleichwertig liefern konnte. Der erste Roman ist witzig, spannungsreich, voller schöner Wendungen und entbehrt auch nicht einiger ekliger Slash-Szenen auf einem verfallenen Hafengelände.
Scott führt uns im 2. Roman dann – schöner Kontrapunkt - in die dekadenten New Yorker Lasterhöhlen der Reichen, wo Richard und Nita eine Serie von Morden untersuchen. Wunderbar beschreibt Scott das Treiben in illegalen Spielhöllen und Dark rooms der 30er Jahre.
Und da war noch mehr, um die Sinne zu schockieren. Vor zwei Ausgängen dieses erstaunlichen Raums standen zwei Frauen, ausgewählt wegen ihrer exquisiten Figur. Eine von ihnen war komplett mit Gold bemalt, und die andere mit Silber. Und keine hatte sonst irgendwas an. Im Licht des flackernden roten Feuers winkten sie einladend, jede zu ihrem Ausgang. Die Trommeln, die roten Flammen und weiblichen Formen waren gut kalkuliert – sie sollten die Neuankömmlinge zugleich schockieren und stimulieren.
„Hm!“ machte Wentworth angenehm überrascht. „Nicht schlecht! Aber ich hab das schon besser gesehen – in Wien...“
Nach zwei atmosphärisch dichten, auch mit leicht ironischem Tonfall gut erzählten Romanen hat es der Nachfolger Page schwer, das Niveau zu halten.
Im Dezember 1933 erscheint der erste Page-Roman (Spider Nr. 3), „Wings of the black death“ („Pest-Schwingen“), wie alle weiteren (später auch von anderen Autoren) unter dem Verlagspseudonym Grant Stockbrigde.
Im Grunde ein hölzerner Roman mit wenig Charme. Page muss sich erst zurechtfinden, die Figuren übernehmen mit ihnen vertraut werden.
Doch schon hier, in diesem eher spröden Heft, präduliert Page ein Thema, das später zentral wird in seinen Geschichten und das heute die Reihe wieder sehr zeitnah erscheinen lässt.
Pages Qualitäten liegen in der beklemmenden Zeichnung der apokalyptischen Gefahrensituationen, die er heraufbeschwört. Seine Storys handeln fast immer von Terror-Anschlägen. Sind in den frühen Romanen noch tausende bis Hunderttausende bedroht, fallen sie in späteren dann wirklich Terroristen zum Opfer, bevor The Spider die Akteure (oder den Hauptakteur) stoppen kann.
Page macht von Anfang an keinen Hehl daraus, dass er den Leser nicht zu schonen gedenkt und ihm nichts ersparen will.
Hier im 3. Band geht es um einen Angriff mit modifizierten, hyperagressiven Pest-Bakterien auf New York. In einer unvergesslichen abscheulichen Szene, die niemals die deutsche Bundesprüfstelle passiert hätte, jagt der Attentäter eine infizierte Hundewelpe in einen Kindergeburtstag im Freien. Wentworth erschießt den Hund vor den Augen der Kinder, nachdem sie ihn gestreichelt haben. Alle Kinder sterben an der Pest. Ein erstaunlich tabuloser Versuch, das Unschuldig-Niedliche mit dem Grausigen zu konfrontieren.
Mitunter sind Pages Bedrohungen realistisch, mitunter albern, nicht selten monströs und an spätere Comic-Welten erinnernd. Im 4. Spider-Roman etwa versucht ein Bankräuber, so viel amerikanisches Geld zu rauben, dass das Wirtschaftssystem zusammenbricht. Ein eher albernes Szenario ohne viel Charme. Aber Page fängt sich und versucht sich an Atmosphäre. Auch bei ihm geht es durch Abwasserkanäle und die glanzvollen Säle der High society. Und für die Morbiden beschreibt er ausschweifend eine langsame Erstickungstod-Methode, der fast auch Nita zum Opfer fällt.
Wer die ersten vier Romane liest, bekommt einen guten Vorgeschmack auf die Reihe – die aber so richtig Fahrt erst ab Mitte der 30er aufnimmt, als den Autoren immer Verrückteres einfallen muß, um die vorigen zu überbieten. Page selbst weigerte sich zunächst, den einigermaßen realistischen Boden der Storys zu verlassen. Er stieg eine Weile aus – dann kehrte er zurück und verfasste seltsamerweise noch verücktere Folgen als die andern, nach dem Motto: Wennschon, dennschon. Die letzten Folgen sind sehr okkultistisch-spiritualisitsch angehaucht, was den Pulp-Experten Will Murray zu der Bemerkung veranlaßte:
Just when the series couldn’t get any weirder, it ended like a fever breaking.
IV.
Unbedingt erwähnenswert sind noch die Kurzgeschichten in den Spider-Magazinen. Auf dem Höhepunkt der Short-Story-Hysterie (damals bei der Masse so beliebt wie heute dickleibige Fantasy-Romane) konnte es kein Magazin wagen, sie NICHT zu bringen. Nicht einmal die über Jahre als bestes Hero-Pulp-Magazin gefeierte Heftserie „The Spider“. Hier spürt man deutlich – die angefügten Geschichten (Ein bis drei pro Heft) sind keine Alibi-Beigabe, sondern sorgfältig ausgewählt, zum Teil besser als die Spider-Folgen selbst. War das erste Heft noch mit eher konventionellen Detektiv-Geschichten garniert, folgte bald ein deutlicher Trend hin zur düsteren Horror-Geschichte.
Steeger rekrutierte hierfür seine Starautoren aus den Shudder-Pulps, verwendete hier aber nur bestes Material. In Appels „Singing doom“ geht es um seltsames Vogelgezwitscher in einem alten Haus, das den Tod ankündigt. Und John Knox' „Fear Island“ beschreibt einen Horror-Trip eines Feriengastes auf einer vom Hochwasser isolierten Halbinsel, wo er von einem anscheinend wahnsinnigen Ferienhütten-Nachbarn verfolgt wird. (alle beide in Bd. 3)
Später sollte der geniale Horror- und SF-Autor Arthur Leo Zagat im hinteren Teil des „Spider“ sogar seine eigene Mini-Serie etablieren, die Doc-Turner-Geschichten.
The Spider mitsamt allen Bonus-Geschichten wird von der verdienstvollen amerikanischen Radioarchiv-Seite als ebook-Gesamtedition vorbereitet und ist fast abgeschlossen. Es fehlen (Stand November 2016) nur noch 4 Hefte. Im Zauberspiegel gibt es "The Spider Strikes" (Link zum 1. Kapitel)
Leider gibt es meines Wissens keine deutschen Übersetzungen.
Nächste Folgen:
Wiliam Hope Hodgeson - Carnacki, der Geisterfinder (1913) (28. November)
Jaques Offenbach - Ritter Blaubart (1866) (12. Dezember)
Kommentare
Aber die ersten beiden Romane, na ja, sie sind schon relativ öde und ziemlich konventionell. Ein bisschen ist es wie der Vergleich Äpfel und Birnen, denn Scotts Spider ist nicht mal ansatzweise der Psycho, der Pages Spider ist.
Die Geschichten sind teilweise auch heute noch unglaublich. Mir fällt auf Anhieb immer die Story ein, wo ein Erpresser Zigaretten vergiftet und Tausende New Yorker ihre Innereien auf den Bürgersteig spucken.
Aber man muss an Page schon ein paar Dinge akzeptieren, die man heute keiner Serie mehr durchgehen ließe. Innere Kontinuität war ihm so gut wie egal. Im nächsten Heft war immer alles wieder auf Anfang. Und er konstruierte seine Geschichten scheinbar nie oder selten durch. Was am Anfang noch wichtig war, geriet spätestens nach der Hälfte oft in Vergessenheit.
Aber dafür sind die Geschichten atemberaubend schnell. Page hatte ein Händchen, den Leser zu packen. Und er brach das Klischee von der hilflosen Freundin, die nur dazu da ist, um entführt zu werden. Herrlich sind die Romane, in der Nita die Rolle des Spider übernimmt, sich die MP schnappt und alle Bösen niedermäht. Auch wenn der Held immer jammerte, dass er sie wegen seinen Feinden nicht heiraten konnte, bin ich davon überzeugt, dass sie es zwischen den Abenteuern wie die Karnickel trieben