Vom Vampyr zum Positronenhirn. Alte phantastische Literatur im Verbrauchertest: Teil 50: H. G. Wells – Der Krieg der Welten (1898)
Teil 50:
H. G. Wells – Der Krieg der Welten
(1898)
I
Der 30. Oktober 1938 war ein schwarzer Tag für die US-Amerikanische Bevölkerung. Zumindest für diejenigen, die den Sender CBS empfangen konnten. Live wurde da von der Invasion der Marsianer berichtet – Todesmaschinen hatten begonnen, die USA zu unterjochen...
In vielen Orten brach Panik aus.
Obwohl die Sendung ausdrücklich als Hörspiel angekündigt war, und sich das Spektakel ausgerechnet auch noch am Halloween-Abend abspielte, glaubten viele, der Weltuntergang hätte begonnen. Sicher spielten dabei die populären Pulps eine große Rolle: Amazing Stories und vor allem das berüchtigte Blatt „Astounding Stories“ (nicht zu verwechseln mit dem späteren High-Quality-SF-Magazin) publizierten monatlich Geschichten, in denen fiese Aliens die Welt bedrohten.
Der 30. Oktober 1938 war allerdings auch ein schwarzer Tag für die Science-fiction-Fans. Ein reißerisches Hörspiel schob sich im kollektiven Bewußtsein wie eine dunkle Wolke vor ein geniales Buch. Zur Verwirrung (bis heute!) trug vor allem die Namensähnlichkeit der Verfasser bei. Das Hörspiel „The war of the worlds“, das sich nur sehr entfernt an die Romanvorlage anlehnte, wurde geschrieben und inszeniert vom berühmten Filmregisseur und Schauspieler Orson Welles (Citizian Kane). Er bezog sich auf einen Roman gleichen Titels von Herbert George Wells.
Bis heute bringen das viele durcheinander. Ein Haupteffekt dieser Wirrnisse ist, dass selbst versierte Leser den Roman nach vorn verlegen und ihn irgendwo in den 1930er Jahren ansiedeln. Und das läßt Wells (der ohne zweites e!) weniger revolutionär erscheinen als er ist. Sein Originalroman erschien nämlich zunächst 1897 in einem britischen Magazin als Fortsetzungsroman und 1898, erweitert und eleganter komponiert, in Buchform.
II
1897 ist früh für eine Alieninvasionsgeschichte. Was aber nicht heißt, dass Wells das Rad neu erfunden hat. Er mußte nur einige Komponenten neu zusammenfügen, um den einflußreichsten Science-Fiction-Roman des 19. Jahrhunderts zu kreieren. Es gab bereits einige große britische Romane, die Marsbesuche beschrieben, der erfolgreichste war wohl „Jenseits des Zodiakus“ von Percy Greg. Dort wird bereits 1880 eine hochentwickelte Marsgesellschaft beschrieben, allerdings ähneln dort die Marsianer im Aussehen und Verhalten stark den Menschen. Viel wichtiger war der Einfluß der sogenannten Invasionsliteratur auf den jungen Wells. Die Schnelligkeit und Brutalität, mit der die Deutschen 1870/71 in Frankreich vorrückten, die Bombardierung von Paris durch deutsche Mörser, die darauffolgende Zementierung deutscher Hegemonien durch die Gründung des Deutschen Reichs (ausgerechnet im besiegten Versailles) – das beunruhigte und faszinierte die Briten zutiefst. Diese Beunruhigung nährte den Boden für die Entstehung eines der ersten Subgenres der modernen SF überhaupt – der Military SF, die am Anfang eng verknüpft war mit der Alternativwelt-Fantasy. Beide heute wieder sehr moderne Richtungen haben ihre Wurzeln in einem Buch, das heute fast vegessen ist, dem Kurzroman „Die Schlacht von Dorking“, von George Chesney. Dort wird (rücklickend) 1871 die Invasion der Deutschen in Großbritannien geschildert, übrigens mit vielen inhaltlichen Parallelen zu Wells Roman.
Ein weiteres großes Vorbild war ein Buch des eigentlichen Vaters der Alternativwelt-Literatur, Qilliam Le Quex, der 1894 seinen Bestseller „Der große Krieg in England 1897“ schrieb, ein Erfolg, den er 1906 noch überbot mit „Die Invasion 1910“.
Wells hatte die einfach klingende, aber dann letztendlich doch revolutionäre Idee – er ließ die Invasoren zur Abwechslung mal keine Deutschen sein, sondern – Marsianer.
Die Marsianer haben wenig Ähnlichkeit mit den Deutschen. Auch dies ist beängstigend neu – Wells bricht radikal mit den Traditionen der SF, die bis dahin fast immer antropomorph war, das heißt, die Aliens hatten vor 1897 immer menschenähnliche Gestalt. Wells Marsianer sind Kopfwesen, die starke Ähnlichkeit mit Kraken haben. Verdauungsorgane gibt es nicht mehr – die Marsianer ernähren sich direkt von Blut ihrer Opfer, das sie ihrem Gehirn zufügen. Natürlich nutzt Wells hier Klischees der Horrorliteratur, in entstellter Form sind Fangarme und Blutsaugelust den Mythen der Schauergeschichten entnommen (allerdings kann er sich kaum an Dracula orientiert haben, denn der erschien etwa zeitgleich mit dem Krieg der Welten). Die Kopfidee stammt aber vermutlich nicht aus den Annalen des Grusels, sondern aus den philosophischen Schriften von Denis Diderot, der schon im 18. Jahrhundert verkündete, eine immer weitere Verfeinerung des menschlichen Geistes und eine größere Entlastung von körperlicher Arbeit werde schließlich dahin führen, dass Menschen eines Tages nur noch aus Köpfen bestehen. Wells kombiniert diese Kreaturen mit beängstigend modern-fremdartigen Maschinen voller Gewalttätigkeit, Dreibeinern mit Hitzestrahl und Giftgas-Turbinen, mit denen britische Orte „gesäubert“ werden.
Beides, die bedrückend alpraumhafte Maschinenwelt und vor allem das bösartige Aussehen der Marsianer korrespondiert bis heute mit der Ästhetik der Alien-Filme und diverser Invasions-Epen wie „Independence Day“, ein erstaunliches Beispiel für visionäre SF-Literatur, die sich trotz ihres Alters ihre Modernität sogar im Visuellen bewahrt hat. Man sehe sich die extrem beunruhigenden Illustrationen der Erstfassung in Pearsons Magazine von 1897 an (die in vielem moderner wirken als spätere Bilder nach 1900) – und ein kalter Schauder wird nicht ausbleiben.
A propos kalter Schauder. Ich habe es schon in Zusammenhang mit Wells' Zeitmaschine erwähnt – die frühen SF-Bücher dieses genialen Autoren sind immer auch Horrorromane. Angst war für Wells, einem äußerst gesellschaftskritischen Schriftsteller, nicht Selbstzweck, sondern Mittel, um Zeitgenossen schockierend auf Mißstände aufmerksam zu machen. Waren in der „Zeitmaschine“ die Morlocks (eigentlich ja Vorläufer der marsianischen Ungeheuer) Mahnungen, den Arbeiter der Zukunft nicht zu Untermenschen (im Buchstäblichen Sinne) zu degradieren, so zeigt „Krieg der Welten“ in brutaler, bestürzender Weise ein Kehrbild des Kolonialismus, es ist eine Art schwarze Parodie auf die Gedankenlosigkeit, mit der das britische Empire in fremden Kontinenten regiert.
Noch eine Lesart ist möglich, und sie wird im Roman auch stark betont – der Umgang der Menschen mit Tieren. Immer wieder wird der Vergleich zu Schlachtvieh und Insekten hergestellt – der Mensch, Krone der Schöpfung, wird zu Schädlingen und Nahrungsvorräten degradiert. („Wir sind eßbare Ameisen“ sagt eine Figur im Roman lakonisch.)
Die Erbarmungslosigkeit der Marsianer dürfte aber den Zeitgenossen letztendlich weniger wie ein Zerrbild der Menschen vorgekommen sein – für die meisten Leser war dies eher Grund zum wohligen Schauder, es war die Geburtsstunde einer neuen Spezies Monster, die nun – selbst ein nicht ausrottbarer Parasit der Literatur – für immer die Geschichten des Horrors und der SF bevölkern wird. Oft nicht einmal besonders stark abgewandelt.
Dennoch sterben die Marsianer am Ende – an den irdischen Bakterien. Dies ist nicht nur eine hübsche bitterböse Pointe, sondern ein Credo des Positivisten Wells, das aus tiefster Seele kommt, der eigentliche Kern des Romans, sein Dreh- und Angelpunkt. Wells schafft damit so etwas wie eine eine darwinistisch-materialistische Heilslehre, eine Erlösungsphantasie der Moderne:
Diese Krankheitskeime haben seit Anbeginn der Dinge ihren Zoll von der Menschheit gefordert – schon von unsern vormenschlichen Ahnen, seitdem Leben auf unserem Stern bestand. Aber durch die natürliche Auslese unserer Gattung haben wir die Widerstandskraft gegen sie entwickelt; wir unterliegen keinem dieser Keime ohne Kampf, und gegen viele sind unsere Körper überhaupt gefeit. (…) Und von dem Augenblick an, als jene Eindringlinge auf der Erde anlangten, als sie aßen und tranken, machten unsere mikroskopischen Verbündeten sich ans Werk, sie zu vernichten. (...)Es war unvermeidlich. Durch das Opfer Millionen Toter hat der Mensch sich sein Erstgeburtsrecht auf der Erde erkauft, und trotz aller fremden Eindringlinge ist sie sein. (…) Denn die Menschen leben weder, noch sterben sie vergeblich.“
Im Grunde läuft der gesamte Roman, trotz Maschinengerassel und Monsterkreaturen, auf diesen einen Absatz hinaus, den Kernabsatz des Romans. So drängend und fast flehentlich klingt dieses Credo, dass der Mensch nicht vergeblich stirbt, dass man geneigt ist anzunehmen, dass es doch eher ein Wunsch ist und keine triumphale Feststellung, die sich hier Bahn bricht. 1918 werden vielleicht mehr Menschen an einer neuartigen Grippewelle sterben als im ersten Weltkrieg – die furchtbarste Epidemie seit dem Mittelalter sucht die Welt heim. Hätte Wells solche Sätze wohl auch dann noch geschrieben?
III
Mich wurmte als Feature- und Hörspielautor immer der Gedanke, dass der großartige Roman durch Orson Welles Hörspiel von 1938 nicht adäquat als ein Stück umgesetzt wurde, dass sich eng an die Originalfassung hält. Genährt wurde mein Groll noch durch die Tatsache, dass fast alle Verfilmungen (sieht man von einer originellen britischen Pseudodoku von 2013 ab, die die Invasion ins Jahr 1913 verlegt) immer in die Jetztzeit angesiedelt werden. Vor einiger Zeit bei einem gemeinsamen Essen mit meiner Kollegin Johanna Steiner schlug ich vor, eine Neufassung für Oliver Rohrbecks Berliner Lauscherlounge zu schreiben. (Eine Veranstaltung, bei der einmal im Monat Livehörspiele aufgeführt werden.) Johanna mit ihrem untrüglichen Instinkt fürs Dramaturgische war ungewöhnlich reserviert, und ich merkte, die Idee war ein Rohrkrepierer. Trotzig nahm ich den Roman nach Jahren erneut zur Hand und merkte bei der neuen Lektüre, dass sie wieder mal richtig lag – der Text ließe sich nur extrem schwer in seiner Originalfassung umsetzen. Kein Wunder, dass Welles (der Hörspiel-Welles, mit dem zweiten e!) das Ganze als Doku gebaut hat. Denn was in der Erinnerung immer wie ein spannendes Gemetzel und eine Art Urmutter aller Millitary-SF-Operas anmutet, entpuppt sich als eher ruhiger, reflektiver Erzählstil aus der Ich-Perspektive. Diese Sicht bietet immer wieder Gelegenheit für den Horrorautor Wells, Angst und Schrecken zu vermitteln (durch die Brille es fliehenden Ehemanns, der seine Frau irgendwo unterwegs verloren hat – und der immer mehr demoralisiert wird.)
Wichtiger als die Invasion selbst sind viele kleine Details, die das Ganze umso realistischer machen: Paniktumulte auf den Straßen, egoistische Fliehende, Leichenberge, fremdartiges rotes Unkraut vom Mars, scheu gewordene Hunde (sie werden, deutet Wells dunkel an, von hungernden Menschen gefressen), besoffene Feiernde, die sich lieber volllaufen lassen als zu fliehen. Es sind diese Einzelheiten, die grade in ihrer gemächlichen Ausbreitung an Eindruckskraft gewinnen. Es gibt kaum Dialoge. Eine äußerst sperrige Hörspielvorlage. Aber eben ein großartiges Buch. (Und übrigens auch ein großartiges Hörbuch – grade hat es Andreas Fröhlich ungekürzt für den BR eingelesen- großartig!)
IV
Wells Roman erfüllt noch eine andere wichtige Funktion in der Geschichte der SF, ohne die diese Literatur heute ärmer wäre. Sein Flirt mit dem Horror hielt immer eine Tür offen in diesem Genre, die viele Hardliner gern geschlossen hätten. Glücklicherweise war der einflußreichste SF-Verleger der USA, Hugo Gernsback, ein großer Fan beider „Väter“ der SF – Jules Verne und H.G. Wells. In den Jahren 1926-29 ließ Gernsback fast alle wichtigen SF-Werke Wells' in „Amazing Stories“ nachdrucken, 1927 auch den „Krieg der Welten“. Gernsback galt immer als technikverliebter, fantasyfeindlicher Herausgeber, doch dank seiner großen Wells-Begeisterung hatte er immer Faible für die dunkle Seite der SF, und so konnten in seinen Zeitschriften auch Horror-Stories erscheinen. Drei so berühmte wie Kellers „Wurm“ , Lovecrafts „Farbe aus dem All“ und Englands „The think from outside“ hatten hier einen prominenten Auftritt.
Der erneute Nachdruck des Romans in „Famous Fantastic Mysteries“, einer der populärsten Fantasy-Magazine der Ära, im Juli 1951 zeigt, dass der Roman auch nach zwei Weltkriegen weiter seine Faszination für die Masse hatte. Pikanterweise wurde das Cover leicht verändert von Heinz Ita für die deutschsprachige Diogenes-Ausgabe wiederverwendet, ohne dass der Originalzeichner Lawrence auch nur erwähnt wird.
Der „Krieg der Welten wurde auch gern imitiert – so erschienen in amerikanischen Zeitschriften von 1897/89 gleich zwei anonyme Imitationen, die den Krieg in die USA verlegten (und nur wenig voneinander, aber sehr von der englischen Fassung abwichen), hier erwähnt sei „Fihgters from Mars, or The war of the worlds in and near Boston“. Davon gibt es bisher meines Wissens keinerlei elektronischen Scan, geschweige denn eine deutsche Übersetzung. Sehr wohl übersetzt wurde allerdings Garrett Serviss' Fortsetzung „Edisons Eroberung des Mars“ (1898) – die sich tatsächlich auf die Boston-Version bezieht und den Gegenangriff der Menschen beschreibt. Ebenfalls bemerkenswert ist die Sicht auf den Krieg der Welten aus der Sicht durch Sherlock Holmes , beschrieben in Manly Wade Wellmans Roman „Sherlock Holmes's War of the worlds“ (1975).
Nachtrag
Nach 50 Verbrauchertests fantastischer Literatur ist es Zeit für eine kleine Änderung. Die Artikelserie erscheint weiter in unregelmäßigen Abständen, aber dank meines in den letzten Jahren ständig gewachsenen Interesses an der Pulp fiction wird sie zukünftig im Wechsel mit einer neuen Pulp-Serie erscheinen.
Kommentare
Meinen Wells habe ich vor über 30 Jahren gelesen, wird mal wieder Zeit.
Ich kann mir gut vorstellen wie es einigen Hörern von Welles Radio-Ausführung ergangen ist. Da gab es ja mal einen Bericht (Arte N24 oder so) mit Aufnahmen besagter Nacht. Er hat sich wirklich Mühe gegeben, den Angriff der Marsianer so echt wie möglich zu schildern