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Abgeschlossen: 2017 – Jahr der Vollendung

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2017 – Jahr der Vollendung

Vieleicht wird 2017 nicht grade als besonders glorioses Jahr der Weltpolitik in Erinnerung bleiben, was literarische Projekte angeht, war es äußerst befriedigend. Eine kleine Übersicht über (endlich!) beendete Großprojekte.

Ein arbeitsreiches Zauberspiegel-Jahr liegt vor mir, mit schönen Ideen ich bin vollgestopft mit neuer aufregender Lektüre, die sich gut in Artikel umsetzen lässt.

Aber der erste Beitrag des Jahres sei in Dankbarkeit den Lektoren und Verlagen gewidmet, die einige Traumprojekte zu Ende brachten.

UranusDer Heinz-Mohlberg-Verlag beendete seine kleine, aber feine sechsbändige Edition einer seltenen deutschsprachigen SF- Heftserie – Uranus (Österreichische SF Heftreihen von 1948 bis 1965: Uranus). Das war eine österreichische Serie von Einzelromanen, die es zwischen 1956 und 58 auf nur 18 Hefte brachte.(Und damit leider auch schon das umfangreichste österreichische SF-Heftroman-Unternehmen überhaupt.) Ähnlich wie die amerikanischen Pulps leidet die Originalserie inzwischen unter rapidem Qualitätsverlust durch Papierverfall; selbst wer Exemplare besitzt, wagt es kaum, sie zu durchblättern. Der Nachdruck schleppte sich lange hin, 2013 begann er, nun liegt der Letzte Band mit den Heften 16-18 endlich vor.
Die Autoren kennt niemand, die Namen sind vermutlich allesamt Pseudonyme. Die  Hefte selbst bestechen vor allem durch ihre schöne Trashigkeit. Ende der Fünfziger hatte die amerikanische SF einen enormen Höhenflug genommen und vielleicht qualitativ ihre erste absolute Spitze erreicht – Magazine wie Galaxy, If oder Fantasy & Science Fiction brachten fast in jeder Nummer Stories, die Meilensteine des Genres wurden.
Da nimmt sich – ausgerechnet in dieser Hochblüte der SF - diese Serie sehr anachronistisch aus; die Erzählweise ist oft tapsig und erinnert an die frühen Genre-Geschichten der 20er und 30er Jahre. Aber grade die krude Erzählweise (die Titel sagen alles : „In den Klauen der Merkurmenschen!“, „Marsmenschen greifen uns an!“ „Planet des Schreckens“) wirkt heute durchaus komisch und vergnüglich, und Hans-Peter Kögler hat völlig recht, wenn er in seinem Vorwort zum 1. Band von „Retro-Charme“ spricht. Schön, dass der Verlag diese schwachsinnigen, aber entzückenden Texte für uns gerettet hat.

Loke Klingsor, der Mann mit den TeufelsaugenAnfang des Jahres legte auch Dieter von Reeken in seinem Verlag den 4. Band und letzten des voluminösen Kolportageromans „Loke Klingsor, der Mann mit den Teufelsaugen“ (1914-16/1927) von Robert Kraft vor. Ich habe diesen gigantischen Roman von 4000 Seiten im Original hier schon besprochen – deswegen sei nur so viel gesagt – Diese Ausgabe ist auch ein Höhepunkt der Verlagsgeschichte Dieter von Reekens. Nie waren seine Bücher so schön ausgestattet und prachtvoll wie diese Robert-Kraft-Bände, die den Pionier der deutschen Phantastik sehr beeindruckend ehren. Zusammen mit „Atlanta“, ein ebenfalls zukunftweisender, völlig verrückter Fantasy-Roman von 4000 Seiten, wirkt seine Reihe von 9 Kraft-Bänden im Regal fast imposanter als manche Klassiker-Prachtausgabe. Schade, dass Reeken bei der Mammutaufgabe, die alten bröseligen Hefte in eine lesbare Form zu bringen, fast zugrundegegangen ist und mir mitteilte, er könne sich in naher Zukunft nicht vorstellen, weitere Robert-Kraft-Großprojekte zu stemmen (da wären noch ähnlich umfangreiche Schmöker wie die „Vestalinnen“ oder „Das zweite Gesicht“), aber vielleicht, eines Tages... Die Hoffnung stirbt zuletzt. Jedenfalls wäre es ein Traum, alle großen Kolportageromane Krafts in solch einer Ausstattung zu haben.

UranusGrandiose Leistung – aber die Goldene Palme für abgeschlossene Großprojekte verdient eindeutig der Festa-Verlag. Gleich zwei wichtige Editionen brachte der Horror-Spezialist 2017 zum Abschluss.
Zum einen seine Clark Ashton Smith – Gesamtausgabe. Mit Band 6 [Der doppelte Schatten] liegen nun alle Erzählungen des Horror-Klassikers erstmals vollständig vor.
Als ich diesen Autor in den 90ern entdeckt habe und mich durch die schrecklichen Übersetzungen des Suhrkamp-Verlages quälte (er hatte zwei Auswahlbände aus dem Insel-Verlag übernommen und im Taschenbuch herausgegeben) wagte ich ich nicht mal davon zu träumen, dass vielleicht der einzige dunkle Phantast der 30er und 40er Jahre, der Lovecraft das Wasser reichen konnte, mal in wirklich eleganten und lesbaren Übersetzungen komplett vorliegen wird. Und nun ist es soweit! Der Aufbau der Ausgabe ist ein bißchen konfus, sie versucht eine leichte thematische Gliederung, die aber nicht funktioniert, und obwohl es toll ist, die Serien und Zyklen zusammengefaßt geliefert zu bekommen, wirbeln die Einzelerzählungen wie Schneeflocken um eisige Gräber und tanzen in völlig wahlloser Anordnung um die Nase des Lesers. Doch wunderbarerweise sind nun alle Geschichten da – egal in welcher Reihenfolge bleibt die Lektüre ein einziges Gruselvergnügen. Smith war nicht nur ein Meister des Horrors, er hat auch einige sehr merkwürdige düsterer-groteske SF-Stories geschrieben und jede Menge Fantasy im Stil seines Kollegen Robert E. Howard, dem Erfinder von Conan. Fast alle sind Stories sind lesenwert – Smith hat nicht viel geschrieben, wie die überschaubare Anzahl von nur 6 Bänden dokumentiert, aber das Gesamtwerk ist von A bis Z genießbar, Drei Viertel ist äußerst originell. Einiges kriecht in die Träume und verfolgt einen tagelang.
Viele Geschichten hat Malte Schulz-Sembten vorbildlich übersetzt, tragischerweise ist er 2016 gestorben und hat den Abschluss dieses Meilensteins der Phantastik nicht mehr erlebt.

Das Haar der MedusaAbgeschlossen wurde auch die Gesamtausgabe der Erzählungen von H.P. Lovercraft im Festa-Verlag. Bereits 2010 beendete Festa die erste kanonische sechsbändige Ausgabe mit allen originalen Lovecraft-Geschichten. Dennoch klaffte da weiter eine Lücke. Denn Lovecraft schrieb viele Erzählungen in Kooperation mit anderen Autoren. Diese Geschichten sind in der sechsbändigen Edition nicht enthalten. Nun lieferte der Verlag endlich drei Bände nach, die diese Kooperations-Werke enthalten. Hinzuaddiert wurden auch einige Texte Lovecrafts unter Pseudonym, die die erste Edition ausgelassen hatte.
Nicht alle davon sind Meisterwerke. Grade im ersten Band mit den frühen Texten 1918-29 finden sich Skizzen, die zwar aufschlußreich für Lovecrafts Werdegang sind, aber nicht grade zu seinen memorablen Werken gehören. Auch viele Kooperations-Geschichten aus Weird Tales sind erstaunlich dünn, was natürlich auch daran liegen kann, dass Lovecrafts Anteil an ihnen nur gering ist. Doch das ist nicht Schuld einer Gesamtausgabe – Vollständigkeit heißt immer auch, schwächere Werke in Kauf zu nehmen. (Ich weiß noch, wie säuerlich ich mich durch meine erste Mozart-Gesamtausgabe gehört habe und ernüchtert feststellte, dass es selbst bei Mozart durchaus Serenaden und Sinfonien gibt, die einen nicht vom Hocker reißen...)
Dafür finden sich aber auch echte Meisterwerke hier, die in Deutschland bisher wenig bekannt waren, sogar der schwache erste Band enthält zwei: „Die geliebten Toten“, eine eindringliche Geschichte über einen Nekrophilen in der Ich-Form, der sich in schön schaurigen Lobpreisungen des Bestattungshandwerks ergeht und irgendwann anfängt zu morden, um bestatten zu können. Und „Die elektrische Hinrichtungsmaschine“ ist eine gespenstische Eisenbahnerzählung über einen Reisenden, der nachts einem wahnsinnigen Abteilnachbarn ausgeliefert ist, der unbedingt ein Versuchskaninchen für seine Erfindung braucht – einen tödlichen Helm, der mit nur wenig Strom den Hirntod herbeiführt...
Kritisch anzumerken ist die große Schrift und der weite Zeilenabstand. Horror-Leser wollen wie Erwachsene behandelt werden und nicht den Eindruck bekommen, sie läsen eine Kinderfibel. Außerdem ist bei Sammlern Platz im Regal ein kostbares Gut. Die drei Bände, so schön sie auch aussehen, hätten locker auch in zwei Bücher gepaßt.   

Irmgard KeunWir machen einen Sprung in die große Literatur – auch da wurden zwei wunderbare Projekte beendet.
Irmgard Keun, abenteuernde Schriftstellerin der 20er bis 40er Jahre, erfand witzige Großstadtromane, die zum Besten gehören, das damals an mondäner Unterhaltungsliteraur zu haben war; Romane wie „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“ haben mich noch mehr begeistert als die Werke von Vicky Baum und Dinah Nelken. Manches ist durchaus auf Augenhöhe von Tucholsky und Fallada.  
Keun floh 1933 zunächst aus Deutschland – sie war weder Kommunistin noch Jüdin, sie konnte einfach die Nazis nicht leiden. (Im Rundfunkarchiv entdeckte ich einst ein Interview von ihr, wo sie sehr deutlich in Hinblick auf SA und grölende Hitler-Anhänger in Berlin sagte: „Diese widerlichen Männer! Wenn ich auch nur ein bißchen das Zeug zur Lesbierin gehabt hätte – ich hätte nie mehr einen Mann angefaßt.“)
Aus Heimweh ging sie 1940 inkognito nach Deutschland zurück und vereinsamte dann dort allmählich.
Nach dem Krieg verkam sie zur Pennerin, (sie lebte lange in Köln in einem Schuppen auf einem Ruinenfeld), Säuferin und Kettenraucherin, wurde in den 60ern entmündigt und in einen Pflegeheim zwangseingewiesen. Eine liberalere Gesetzgebung befreite sie in den 70er Jahren aus ihrer „Haft“, und sie hatte noch ein paar schöne Jahre in einer kleinen Wohnung in Freiheit. Geschrieben hat sie nach 1955 kaum noch etwas.
Ihr überschaubares Werk ist jetzt – endlich!- komplett zu haben. Der Wallstein-Verlag hat ihr Gesamtwerk, alle Romane und eine Handvoll Feuilletons in drei Bänden herausgebracht. Nicht nur die editorische Arbeit ist bewundernswert, auch der inzwischen selten gewordene Versuch eines kleinen Verlags, ein solches Projekt erschwinglich zu halten. Der Wallstein-Verlag ist nicht grade berühmt für seine kundenfreundlichen Preise (die fünfbändige Werk-Ausgabe von Ernst Toller kostet skandalöse 290  Euro!), doch diese dreibändige Ausgabe wird für 40 Euro verkauft – wirklich ein Schnäppchen. Wer die Romane einzeln kaufen wollte, würde wahrscheinlich das Doppelte ausgeben.

Mark Twain - Meine geheime AutobiographieWenn es wirklich ein Projekt gab, das den Fans Geduld abverlangte, dann das von Mark Twains gigantischer Autobiographie. Der alte Mark Twain war nicht grade ein überaus fleißiger Schriftsteller. Eines Tages im Jahr 1904 kam er auf die Idee, dass es doch lustig und bequem wäre, morgens nicht aufzustehen, sondern im Bett zu bleiben mit der prächtigen Entschuldigung, dass er seine Autobiographie diktieren müsse. Nach einigen Tests und Wahl der richtigen Sekretärin begann er im Januar 1906 mit dieser Tätigkeit und setzte sie bis 1909 fort. Erhalten geblieben sind Diktate auf etwa 1500 Seiten.
Material, das frühere Editoren zur Verzweiflung brachte – denn Twain diktiert natürlich nicht kontinuierlich irgendwas linear Biographisches. Er babbelt so vor sich hin, kommt vom Hundertsten ins Tausendste , springt von seiner Kindheit zum amerikanischen Präsidenten, davon zu Betrachtungen über die Weltpolitik, und so kann man schnell bei irgendeiner Episode aus Wien oder Berlin um 1880 landen – Twain reiste sein ganzes Leben lang als Journalist durch die Welt und hat wirklich viel erlebt – und was herauskommt, ist am Ende ein herrliches Chaos eines begnadeten Erzählers und Abenteurers.
Versuche, aus diesem Riesenhaufen Manuskripten eine klare, übersichtliche, chronologische (und natürlich stark gekürzte) Autobiographie zu machen, gab es. Doch sie geben auch nicht annähernd den Lesespaß her, den die Originaldiktate machen. Twain war nicht nur ein Filou, der den Wilden Westen ebenso gut kannte wie Berlins Adelskreise – er schürfte Silber in Nevada und verkehrte in seinen Berliner Jahren bei Hofe – er war einer der witzigsten Menschen des 19. und frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Erst im 21. Jahrhundert wurden die kompletten Originaldiktate der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Archive geöffnet.
Und 5 Jahre vergingen, bevor die Diktate übersetzt Wort für Wort, in der Reihenfolge, wie sie Twain gesprochen hat, im Aufbau-Verlag komplett vorlagen. 2012 erschien Band 1, nun ist der 3. und letzte Band da, mitsamt Apparat und Ergänzungen in Fülle. Die deutsche Ausgabe hat sogar noch den Umfang der Diktat-Ausgabe getoppt – die drei dicken Folianten enthalten auch alle autobiographischen Manuskripte, die Twain geschrieben (und nicht diktiert) hat, angefangen von frühen Versuchen in den 1870er Jahren bis hin zu einem umfangreichen Manuskript über seine angespannten häuslichen Verhältnisse kurz vor seinem Tod 1910, entstanden Ende 1909.  Um ehrlich zu sein, nur wenige der handgeschriebenen Sachen sind auch nur annähernd so amüsant wie die diktierten, der mündliche Erzähler Twain ist einfach unschlagbar.

Die Titel der Bände lauten:

  • 1. Meine geheime Autobiographie. (Diktate 6. Januar 1906 – 30. März 1906 plus alle Schriften vor 1906), 724 Seiten
  • 2. Ich bin der eselhafteste Mensch, den ich kenne – Neue Geheimnisse meiner Autobiographie (Diktate 2. April 1906 – 27. Februar 1907), 760 Seiten
  • 3. Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben – Meine letzten Geheimnisse. (Diktate 1. März 1907 – 21. Oktober 1909 plus Schriften nach Oktober 1909), 734 Seiten

    Ein gigantisches Editionsabenteuer – und ein Mark Twain vom Feinsten – vielleicht ist das sogar sein bestes Werk? Sicher nicht sein schlechtestes und gewiß sein ehrgeizigstes, auch wenn er es im Bett liegend und Zigarre rauchend verfasste.

Kommentare  

#1 Valerius 2018-01-22 12:34
Schau mal unter diesem Link nach
www.robert-kraft.de/Bibliogaphie/index.html
#2 Heinz Mohlberg 2018-01-22 23:51
In der Sub-Reihe "Austro-SF" werden auch noch einige weitere Perlen folgen.
Aber erst einmal steht Hanns Hart Heftausgabe 1-20 auf dem Plan; danach ist eine relativ umfangreiche Workshow zu W.W. SHols geplant (u.a. nach langer Wartezeit endlich "Uto-Spion").
Da 2018 "Die Terranauten" und auch "Sun Koh" beendet werden, ist zukünftig wieder mehr Zeit für "Utopische Welten Solo".

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