Die phantastischen Welten des Karl-Ulrich Burgdorf: Der Frevel des Waka-teh
Die phantastischen Welten des Karl-Ulrich Burgdorf
»Der Frevel des Waka-teh«
Winnetou und Old Shatterhand finden bei minus 30 Grad in der Schneewüste der Northern Plains einen toten, am Boden festgefrorenen Yanktonai-Nakota. Das Ungewöhnliche: Der Mann hat kein Gesicht mehr, während der Rest des Körpers unversehrt scheint.
Als sich ein Sturm ankündigt, beschließen die beiden, das nahe gelegene Winterlager der Nakota aufzusuchen, um für einige Tage Unterschlupf zu erbitten. Auf den Weg dorthin stoßen sie auf das verendete Pferd des Toten. Anhand der Spuren weg vom Pferd kann Winnetou ablesen, dass der gestürzte Reiter vor etwas auf der Flucht gewesen sein musste.
Kurz, bevor sie das Winterlage erreichen, fällt ihnen auf, dass kein Rauch zu sehen ist. Trotz der eisigen Kälte scheint kein Feuer zu brennen ...
Karl-Ulrich Burgdorfs „Der Frevel des Waka-teh“ ist eine von 23 Storys der Anthologie „Auf phantastischen Pfaden“; 13 davon spielen im Umfeld Old Shatterhands. Mit 22 Seiten ist der Burgdorf-Beitrag einer der längeren der Sammlung.
Mit der vorliegenden Geschichte greift der Autor auf altbekannte Figuren zurück. Der ich-erzählende Old Shatterhand und Winnetou sind jedem Leser ein Begriff; sei es aus den Originalgeschichten oder aus den sehr märchenhaft anmutenden und doch prägenden Kinofilmen der 60er Jahre. Eine allzu freie Darstellung verbietet sich hier also, so dass Karl-Ulrich Burgdorf prinzipiell einer seiner Stärken, dem Figurenaufbau, beraubt ist.
„Der Mann ohne Gesicht lag rücklings im Schnee und starrte aus leeren Augenhöhlen in den stahlblauen Himmel.“, so der 1. Satz, der Shatterhand und Winnetou sowie den Leser direkt in die Geschichte wirft. In der Folge darf man Old Shatterhand dann doch ein wenig anders kennenlernen als von Karl May gewohnt: Nicht nur analytisch denkend, sondern zudem Thesen aufstellend und gleich wieder verwerfend, rätselnd ohne Lösungen zu finden – hier ist er nicht die über den Dingen stehende Überfigur. Dem phantastischem Element wird Rechnung getragen, der Erzähler wird mit Neuem konfrontiert. Selbst sein indianischer Begleiter weiß die Fakten erst nicht zu deuten, ergreift dann aber die Initiative: Die Gratwanderung zwischen Ahnen und Wissen gelingt, um die Geschichte stimmig voranzutreiben und zu einem durchdachten Schluss zu führen.
Grundsätzlich haben die Autoren der Anthologie, so scheint es, sehr freie Hand beim Umgang mit Karl Mays Figurenensemble: Kanontreu einfügend oder frei interpretierend in der Beschreibung – die Bandbreite der Geschichten ist sehr groß. Wenn man sich aber mit Karl-Ulrich Burgdorfs Werken auseinandersetzt, weiß man bereits im Vorfeld, dass der Autor die möglichen Optionen nicht ausschöpfen wird. Der Leser kann seinen Beitrag, so er denn will, in die vorhandenen Werke einfügen.
„Was uns hier hinauf in den hohen Norden der Vereinigten Staaten und sogar bis über die Grenze nach Kanada – die hier ohnehin nicht mehr war als ein Federstrich auf der Karte eines weißen Geographen – zu den Stämmen der Assiniboine und Anishinab geführt hatte, darüber werde ich vielleicht eines Tages an anderer Stelle noch berichten.
Der Frevel des Waka-teh Seite 109 (E-Book)
Die Figuren sind von Anfang an sehr präsent, der Autor nutzt vorhandene Bilder des Lesers und vertraut den Charakteren. Er konzentriert sich darauf, die Gegebenheiten und das Umfeld zu schildern, um mit der erst latenten, dann sehr konkreten Gefahr Schnelligkeit zu transportieren und die von Beginn an vorhandene Spannung weiter hoch zu treiben.
Dem phantastische Element, über das ich hier nicht zu viel verraten möchte (wenngleich der Titel natürlich bereits die Richtung möglicher Spekulationen vorgibt), wird die bodenständige, ausführliche Beschreibung des Normalen gegenüber gestellt:
„Hätten wir sie offen in der Hand gehalten, wäre das Öl der beweglichen Teile womöglich durch die enorme Kälte dickflüssig geworden oder gar zu einer Art Gelee erstarrt, sodass selbst diese so zuverlässigen Waffen uns vielleicht im entscheidenden Moment im Stich gelassen hätten.
Der Frevel des Waka-teh Seite 110 (E-Book)
Der Schluss ist konsequent, aber nicht wirklich überraschend. Mit den 22 Seiten bietet die Story genug Platz zum Erzählen, eine Pointe wäre hier tatsächlich eher störend gewesen.
Fazit:
Eine schön erzählte Geschichte, die auch nach langer Leseabstinenz die May'schen Figuren sofort aus den Erinnerungen hervor holt und gekonnt in eine spannende Phantastik-Erzählung einfügt.
Hintergründe:
„... in Form der Rückübertragung von Rechten an einer Reihe von Romanexposés, die ich Wolfgang Hohlbein vor vielen Jahren verkauft hatte, ohne daß er diese jemals genutzt hätte. Eines dieser Exposés habe ich inzwischen in veränderter Form als Grundlage meiner Erzählung »Der Frevel des Waka-teh« für den Karl-May-Verlag benutzt.
Karl-Ulrich Burgdorf, Januar 2019 im 1. Interview der Lesereise
„Was ist das für eine Sprache?“ fragte ich.
„Es ist die Ursprache, die Sprache der Magie. Nur die Medizinmänner sprechen sie noch, und einige wenige Häuptlinge, so wie ich. In ihr werden alle Anrufungen und Beschwörungen an die Geisterwelt gerichtet.“
Der Frevel des Waka-teh Seite 123 (E-Book)
Laut Karl-Ulrich Burgdorfs Bibliografie war der Autor (Mit-)Verfasser mehrerer „Der-Hexer“-Exposé. Die Kernstory von „Der Frevel des Waka-teh“, befreit von Shatterhand und Winnetou, würde sich wunderbar in die Handlungszeit dieser Romanheftserie einfügen und auch mit Robert Craven als Protagonisten sehr gut funktionieren.
Grundsätzlich wäre auch ein Aufeinandertreffen Winnetous und Robert Craven denkbar – in der Serie „Der Hexer“ hatten viele bekannte Figuren und historische Persönlichkeiten Gastauftritte: H.G. Wells, Dr. Frankenstein, Kapitän Nemo, Sherlock Holmes, Professor Moriarty, Jean Passepartout, Anne Oakley, Sitting Bull, H.P. Lovecraft, Mary Shelley, …
Ob das Exposé tatsächlich für die Serie geschrieben wurde, oder ob nicht umgekehrt insgesamt Story-Ideen gesammelt und bei vorhandener Möglichkeit in die Serien eingebaut wurden (Burgdorf schrieb auch Exposé für „Die Terranauten“ und „Die Ufo-Akten“) , wird sicherlich eine Frage des nächsten Interviews sein.
Der Frevel des Waka-teh
Stand: 12.02.2019