Ernst Vlcek hatte die undankbare Aufgabe erhalten, den Baphomet-Zyklus, der eigentlich 20 Romane umfasste, in zwei Romanen abzuhandeln. In DKN-Band 131 benutzte er die Exposés der DK-Romane 132 und 133 und schrieb einen neuen Roman. Er ließ dabei die Vergangenheitsidee um den Ritter Heinrich von der Laufen aus. Für die Nummer DKN 132 nutzte er seine beiden Dämonenkiller Nummer 136 und 137 als Quelle. Hier mal ein kleine Vergleichsprobe:
DK 136
von Paul Wolf
Es war eine milde, klare Märznacht. Die Sterne strahlten so hell vom Himmel, daß man die ganze Ria von Vigo übersehen konnte. Sie tauchten das ruhige Meer und die umliegenden Hügel in sanftes Licht. Deutlich hoben sich die helldunklen Parzellen der Minifundien, mit Mais und Kohl bebaut, wie das Muster eines großen Schachbrettes voneinander ab.
Dort lag Vigo; und in der anderen Richtung, direkt am Strand, der steinerne Horreo seines Vaters. Marie erwartete ihn in der Scheune. Knapp davor gabelte sich der Weg, und dort stand das hohe Calvario, die Betsäule.
Darauf hielt Fernando zu.
Plötzlich wurde es unverhofft neblig. Der Nebel wurde immer dichter, bis Fernando kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnte. Geräusche störten die Stille der Nacht. Schritte, Stimmen und Säbelgerassel waren zu hören.
Fernando drehte sich im Kreise. Die Geräusche schienen von überallher zu kommen. Ein herrisches Kommando war zu hören, Geräusche, wie von exerzierenden Soldaten folgten.
Dann verstummten die militärischen Schritte schlagartig.
„Name?“ fragte eine befehlsgewohnte Stimme in gepflegtem Katalanisch.
Fernando zuckte, zusammen. Er wich vor der Stimme des Unsichtbaren zurück. Eine furchtbare Angst befiel ihn. Er wußte auf einmal, was das zu bedeuten hatte. Sie kamen, um ihn zu holen.
„Name!“ forderte die Stimme wieder, nur diesmal ungeduldiger.
„Ich...“, begann Fernando.
Es versagte ihm die Stimme. Mit einem unartikulierten Aufschrei wirbelte er herum und rannte davon.
„Ein Deserteur! Ausschwärmen!“
Fernando begann schneller zu laufen. Er konnte überhaupt nichts sehen. Ein paarmal stolperte er über Steine und Sträucher, und auf einmal erkannte er, daß er vom Weg abgekommen war und querfeldein lief.
„Fangt ihn! Er darf nicht entkommen!“
Fernando wußte überhaupt nicht mehr, wo er war. In welcher Richtung lag das Meer, wo Vigo und die Scheune seines Vaters? Er mußte unbedingt den Hörreo erreichen, bevor ihn seine Verfolger einholten. Maria wartete. Er mußte sie unbedingt noch einmal sehen, und wenn es das letztemal war.
Er bereute es bereits, sich auf diese Sache eingelassen zu haben, aber es schien kein Zurück mehr zu geben.
„Da ist er! Auf ihn!“
Die Verfolger schienen ihn trotz des dichten Nebels sehen zu können. Das Getrampel der Stiefel kam rasch näher. Fernando veränderte wieder die Richtung.
Plötzlich schälten sich aus dem Nebel die schemenhaften Umrisse eines Gebäudes, das trutzig wirkte wie eine Burg. In einem der beiden Fronttürme war ein Fenster erleuchtet. Es roch intensiv nach Seetang. War er bereits am Meer?
Fernando prallte zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gerannt. Vor ihm erhob sich tatsächlich das Gemäuer einer Burg, obwohl er wußte, daß es hier weit und breit keine solche geben konnte.
Da fielen ihm die Geschichten über die versunkene Zitadelle ein, die zu gewissen Zeiten aus dem Meer auftauchen sollte. Hier sollten angeblich die unruhigen Seelen der Matrosen herumspuken, die mit ihren Schiffen und unermeßlichen Schätzen in der Ria von Vigo versunken waren.
Fernando hatte auf einmal einen unheimlichen Verdacht, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Er rannte von der Zitadelle fort, bis der Nebel sie wieder verschluckt hatte.
„Laßt ihn nicht entkommen!“
Fernando bahnte sich einen Weg durch dichtes Gesträuch. Auch hier stank es nach Seetang. Zwischen den Sträuchern tauchten immer wieder verwahrloste Grabsteine auf.
Aber - wieso? Hier gab es keinen Friedhof! Nur die Legenden wußten von einem solchen zu berichten. Es sollte ein verfluchter Ort sein, den niemand verlassen konnte, wenn er ihn einmal betreten hatte.
Fernando strauchelte und fiel mit dem Kopf hart gegen einen der Grabsteine. Für einen Moment war er wie benommen. Als er die Augen aufschlug, blickte er genau auf die ungelenke Inschrift des Grabsteins. Dort stand: Fernando Vergara.
Aber- das war sein Name!
Mit einem Aufschrei sprang er hoch und lief wie von Furien gehetzt weiter. Endlich ließ er den Friedhof hinter sich und erreichte das freie Feld. Hinter sich vernahm er immer noch die Schritte und die wütenden Stimmen seiner Verfolger.
Da tauchte erneut ein Schemen im Nebel auf. Es war ein schlankes, hoch aufragendes Gebilde. Erleichtert stellte Fernando fest, daß es sich um die Betsäule am Kreuzweg handelte.
Er ließ sich erschöpft dagegen fallen, umarmte die steinerne Säule und betete.
Der Nebel riß schlagartig auf, verflüchtigte sich, und auf einmal war wieder sternklare Nacht.
Fernando blickte sich ängstlich um. Niemand war zu sehen. Es fanden sich auch keine Hinweise auf die Existenz eines Friedhofs oder einer Zitadelle.
Nachdem er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, lief er, so schnell er konnte, zu dem steinernen Speicher seines Vaters. Die beiden Kreuze an den Dachgiebeln vermittelten den Eindruck von einer kleinen Kapelle. Für Fernando war es ein Zufluchtsort, wo er Asyl vor den Schrecken der Nacht finden konnte.
„Maria!“ rief er, während er durch die Öffnung in die Scheune stürzte. „Maria, bist du da?“
Er hörte ihren raschen Atem, spürte, wie sich sanfte Haut gegen sein Gesicht schmiegte und sich schlanke Arme zärtlich um ihn schlangen, und er klammerte sich an die zierliche Gestalt, als befürchtete er, sonst in einen endlich tiefen Abgrund zu fallen.
„Fernando, was ist denn nur passiert?“
Er gab keine Antwort, hielt die Geliebte nur fest im Arm, küßte ihr Gesicht und ihren Körper, die Erinnerung an die schreckliche Wirklichkeit ließ ihn zu einem zitternden Nervenbündel werden.
Er bettete sein Gesicht schluchzend in ihren Schoß.
„Fernando.“
Sie ließ ihm Zeit, bis er sich von seinem Schock erholt hatte. Es dauerte eine geraume Weile, bis sein Körper zu zittern aufhörte.
Er hob den Kopf. „Maria, ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen. Ich gehe fort.“
Sie blickte ihn nicht an, streichelte seine Hand, starrte ins Leere.
„Warum?“ fragte sie tonlos. Und: „Wohin?“
„Ich ertrage die Armut nicht mehr“, schrie er fast. „Ich möchte nicht wie mein Vater ein Leben lang schuften und trotzdem ein armes Schwein bleiben. Ich werde meinen Weg machen. Ich habe auf einem Schiff angeheuert. Wenn ich zurückkomme, werde ich reich sein.“
Sie kannte das. Schon viele tatendurstige junge Männer hatten Galicien verlassen, um in der Fremde reich zu werden. Irgendwann kamen sie zurück, gebrochen, enttäuscht, verbittert. Man fand sie überall in Galicien - auf ihren zweirädrigen Ochsenkarren sitzend, auf ihren winzigen Minifundien Mais einholend, in den Straßen vor den Cafes herumlungernd - noch immer träumend von den verpaßten Gelegenheiten in der Vergangenheit.
„Ich weiß, was du denkst, Maria“, sagte Fernando. „Aber mir wird es nicht so ergehen wie diesen gescheiterten Existenzen. Ich werde mein Glück machen.“
„Auf einem Schmugglerschiff?“
„Ich gehe auf Schatzsuche.“
„Fernando!“
„Nicht, Maria!“ Er legte ihr eine Hand auf den Mund. „Ich habe mich entschieden. Du kannst mich nicht mehr umstimmen. Ich könnte auch nicht mehr zurück, denn ich habe mich mit meinem Blut verpflichtet.“
Jetzt war es an ihr, zu weinen. Sie hatte sich nicht viel vom Leben erwartet; nur ein kleines Glück. Aber selbst das entriß ihr das Meer. Sie spürte, wie er wieder zu zittern begann, und das ließ sie doch noch hoffen.
„Wovor fürchtest du dich eigentlich, Fernando?“
„Ich habe keine Angst.“
„Bist du zu stolz, um mir zu sagen, was eigentlich passiert ist? Vertraue dich mir an!“
Er ballte die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu verbergen.
„Ich kann es nicht recht erklären“, begann er. „Ich weiß selbst nicht mehr genau, wie alles gekommen ist. Da war ein Mann. Ich habe ihn eines Nachts getroffen. Wir haben über die Schätze geredet, die in der Bucht von Vigo verborgen liegen, Schätze, die nur darauf warten, gehoben zu werden.“
Sie lächelte. Alle jungen Männer träumten davon, die Schätze der versunkenen Galionen zu heben. Viele hatten ihr Leben und ihre Träume im Meer gelassen.
„Aber dann brauchst du nicht fortzugehen“, sagte sie. „Die Bucht breitet sich direkt vor uns aus. Wenn du ihre Schätze heben willst, dann wirst du mir nicht fern sein.“
„Es - ist etwas anderes“ sagte er. „Ich kann es dir nicht erklären. Ich weiß selbst nicht genau - aber ich werde für eine Weile fort sein. Wirst du auf mich warten?“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf, versuchte seinem Blick zu begegnen, aber er wich ihr aus.
Plötzlich drückte er sie wieder an sich.
„Wartest du auf mich, Maria?“ flüsterte er. „Ich muß fort. Wenn ich nicht freiwillig gehe, werden sie mich holen.“
„Wer?“
Er gab keine Antwort. Wieder spürte sie, daß er zitterte. Sie verstand nicht, warum er auf seiner Entscheidung beharrte, wenn er Angst hatte.
Sein Kopf ruckte hoch.
„Hörst du den Ruderschlag?“ fragte er.
„Nein.“
„Sie kommen, um mich zu holen. Ich muß gehen.“
„Wer kommt, dich zu holen, Fernando?“
„Sie rufen mich.“
Er erhob sich. Sie versuchte, ihn zurückzuhalten, aber entschlossen entzog er sich ihrem Griff und lief aus dem Speicher. Sie raffte ihr Kleid hoch und folgte ihm ins Freie.
Er drehte sich um. „Bleib zurück, Maria! Sie sollen dich nicht sehen.“
Der Strand lag in dichtem Nebel. Fernando lächelte ihr noch einmal zu, dann war er im Nebel verschwunden.
Sie rief seinen Namen, aber er antwortete nicht. Verzweifelt lief sie den Strand entlang, in der Hoffnung, die Anlegestelle zu finden; sie schlug seine Warnung einfach in den Wind.
Jetzt konnte auch sie den Ruderschlag eines Bootes hören. Die Geräusche näherten sich dem Ufer. Gedämpfte Stimmen unterhielten sich. Sie bildete sich ein, daß von holländischen und englischen Flotten gesprochen wurde und von einer Seeblockade.
„Wenn wir komplett sind, stechen wir in See.“
„Hoffentlich haben wir bald eine vollzählige Mannschaft.“
Sie konnte das Geräusch der gegen den Bootsrumpf schlagenden Wellen deutlich hören. Kies knirschte, als der Kiel sich in den Ufersand bohrte.
„Da ist der Neue!“
„Name?“
„Fernando Vergara.“
Maria lief den Stimmen nach. Doch sie schienen jedesmal aus einer anderen Richtung zu kommen; und je näher sie ihnen zu kommen glaubte, desto weiter entfernten sie sich.
Maria war verzweifelt. Wieder rief sie den Namen ihres Geliebten.
„Los, fort von hier!“
Erst jetzt fiel ihr auf, daß die Unbekannten nicht das Gallego der Einheimischen sprachen. Es war deutlich zu hören, wie das Boot wieder ins Wasser gezogen wurde. Der Ruderschlag entfernte sich rasch, wurde immer leiser, verhallte schließlich ganz.
Nur noch einmal wurde die Stille der Nacht unterbrochen, als fernes Kettenrasseln zu hören war, dem ein langgezogener Schrei folgte. Dann erst war es endgültig still.
Der Nebel verflüchtigte sich.
Die Sterne strahlten wieder hell vom Himmel, spiegelten sich tausendfach in der glatten See. Nirgends war ein Boot zu sehen. Auch von Fernando fehlte jede Spur.
Maria stand allein am Strand. Sie krümmte sich und glitt langsam zu Boden, wobei ihr Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie wußte, daß sie Fernando nie mehr wiedersehen würde
von Paul Wolf
Es war eine klare Nacht, und er war auf dem Weg zu Maria.
Die Sterne strahlten so hell, daß man die ganze Ria von Vigo übersehen konnte. Die Bucht lag mit ihren vereinzelt funkelnden Lichtern wie ein halbmondförmiges Diadem ausgebreitet. Deutlich hoben sich die helldunklen Parzellen der Minifundien, mit Mais und Kohl bebaut, wie das Muster eines großen Schachbrettes voneinander ab.
Dort lag Vigo, und in der anderen Richtung, direkt am Strand, der steinerne Horreo seines Vaters. Maria erwartete ihn in der Scheune. Knapp davor gabelte sich der Weg, und dort stand das hohe Calvario, die Betsäule.
Darauf hielt Fernando zu.
Plötzlich wurde es unverhofft nebelig. Der Nebel wurde immer dichter, bis Fernando kaum mehr die Hand vor dem Gesicht sehen konnte. Geräusche durchdrangen die Stille der Nacht. Schritte, Stimmen und Säbelgerassel waren zu hören.
Fernando drehte sich im Kreise. Die Geräusche schienen von überall zu kommen. Sie umzingelten ihn. Herrische Kommandos ertönten, Geräusche wie von exerzierenden Soldaten folgten.
Dann verstummten die militärischen Schritte schlagartig.
„Name?“ fragte eine befehlsgewohnte Stimme.
Fernando zuckte zusammen. Er fühlte sich angesprochen, aber er konnte niemanden sehen. Eine furchtbare Angst befiel ihn. Er wußte auf einmal, was das zu bedeuten hatte. Sie kamen, um ihn zu holen.
„Name!“ forderte die Stimme wieder, ungeduldig.
„Ich...“, begann Fernando. Es versagte ihm die Stimme.
In plötzlicher Panik schrie er auf und lief davon, irgendwohin, nur fort von hier.
„Ein Deserteur! Ausschwärmen!“
Fernando rannte, so schnell er konnte. Der Nebel hatte das ganze Land geschluckt, er sah nichts. Ein paarmal stolperte er über Hindernisse, und da erkannte er, daß er vom Weg abgekommen war und querfeldein lief.
„Fangt ihn! Er darf nicht entkommen!“
Fernando hatte die Orientierung verloren. Aber er lief weiter. Er mußte Maria erreichen. Er mußte sie unbedingt noch einmal sehen und mit ihr sprechen. Und wenn es das letztemal war.
Er bereute es längst, sich auf diese Sache eingelassen zu haben. Aber er wußte, daß es kein Zurück mehr gab. Also wollte er wenigstens noch Maria einmal sehen.
„Da ist er! Auf ihn!“
Die Verfolger schienen ihn trotz des dichten Nebels sehen zu können. Das Getrampel der Schritte kam näher. Fernando änderte die Richtung, um ihnen auszuweichen.
Da schälten sich aus dem Nebel die Umrisse eines trutzigen Gebäudes. In einem der Fronttürme war ein Fenster erleuchtet. Es roch intensiv nach Seetang.
Fernando prallte zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gerannt. Da war tatsächlich eine Burg, obwohl er wüßte, daß es hier weit und breit keine solche geben konnte.
Da fielen ihm die Geschichten über die versunkene Zitadelle ein, die zu gewissen Zeiten aus dem Meer auftauchen sollte. Hier spukten angeblich die unruhigen Seelen der Matrosen, die mit ihren Schiffen und unermeßlichen Schätzen an Bord in der Ria von Vigo versunken waren.
Fernando stellten sich schier die Haare zu Berge. Er wandte sich von der unheimlichen Erscheinung der Zitadelle ab und rannte in die andere Richtung.
„Laßt ihn nicht entkommen!“
Die Verfolger blieben dran.
Fernando bahnte sich einen Weg durch dichtes Gebüsch. Zwischen den Sträuchern tauchten immer wieder verwahrloste Grabsteine auf.
Wie war das möglich? Hier gab es doch weit und breit keinen Friedhof! Nur die Legenden wußten von einem solchen zu berichten. Es sollte ein verfluchter Ort sein, den niemand verlassen konnte, wenn er ihn einmal betreten hatte.
Fernando strauchelte und fiel mit dem Kopf hart gegen einen der Grabsteine. Für einen Moment war er wie benommen. Als er die Augen aufschlug, blickte er genau auf die Inschrift des Grabsteins.
Dort stand: Fernando Vergara.
So hieß er!
Mit einem Aufschrei sprang er auf die Beine und lief wie von Furien gehetzt weiter. Endlich ließ er den Friedhof hinter sich, und glücklicherweise lichtete sich auch der Nebel. Er kam zur Betsäule und lehnte sich erschöpft dagegen.
Die Geister der Vergangenheit hatten von ihm abgelassen...
Nachdem er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, setzte er sich wieder in Bewegung und suchte den aus Stein gebauten Speicher seines Vaters auf.
„Maria!“ rief er, während er durch das Tor der Scheune trat.
„Maria, bist du da?“
Ein schlanker Schatten huschte lautlos auf ihn zu. Er hörte ihren raschen Atem, warmer Hauch strich über sein Gesicht und er spürte ihre weiche Haut, als sie sich sanft an ihn schmiegte. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an die zierliche Gestalt und fühlte sich auf einmal geborgen, als sich schlanke Arme um ihn schlangen.
„Maria, Maria, laß mich nie wieder los.“
„Was ist denn passiert, Fernando?“ fragte sie.
Er gab keine Antwort, hielt die Geliebte fest im Arm, küßte ihr Gesicht und ihren Körper. Er wollte die zu¬rückliegenden Schrecken vergessen. Aber die Erinnerung ließ ihn nicht los.
Schluchzend bettete er sein Gesicht in ihren Schoß. Sie streichelte ihn, sagte kein Wort. Er war dankbar, daß sie ihm Zeit ließ, über den Schock hinwegzukommen.
Schließlich hob er den Kopf. „Maria, ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen. Ich gehe fort.“
„Warum?“ fragte sie tonlos. „Wohin?“
„Ich ertrage die Armut nicht mehr“, sagte er verbittert. „Ich möchte nicht wie mein Vater ein Leben lang schuften und trotzdem ein armes Schwein bleiben. Ich werde meinen Weg machen. Ich habe auf einem Schiff angeheuert. Wenn ich zurückkomme, werde ich reich sein.“
Maria kannte das. Schon viele tatendurstige junge Männer hatten Galicien verlassen, um in der Fremde reich zu werden. Irgendwann kamen sie zurück, gebrochen, enttäuscht, verbittert. Man fand sie überall in Galicien: auf ihren zweirädrigen Ochsenkarren sitzend, auf ihren winzigen Minifundien Mais einholend, in den Straßen vor den Cafés herumlungernd - und noch immer von den verpaßten Gelegenheiten in der Vergangenheit träumend.
„Ich weiß, was du denkst, Maria“, sagte Fernando. „Aber mir wird es nicht so ergehen wie diesen gescheiterten Existenzen. Ich werde mein Glück machen.“
„Auf einem Schmugglerschiff?“
„Ich gehe auf Schatzsuche.“
„Fernando!“
„Nicht, Maria!“ Er legte ihr die Hand auf den Mund. „Ich habe mich entschieden. Du kannst mich nicht mehr umstimmen. Ich könnte auch nicht mehr zurück, denn ich habe mich mit meinem Blut verpflichtet.“
Jetzt war es an ihr, zu weinen. Sie hatte sich nicht viel vom Leben erwartet, nur ein kleines Glück. Aber selbst das entriß ihr das Meer. Sie spürte, wie er wieder zu zittern begann, und das ließ sie doch wieder hoffen.
„Wovor fürchtest du dich eigentlich, Fernando?“
„Ich habe keine Angst.“
„Bist du zu stolz, mir zu sagen, was eigentlich passiert ist? Vertraue dich mir an, deiner Maria.“
Er ballte die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu verbergen.
„Ich weiß selbst nicht mehr genau, wie alles gekommen ist“, begann er. „Da war ein Mann. Ich habe ihn eines Nachts getroffen. Wir haben über die Schätze geredet, die in der Bucht von Vigo auf dem Meeresgrund liegen. Schätze, die nur darauf warten, gehoben zu werden.“
Maria verstand. Alle jungen Männer träumten davon, die Schätze der gesunkenen Galionen zu heben. Viele hatten ihre Träume und ihr Leben im Meer gelassen.
„Aber dann brauchst du doch nicht fortzugehen“, redete sie ihm zu. „Die Bucht breitet sich vor unseren Augen aus. Wenn du ihre Schätze heben willst, dann wirst du mir nicht fern sein.“
„Es ist etwas anders“, erwiderte er. „Ich kann es dir nicht erklären - aber ich werde eine Weile fort sein. Wirst du auf mich warten?“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wartest du auf mich, Maria?“ drängte er. „Ich muß fort. Wenn ich nicht freiwillig gehe, dann werden sie mich mit Gewalt holen.“
„Wer?“
Er gab keine Antwort. Plötzlich ruckte sein Kopf hoch, er lauschte.
„Hörst du den Ruderschlag, Maria?“
„Nein.“
„Sie kommen, um mich zu holen. Ich muß gehen.“
„Sag mir doch, wer dich holen kommt, Fernando!“
„Sie rufen mich!“
Sein Blick war ins Leere gerichtet, als er sich erhob. Sie versuchte, ihn zurückzuhalten, aber er entzog sich ihrem Griff und lief aus der Scheune. Sie folgte ihm mit gerafftem Rock.
Fernando drehte sich noch einmal nach ihr um.
„Bleib mir fern, Maria. Sie sollen dich nicht sehen.“
Über den Strand hatte sich dichter Nebel gesenkt. Fernando tauchte in ihn ein, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.
Sie rief seinen Namen, bekam aber keine Antwort. Verzweifelt lief sie den Strand entlang, in der Hoffnung, die Anlegestelle zu finden.
Jetzt konnte auch sie den Ruderschlag eines Bootes hören. Er näherte sich dem Ufer. Sie glaubte auch gedämpfte Stimmen zu hören. Sie lauschte ihnen und hörte heraus, daß sie sich über eine Seeblockade der holländischen und englischen Flotte unterhielten.
„Wenn wir komplett sind, stechen wir in See.“
„Hoffentlich haben wir bald eine vollzählige Mannschaft.“
Maria konnte das Geräusch der gegen den Bootsrumpf schlagenden Wellen deutlich hören. Kies knirschte, als sich der Kiel in den Ufersand bohrte.
„Da ist der Neue.“
„Name?“
„Fernando Vergara.“
Maria lief auf die Stimmen zu. Doch sie schienen jedesmal aus einer anderen Richtung zu kommen. Und je näher sie ihnen zu kommen glaubte, desto weiter entfernten sie sich.
Sie rief wieder Fernandos Namen.
„Eine Frau! Los, fort von hier.“
Erst jetzt fiel es Maria auf, daß die Unsichtbaren nicht das Gallego der Einheimischen sprachen.
Es war deutlich zu hören, wie das Boot wieder ins Wasser gezogen wurde. Der Ruderschlag entfernte sich rasch, wurde schließlich völlig vom Nebel verschluckt.
Nur noch einmal wurde die Stille der Nacht durchbrochen, als fernes Kettenrasseln zu hören war, dem ein langgezogener Schrei folgte.
Dann war es endgültig still.
Der Nebel verflüchtigte sich.
Die Sterne strahlten wieder hell vom Himmel, spiegelten sich tausendfach in der glatten See. Nirgends war ein Boot zu sehen, und ein Schiff schon gar nicht. Auch von Fernando fehlte jede Spur.
Maria stand allein am Strand.
Sie wußte, daß sie Fernando nie mehr wiedersehen würde.
DK 137
von Paul Wolf
„Raus aus den Federn, ihr Hasen!“
Die plärrende Stimme und das durchdringende Läuten einer Schelle ließen Martin erschrocken im Bett hochfahren. Das erste, was er zu sehen bekam, war Theos grinsendes Gesicht. In seinen Augen lag Spott und Triumph. Dann sah Martin, wie die Kinder schnell aus ihren Stockbetten kletterten.
In der Tür stand Sebastian und schwang eine große Schelle.
„Los, los! Macht schnell!“ rief Sebastian wieder. „Heute bekommen wir hohen Besuch.“
Er schritt wie ein Herrscher über Leben und Tod durchs Zimmer, scheuchte die Kinder mit recht unsanften Schlägen auf und trieb sie vor sich her, daß sie nicht mehr wußten, wohin sie sich wenden sollten.
„Brauchst wohl eine Extraeinladung?“ fauchte er Martin an, der nicht schnell genug aus dem Bett kam, und riß ihm die Decke weg.
Martin kam benommen auf die Beine. Er war längst noch nicht ausgeschlafen und fühlte sich unsäglich müde.
„Eine kalte Dusche wird dich auf Vordermann bringen“, sagte Sebastian mit zynischem Lächeln und zog Martin am Ohr durchs Zimmer.
Er zerrte ihn auf den Gang hinaus und von dort in den Baderaum. Während er ihn mit einer Hand festhielt, drehte er mit der anderen den Kaltwasserhahn der Dusche auf. Plötzlich ergoß sich über Martin ein kalter Wasserstrahl. Er prustete und wollte davonlaufen, doch Sebastian hielt ihn lachend fest, bis Martin klitschnaß war.
„So, jetzt trockne dich ab“, meinte Sebastian schließlich. „In fünf Minuten bist du angekleidet.“
Martin lief weinend ins Zimmer zurück. Dort empfingen ihn die Kinder mit schadenfrohem Gelächter. Nur Theo lachte nicht.
„Willst du, daß sich Sebastian bei dir entschuldigt, Martin?“ fragte er ernst. „Er ist zu weit gegangen.“
Martin schüttelte verneinend den Kopf, ohne recht zu begreifen, was Theo eigentlich von ihm wollte. Er wickelte sich in die Bettdecke, um sich zu wärmen, dann kleidete er sich schnell an.
Die anderen Kinder eilten bereits mit ihrem Zahnputzzeug in den Waschraum. Theo rührte sich nicht. Er hatte auch keine Eile mit dem Anziehen.
Draußen auf dem Gang ertönte wieder Sebastians plärrende Stimme: „Heute möchte ich keine Klagen hören. Ganz im Gegenteil, ich verlange, daß ihr bei der Inspektion angenehm hervorstecht.“
„Was für eine Inspektion?“ fragte Martin Theo.
Dieser grinste nur. In seinen Augen lag unverkennbar Triumph. Das ließ Martin zu der Überzeugung kommen, daß sein Freund über alles informiert war.
„Ich möchte, daß ihr wie aus dem Ei gepellt seid“, schrie Sebastian.
Er kam ins Zimmer. Als Martin seinen Blick auf sich gerichtet sah, zuckte er unwillkürlich zusammen. Sebastian kam drohend näher.
„Laß Martin für heute nur ja in Frieden!“ sagte Theo.
Der bullige Junge drehte sich ihm wütend zu, doch als er Theos durchdringenden Blick begegnete, wurde er sofort lammfromm.
„Gut“, sagte er. „Martin bekommt eine Extrawurst. Aber, Theo, möchtest du, nicht, daß er auf deinen Besuch einen guten Eindruck macht?“
„Das laß meine Sorge sein“, erwiderte Theo ruhig.
In diesem Augenblick kam er Martin wie ein Erwachsener vor. Wenn Martin die Augen schloß, sah er Theo als großen, stattlichen Mann vor sich.
Sebastian verschwand wieder auf den Gang hinaus, um die Kinder auf zu scheuchen.
„Wieso sprach Sebastian von deinem Besuch, Theo?“ fragte Martin. „Gilt diese Inspektion dir? Sollst du adoptiert werden?“
Theo machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Sebastian weiß nicht, was er sagt“, meinte er.
Martin ließ jedoch nicht locker; er war sicher, daß ihm der Freund etwas verschwieg.
„Aber du scheinst zu wissen, was das alles zu bedeuten hat“, bohrte er weiter. „Warum verrätst du es mir nicht?“
„Warte ab und laß dich überraschen!“ sagte Theo. „Für die anderen ist dieses Ereignis nicht so wichtig. Nur für uns beide hat es Bedeutung. Das wirst du bald erkennen.“
Theo lächelte vor sich hin. Sein Blick war dabei in unergründliche Fernen gerichtet.
Martin wechselte das Thema. „Theo, ich möchte dich um etwas bitten. Ich weiß, es ist nicht recht, einem Freund etwas zu versprechen und es dann wieder zurückzunehmen, aber...“
„Los, sag es schon!“ verlangte Theo gutgelaunt. „Heute ist ein guter Tag für mich. Du kannst alles von mir haben.“
„Ich...“ begann Martin, unterbrach sie jedoch sofort, um einen neuen Anlauf zu nehmen. „Ich habe wieder mit meiner Mutter gesprochen. Sie ist in Sorge um mich.“
Theo fuhr herum. „Du hast ihr doch nicht etwa verraten, wo du bist?“
„Nein, nein“, versicherte Martin schnell.
„Dann ist es gut.“
„Aber ich möchte es ihr sagen, weil sie sich so sehr um mich sorgt. Ich weiß, daß sie ganz krank vor Angst um mich ist, und ich ertrage das nicht. Deshalb möchte ich dich bitten, daß du mich aus meinem Versprechen entläßt und ich ihr sagen darf, wo ich mich befinde.“
Theo funkelte ihn wütend an. Martin wich einen Schritt vor ihm zurück, weil er plötzlich befürchtete, daß Theo ihn in seinem Zorn schlagen würde. Doch plötzlich lächelte Theo.
„Ich verstehe dich, Martin“, sagte er. „Du bist und bleibst ein Muttersöhnchen. Aber ich habe Verständnis dafür. Ich will dir diesen Wunsch gewähren.“
„Dann darf ich ihr...“ Martin war überglücklich.
„Nicht so hastig!“ schränkte Theo sofort ein. „Laß dir nur Zeit! Du kannst deiner Mutter verraten, wo du dich aufhältst, aber nicht sofort. Es ist noch zu früh.“
„Aber warum?“ Als Martin Theos zurechtweisenden Blick bemerkte, schluckte er und fragte kleinlaut: „Wann darf ich es ihr sagen?“
„Heute abend“, sagte Theo und nickte nachdrücklich. „Heute abend, wenn die Sonne untergegangen ist. Wenn der Leuchtturm seine Blinksignale aufs Meer hinausschickt, dann darfst du dich mit deiner Mutter in Verbindung setzen. Aber nicht früher! Das ist meine Bedingung.“
„Gut, Theo“, sagte Martin überglücklich. „Ich verspreche dir, daß ich vorher keine Verbindung mit meiner Mutter aufnehmen werde.“
Theo nickte zufrieden. „Wehe, wenn du dich nicht daran hältst! Dann bin ich nicht mehr dein Freund.“
Auf dem Gang ertönte wieder Sebastians Stimme. „Versammelt euch vor dem Gebäude, Hasenbande! Nehmt in einer Reihe Aufstellung! Marsch, marsch!“
von Paul Wolf
„Raus aus den Federn, ihr Hasen!“
Die plärrende Stimme und das durchdringende Läuten einer Schelle ließen Martin erschrocken aus dem Bett hochfahren. Das erste, was er zu sehen bekam, war Theos grinsendes Gesicht. In seinen Augen lagen Spott und Triumph zugleich.
„Wir haben es bald überstanden, Blutsbruder“, sagte Theo. „In der nächsten Nacht reißen wir aus.“
Martin war verwirrt. Hatte er etwa doch Blutsbruderschaft mit Theo getrunken, ohne sich daran erinnern zu können? Aber dann merkte er, wie die Kinder eilig aus ihren Stockbetten sprangen. Und er entdeckte Sebastian in der Tür. Er bimmelte wieder mit der Schelle.
„Auf, auf! Macht schon!“ rief er. „Beeilt euch. Heute bekommen wir hohen Besuch.“
Sebastian trat ein und schritt wie ein Herrscher über Leben und Tod durchs Zimmer, scheuchte die Kinder mit unsanften Schlägen auf und trieb sie vor sich her, daß sie nicht mehr wußten, wohin sie sich wenden sollten.
Martin kaum schlaftrunken auf die Beine. Er war längst noch nicht ausgeschlafen und war unsäglich müde. Er hatte wohl letzte Nacht zu lange am Fenster gestanden, um das verheißungsvolle Blinklicht zu betrachten.
„Eine kalte Dusche wird dich auf Vordermann bringen“, sagte Sebastian mit zynischer Stimme und packte Martin plötzlich am Ohr.
Er zog ihn daran durchs Zimmer, zerrte ihn auf den Gang hinaus und von dort in den Baderaum. Während er ihn mit einer Hand festhielt, drehte er mit der anderen den Kaltwasserhahn der Dusche auf. Über Martin ergoß sich ein kalter Wasserstrahl. Er prustete und wollte davonlaufen, aber Sebastian hielt ihn lachend fest, bis Martin klitschnaß war.
„So, jetzt trockne dich ab.“ Sebastian stieß ihn von sich. „In fünf Minuten bist du angekleidet.“
Martin lief weinend ins Zimmer zurück. Dort empfingen ihn die Kinder mit schadenfrohem Gelächter. Nur Theo lachte nicht.
„Mach dir nichts draus, Martin“, sagte er, er lag als einziger noch im Bett und stützte den großen Kopf mit dem faltigen Gesicht auf die Hand. „In Wirklichkeit ist Sebastian unser Freund. Willst du, daß er sich bei dir entschuldigt?“
Martin schüttelte nur den Kopf, eine Entschuldigung von Sebastian würde vermutlich sehr wehtun. Er wickelte sich in die Bettdecke, um sich zu wärmen. Dann rubbelte er sich ab und begann mit dem Ankleiden.
Die anderen Kinder eilten bereits mit ihrem Zahnputzzeug in den Waschraum. Nur Theo rührte sich noch immer nicht. Er lümmelte weiterhin unbekümmert in seinem Bett.
Draußen auf dem Gang plärrte wieder Sebastian:
„Heute möchte ich keine Klagen hören. Seid nur ja artig. Ich verlange, daß ihr bei der heutigen Inspektion wie aus dem Ei gepellt seid.“
„Was für eine Inspektion?“ fragte Martin an Theo gewandt.
„Es werden ein paar Witwen kommen“, meinte Theo grinsend.
„Heute möchte ich nur lauter Musterknaben um mich haben!“ brüllte wieder Sebastian.
Er kam ins Zimmer. Als Martin seinen stechenden Blick auf sich gerich-tet sah, zuckte er unwillkürlich zu¬sammen. Sebastian kam drohend näher. Aber da schaltete sich Theo ein.
„Laß Martin für heute nur ja in Frieden!“ sagte er warnend.
Einen Moment lang sahen sich einander der große bullige Junge und der verwachsene Theo abschätzend an. Dann senkte Sebastian den Blick. In ihm kochte es sichtlich, aber er gab klein bei.
„Gut“, sagte er. „Martin bekommt eine Extrawurst. Aber sag selbst, Theo, möchtest du nicht auch, daß Martin auf deinen Besuch einen guten Eindruck macht?“
„Das laß nur meine Sorge sein“, sagte Theo.
In diesem Moment kam er Martin wieder einmal wie ein Erwachsener vor. Wenn Martin die Augen schloß und nur seine Stimme hörte, dann sah er Theo als großen, stattlichen Mann vor sich. Manchmal war ihm sein Freund schon unheimlich.
Sebastian sagte:
„Und wie steht es mit dir, Theo?“
„Ich fühle mich nicht gut. Ich bleibe erst einmal im Bett.“
„Wie du meinst.“
Sebastian verschwand wieder auf dem Gang und scheuchte mit seinem Geplärre die Kinder wie ein Wirbelwind auf.
„Wieso sprach Sebastian von deinem Besuch, Theo?“ fragte Martin. „Gilt die Inspektion dir? Sollst du adoptiert werden?“
Theo machte eine lässige Handbewegung.
„Vergiß es.“
Martin ließ jedoch nicht locker. Er hatte das Gefühl, daß ihm der Freund etwas verschwieg.
„Aber du weißt, was das alles bedeutet“, bohrte Martin weiter. „Warum verrätst du es mir nicht? Sind wir keine Freunde mehr?“
„Warte ab und laß dich überraschen!“ sagte Theo. „Für die anderen ist das Ereignis nicht so wichtig. Nur für uns beide hat es Bedeutung. Du wirst schon sehen.“
Theo lächelte wissend vor sich hin. Und wieder wirkte er viel, viel älter als er war.
Martin wechselte das Thema.
„Theo, ich möchte dich bitten, mich aus meinem Versprechen zu entlassen“, sagte er.
„Was meinst du denn?“ fragte Theo launisch. „Heute ist ein guter Tag. Sprich schon, du kannst alles von mir haben.“
„Ich...“, begann Martin, mußte aber einen neuen Anlauf nehmen. „Ich möchte meiner Mutter sagen dürfen, wo ich bin.“
Theos Kopf ruckte hoch.
„Hast du schon wieder Kontakt mit ihr gehabt?“
„Nein, nein“, versicherte Martin hastig. „Ich habe sie letzte Nacht nicht erreicht. Ich weiß nicht wieso...“
„Dann ist es ja gut.“ Theo machte einen äußerst zufriedenen Eindruck.
„Aber ich möchte ihr sagen, wo ich bin“, beharrte Martin. Er hatte sich ganz fest vorgenommen, dies von seinem Freund zu verlangen. „Ich weiß, daß sie sich um mich sorgt. Sicher ist sie vor Angst ganz krank. Wer weiß, wo sie auf der Suche nach mir herumirrt. Das muß furchtbar sein. Ich möchte ihr helfen, sie rufen und ihr sagen, wo ich bin.“
Theo funkelte ihn zornig an. Martin wich einen Schritt vor ihm zurück. Aber plötzlich lächelte Theo wieder.
„Ich verstehe dich, Blutsbruder“, sagte er. „Du bist und bleibst ein Muttersöhnchen. Aber was soll's? Ich muß dir diesen Wunsch wohl gewähren.“
„Dann darf ich...?“ fragte Martin hoffnungsvoll.
„Nicht so hastig!“ schränkte Theo ein. „Laß dir nur Zeit! Deine Mutter wird noch früh genug erfahren, wo wir sind. Nicht mehr lang und sie wird bei uns sein. Aber es ist noch zu früh.“
„Aber warum?“ fragte Martin. Als er Theos zurechtweisenden Blick merkte, schluckte er und fragte kleinlaut: „Wann darf ich es ihr sagen?“
„Heute abend“, sagte Theo und nickte nachdrücklich. „Wenn die Sonne untergegangen ist und der Leuchtturm seine Blinksignale aufs Meer hinausschickt, dann darfst du dich mit deiner Mutter in Verbindung setzen. Das ist meine Bedingung.“
„Gut, Theo“, gab Martin nach. „Ich verspreche dir, daß ich mich daran halte.“
Es schien Martin, daß ihn Theo gar nicht gehört hatte. Denn plötzlich schreckte er hoch, grinste und meinte:
„Aber warum denn nicht gleich? Ruf mal nach deiner Mutter. Aber wehe, wenn du ihr sagst, wo du bist. Versuch nur mal, sie zu rufen.“
„Du meinst... jetzt sofort?“
Theo nickte.
Martin konzentrierte sich.
Mutter! Kannst du mich hören, Ma? Bitte, gib mir Antwort.
Aber seine Mutter antwortete nicht. Er rief sie noch ein paarmal, aber vergebens.
„Na?“ fragte Theo anzüglich. „Hat es geklappt?“
„Nein, sie kann mich nicht hören“, sagte Martin traurig.
Theo schien darüber sehr glücklich. Auf dem Gang ertönte wieder Sebastians Stimme.
„Versammelt euch vor dem Gebäude! Der ganze Hasenstall nimmt in einer Reihe Aufstellung. Los, marsch, marsch!“