Amazing Pulps – Pulp Treasures 19 - Britische Kurzserien um 1900
Pulp Treasures 19
Britische Kurzserien
um 1900
I
Als der Unternehmer George Newnes 1891 (oder genauer gesagt Weihnachten 1890) die Zeitschrift „The Strand“ aus der Taufe hob, konnte selbst er mit seinen tollkühnen Plänen, den Zeitungsmarkt zu revolutionieren, nicht ahnen, dass er nicht nur die Magazinlandschaft komplett umkrempeln würde, sondern auch die britische und amerikanische Unterhaltungsliteratur. Zunächst ging es eigentlich eher darum, endlich mit dem technischen und sozialen Fortschritt gleichzuziehen – neue Druckverfahren ermöglichten auch neue, augenfreundlichere Zeitschriften, und es war an der Zeit, die Bleiwüste mit nichts als Text in spannend illustrierte Seiten umzuwandeln. Keine Seite ohne Bild – so war Newnes' Parole – die er dann doch nicht immer einhalten konnte, aber doch fast.
Und die britische Regierung hatte ab den 1880er Jahren ein massives Programm zur Alphabetisierung der Bevölkerung eingeleitet – und an der Schwelle zu den 1890er Jahren wartete ein lesehungriges Millionenpublikum auf Lesefutter. Da war richtig viel Geld zu holen, wenn man nur wußte, wie.
Ähnliche Zustände hatten wir übrigens in Deutschland. Doch hier gab es einen Unterschied – einen fatalen. England unterschied U- und E-Literatur nicht nach Genres, sondern nach stilisistischer Brillanz. In Deutschland hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts ein starkes Schubladendenken herausgebildet, das Literatur vorrangig in Genres einteilte. Genrebetonte Vorurteile verhinderten eine blühende hochwertige Unterhaltungskultur, wie wir sie in England ab 1890 und Amerika ab ca. 1900 erleben. Um das an einen konkreten Beispiel klarzumachen: Ob ein Kriminal- oder Schauerroman zur „Schundliteratur“ gehörte, war in England lediglich vom Stil abhängig. Wenn ein Meister wie Wilkie Collins einen Krimi schrieb, war man gern bereit, ihn der Hochliteratur zuzurechnen. Wenn Oscar Wilde eine Gespenstergeschichte schrieb, wurde sie bewundert. Ein reißerischer Penny-Dreadful-Wälzer allerdings konnte dort allgemein zur billigen Unterhaltungsliteratur gezählt werden.
In Deutschland konnte man nicht einfach als großer Autor einen Krimi oder Horror-Roman schreiben. Man hätte sich damit automatisch in den Verdacht der Sensationslust und Unmoral begeben. Denn das Genre „Grusel“ oder „Krimi“ selbst galt als anrüchig (in England nie, selbst Scott und Dickens schrieben Schauergeschichten.). Ein gut geschriebener Krimi wäre also in Deutschland auch dann noch Schundliteratur geblieben, wenn er von einen Genie verfaßt worden wäre. Ein deutscher Conan Doyle, ein deutscher Rider Haggard wären also gar nicht möglich gewesen. So tauchten Ende des 19. Jahrhunderts die Unterhaltungsschriftsteller in Deutschland in die Sub-Szene der Groschenhefte oder Kolportage ab. So erstaunlich der Aufstieg Karl Mays als Unterhaltungsschriftsteller auch war, er blieb immer ein mißtrauisch beäugter Autor, der sich mit stark katholisch aufgeladener Moral auch von der reinen Unterhaltung hin zur verkappten Traktak-Litetatur wandte.
Anders in Großbritannien. Der Siegeszug der großen Unterhaltungsmagazine – (nach The Strand sollten eine Menge Imitationen folgen) war die große Stunde der britischen Spannungsliteratur. Die Magazine weckten das Beste in den Talenten der britischen Schriftsteller, die Verlage ermunterten begabte Horror-, Abenteuer- und Krimischriftsteller (und Schriftstellrinnen!), und so wurde die Zeit von 1890 bis 1918 das „Golden Age“ der Spannungs-Kurzgeschichten-Serie.
II
Natürlich lag zunächst die alte Idee des Fortsetzungsromans nahe, um Leser an Magazine zu binden. Doch da fast alle neuen Illustrierten Monats-Zeitschriften waren, stand man der Idee der direkten Fortsetzung zunächst sehr mißtrauisch gegenüber. Vielleicht fürchtete man, Fortsetzungen würden sich zu lange hinziehen oder man könne den Inhalt der Folgen innerhalb eines Monats vergessen. The Strand brachte im ersten Jahrfünft seines Erscheinens gar keinen. Man wollte dort auch, dass man ein Magazin als abgeschlossenes Werk lesen konnte. Ein England-Tourist oder ein Besucher aus den Staaten / Inden / Australien sollte am Kiosk ein Exemplar kaufen können und sich nicht darüber ärgern müssen, dass er von einem spannenden Roman nur einen Fetzen bekam. Dennoch wurden natürlich bald solche Romane gebracht. Einige von ihnen erlangten sogar weltweiten Ruhm wie Doyles „Der Hund von Baskerville“ (The Strand, August 1901-April 1902) und Wells' „Krieg der Welten“ (Pearson's Magazine, April-Dezeber 1897). Einige Zeitschriftenredaktionen sicherten sich sogar die Erstveröffentlichungsrechte eines vielversprechenden Romans, um die Magazingründung sensationell zu feiern, so eröffnete das Windsor-Magazine 1895 seine erste Nummer mit dem ersten Teil des späteren Bestsellers „A Bid of Fortune“ (Doktor Nikola) von Guy Boothby. Das war erste Roman mit einem negativen Superhelden und das unmittelbare Vorbild für Dr. Mabuse, Fu Man Chu und Robert Krafts „Loke Klingor“.
Dennoch sollte sich bald eine noch populärere Form der Fortsetzung herausbilden – die Mini-Kurzgeschichten-Serie. Sie ist das unmittelbare Vorbild aller Serien im Unterhaltungssektor, vom Comic über die Rundfunk- bis zur Fernsehserie.
Der Erfinder dieser Art Serie war wohl – das ist keine große Überraschung – Arthur Conan Doyle. Sherlock Holmes ist das klassische Vorbild. Zwar war schon ein Sherlock-Holmes-Roman außerhalb der Zeitungsblätter als Original-Roman erschienen, doch der große Ruhm begann mit den zwölf Erzählungen, die monatlich von Juli 1891 - Juni 1892 in The Strand erschienen. Die Idee entsprach derselben Philosophie, die etwa zu selben Zeit auch in Amerika dem Groschenheft (Dime Novel) zugrunde lag: Abgeschlossene Episoden mit denselben Helden. So hatte man beides, die geschlossene Handlung und doch einen Anreiz, das nächste Heft mit dem nächsten Abenteuer zu kaufen. Doch der große Unterschied zum Groschenheft war, dass diese Geschichten in der Kurzserie eigentlich auf 6 bis maximal 12 Folgen pro Staffel begrenzt blieben. Und meist beließ man es dann auch dabei. So erklärt sich auch Doyles Unlust, über die Verträge zweier Staffeln hinaus weitere Holmes-Geschichten zu schreiben, denn das war äußerst unüblich. Und die Kurz-Serie als neue Genre-Form funktionierte eigentlich ganz gut, nur selten begehrten Fans (wie bei Sherlock Holmes) mehr als 2 Staffeln.
Der Glanz der Holmes-Geschichten ist so groß, dass man lange übersah, wie viele gute Serien in der Nachfolge entstanden, als die Form der Mini-Serie erstmal etabliert war. Unzählige andere amüsante und äußerst originelle Serien folgten. Lange waren die meisten vergessen – manche wurden neu aktiviert, weil in ihnen wieder Detektive eine Hauptrolle spielten, und diese Serien (oder einzelne Geschichten aus ihnen) wurden unter dem Label „Die Rivalen des Sherlock Holmes“ wiederveröffentlicht.
Übersehen wurde die großartige Vielseitigkeit der Mini-Serien, die zwischen 1891 und 1918 aufblühten. Ihre Helden waren eben nicht nur Privatdetektive, sondern es ganz zahlreiche Figuren von erfreulicher Bizarrerie und Originalität.
Erst jetzt im 21.Jahrhundert, im Serienfieber, entdeckt man diese Werke wieder. Meist werden sie als e-books reanimiert, aber auch einige echte Neudrucke (oder gar Erstdrucke als Buch) sind in den letzten Jahren erschienen.
Schon die unmittelbare „Nachfolgerin“ der ersten Holmes-Staffel war hinreißend. Eine Abenteuerserie mit fantastischem Einschlag „Shafts from an Eastern Quiver“ (etwa: „Pfeile aus einem orientalischen Köcher“, 12 Stories ab Juli 1892 im Strand) brachte die verrückten Erlebnisse dreier Freunde auf der Weltreise in exotischen Ländern. Autor war der heute fast vergessene Charles S. Mansfort.
Natürlich wimmelte es in den Folgejahren nach der Etablierung von Sherlock Holmes von Detektiven. Arthur Morrisons "Martin Hewitt", ein weiterer Privatermittler, brachte es ab 1894 sogar fast zu ähnlicher Popularität wie sein illustres Vorbild.
Zu den populären Serienautoren gehörten auch Frauen, etwa L.T. Meade, die oft horror-phantatische und SF-Elemente in ihre Serien mischte und sich dafür mit Experten wie Medizinern oder Juristen zusammentat. Erwähnenswert: „Stories from a Diary of a Doctor“ (1901). Berühmt wurde ihre Serie „A Master of Mysteries“ (1898) – im Mittelpunkt John Bell, ein Spezialist für unerklärliche Fälle, bei denen Übersinnliches im Spiel zu sein scheint. Meist kann er diese Vorfälle als Schwindel enttarnen. Anders der Spuk-Experte Flaxman Low von H.&E. Heron. Diese erste Geisterdetektiv-Mini-Serie startete 1898 in Pearson's Magazine und gilt heute als Ur-Modell für John Sinlcair & co. Die Geister-Detektiv-Mini-Serien wurden dann zu einer Art Extra-Zweig des Genres, sie alle hier aufzuführen würde zu weit führen, erwähnt werden sollte noch Hodgson's legendärer „Ghostfinder“ Carnacki von 1913 (Festa veröffentlichte die Serie letztes Jahr auf deutsch).
Doch auch weibliche Hauptcharaktere gab es, etwa Matthias Bodkins „Dory Myrl, Lady Detective“ (1900) Bodkin war wohl auch der erste Serienautor mit der Idee von „Spin-Offs“ und Querverweisen zwischen den Serien. Ein anderer Mini-Serien-Detektiv von ihm, Paul Beck, heiratet in einem Roman Dora Myrl, und deren Sohn wird auch Detektiv, dessen Erlebnisse in der Mini-Serie „A Chip of the Old Book (1911, Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm) geschildert werden.
Meine persönliche Lieblings-Serienheldin ist Richard Marshs Judith Lee (The Strand, 1911). Mrs. Lee ist eine junge, engagierte Taubstummenlehrerin. Ihre Fähigkeit, von den Lippen abzulesen, bringt sie immer wieder in gefährliche Situationen, weil sie ständig zufällig verbrecherische Zusammenkünfte in Parks, Restaurants und Zügen „belauscht“. Die in der Ich-Form erzählten Geschichten sind sehr amüsant und haben sich wegen ihres emanzipatorischen Drives erstaunlich gut gehalten. „The Black Coat Press“ veröffentlichte 2012 erstmals alle 22 Abenteuer in einem Band.
Doch nun zu den wahrhaften Exzentrikern, gegen Sherlock Holmes fast blass und alltäglich erscheint. Da wäre Victor Whitechurch's Fachidiot Thorpe Hazell, ein Eisenbahn-Fan, der alle britischen Fahrpläne auswendig kann und nur Eisenbahn-Verbrechen bearbeitet. (1912).
Oder der „Farb-Kriminologe“ Dr. John Durston von William Le Queux (1917), der seine Fälle mit „Colour Mentation“ löst, was auch immer das sein soll.
Zu den Exzentrikern gehören wohl auch die dubiosen wie genialen Verbrecher, die nicht selten auch geneigt sind, den Unterdrückten zu helfen; moderne, wenn auch sinistre Robin Hoods der Jahrhundertwende, etwa der „Prinz der Schwindler“ (Prince of Swindlers, 1900) von Guy Boothby oder, grade meine vergnügliche Bettlektüre, nachdem Roy Glashan die Miniserie wieder neu als ebook herausgegeben hat: „The Last of The Borgias“ (Pearson's Magazine, 1898) von Fred M. White, „being the strange history of Victor Colonna, Professor of Science, and his experiments in the lost art of poisoning“ (die seltsame Geschichte von Professor Collonna, Professor der Wissenschaften (!) und seinen Experimenten mit der verlorenen Kunst des Vergiftens.“)
Oh ja, es ist so abgedreht, wie es klingt.
Erwähnenswert sind auch einige Serien ohne Helden – sie werden nur durch eine zentrale Idee zusammengehalten. Zwei Horror/Gruselsieren haben im englischsprachigen Raum bis heute einen legendären Ruf. Conan Doyles „Round the Fire“, eine lose Reihe von Schauergeschichten und düsterer Krimis, die eben „rund ums Feuer“ erzählt werden (The Strand 1896, 12 Folgen), der deutsche Titel heißt sehr elegant „Geschichten am Kamin“. Und Fred M. Whites Variationen auf das Thema Apokalypse: „The Doom of London“ (Der Untergang Londons, Pearson's Magazine 1903) schildert in sechs Geschichten sechs Möglichkeiten des Supergaus, von Klimakatastrophen bis zu Pandemien.
Und so weiter, und so weiter. Es gibt unzählige Serien. Ein weites Feld für Wiederentdeckungen.
III
Wieso bestanden die meisten Zyklen eigentlich aus 6 bzw. 12 Stories? Das hing vielleicht auch mit der Vorliebe der Briten für Dutzendmaße zusammen, vor allem aber mit der Tradition, sechs Monats-Ausgaben noch einmal in einem Band zu veröffentlichen bzw. Den Abonnenten als Service die Buchbindung / Lieferung des Buchrahmens anzubieten. Es war natürlich schön, die Serien in einem Band (oder zweien) vollständig zu haben. Doch bald wich man stark davon ab – das galt besonders für die Serie in „zweiter Reihe.“ Denn oft liefen zwei Serien parallel in einem Magazin, und während sich die „Primetime“-Serie oft an die 6/12er Anzahl hielt, wechselten die B-Serien auch mal nach 4 oder 7 Folgen.
Die Amerikaner bewunderten diese neue Idee, Kurzgeschichten zu veröffentlichen, hielten aber – typisch amerikanisch – nichts von Kleinkram. Die meisten erfolgreichen Kurzgeschichten-Serien überschritten sehr schnell die 12er Marke. So veröffentlichte die Cosmopolitan zwischen 1910 und 18 mehr als 80(!) Geschichten mit dem Detektiv Craig Kennedy. Professor van Dusen (in Deutschland bis heute populär wegen der Hörspieladaptionen vom RIAS) brachte es zwischen 1905 und 12 auf immerhin 50 Geschichten, und wäre Autor Jacques Futrelle nicht mit der Titanic untergegangen, gäbe es sicher noch mehr. Auch später in den Pulps setzte sich die Tradition der langen Kurzgeschichten-Serien fort – erwähnt seien hier nur die über 90 Geschichten des Geisterjägers Jules de Grandin in Weird Tales von Quinn und die 70 sehr amüsanten Erzählungen des alten Apothekers Doc Turner, eine Art männliche Miss Marple, der immer wieder aufregende Kriminalfälle löst (im Magazin The Spider 1934-42). Jedoch feierte die Mini-Serie in den 30ern ein fröhliches Comeback in den Pulps, dann allerdings nicht mehr als regelmäßige Staffel mit einer Folge in jedem Heft, sondern oft unregelmäßig über einen längeren Zeitraum hinweg.