Amazing Pulps – Pulp Treasures 1 Charles Carey Waddell – A Sorcerer from Tibet (Ein Zauberer aus Tibet),1902
Pulp Treasures 1
Charles Carey Waddell
A Sorcerer from Thibet (Ein Zauberer aus Tibet), 1902
I
Diese Entwicklung ist nicht nur auf persönliche Vorlieben zurückzuführen. In den letzten Jahren hat Pulp fiction im Internet einen enorme Präsenz erhalten. Scans alter Hefte erschienen en masse in archive.org und auf anderen online-Pulp-seiten wie dem Luminists-Archiv.
Leidenschaftliche Sammler stellten über interne Gruppen ihre Schätze einer eingeschworenen Fangemeinde zu Verfügung. Allein die holländische Pulp-Enthusiastin Saskia van der Kruisweg veröffentlichte in den letzten vier Jahren in der von ihr geleiteten Yahoo-Pulpscangroup nicht weniger als 450 (!) Hefte. Amerikanische Verlage wie Wildside Press und Altus Press stellten tausende und Abertausende von Pulp-Seiten in ebookform ins Netz. Und große Online-Bibliotheken wie fadedpage in Kanada oder die Roy Glashan Library in Australien fügen ihren Sammlungen fast täglich Neuheiten aus der Welt der Pulps hinzu.
Die Sammlung Estep & Locke, die seit 2002 online ist, präsentiert jeden Samstag neue copyrightfreie Pulp-Geschichten im pdf-Format auf ihrer Seite. In ihrem Archiv sind inzwischen über 1700 abrufbare Stories. Das ergibt etwa 60-70 dicke Bände Material.
Man könnte noch mehr Quellen anführen – inzwischen lassen sich über Amazon auch preiswerte Heft-Nachdrucke ohne Zusatzkosten bestellen, da on demand gedruckt wird und die Druckereien sich in Europa befinden. Kurz: Innerhalb weniger Jahre ist die Masse der Texte so angewachsen, dass niemand all das Zeug lesen kann. Man muß auswählen, herauspicken, Stichproben machen.
Was soll man lesen? Meine Devise war immer: Was einem vor die Flinte kommt. Sich nicht von eingeschworenen Experten leiten zu lassen, hat sich schon bei den deutschsprachigen Büchern immer als segensreich erwiesen. Wer auf Kanon-verliebte selbsterklärte Literatur-Weisen hört oder alles glaubt, was seit Generationen voneinander abgeschrieben wird, der wird vielleicht nie seinen wirklichen Lieblingsschriftsteller entdecken. Oder (s)eine Lieblingsheftreihe...
Ich bin sicher – ohne Eigeninitiative und ein gesundes Mißtrauen in die etablierte Literaturwissenschaft hätte ich Autoren wie Robert Kraft, Ludwig Tieck oder Kurt Brand nie entdeckt.
Ist schon die Bewertung halbwegs akzeptierter Literatur eine recht subjektive Angelegenheit, so gerät man in der Pulp fiction schnell in einen Sumpf aus Vorurteilen und überlieferten Legenden. Wie wenig hier an Wertvorstellungen gesichert ist, soll ein extremes Beispiel belegen. Zwei Interessengruppen nähern sich gern den Pulps – Horror-Fans und SF-Fans. Beide haben oft ganz unterschiedliche Wertmaßstäbe. Beide Sphären vermischen sich nicht oft, aber wenn, führt das zu gewaltigen Irritationen.
Zu den Kult-Pulp-Magazinen gehört eine kurzlebige Heftreihe – „Strange Tales of Mystery and Terror“. Es erschienen nur 7 Ausgaben in den frühen Dreißiger Jahren. Der Herausgeber war Harry Bates, gefeiert von der Fangemeinde als Meister des guten Geschmacks in Sachen Horror. Und wirklich versammelt er in 7 Heften viele Namen, die heute noch einen guten Klang haben: H.P. Lovecraft, C.E Smith, R.E. Howard, H.B. Cave, August Derleth, Henry S. Whitehead. Etwa 90 % aller dort erschienenen Geschichten wurden in Anthologien mehrfach wieder aufgelegt.
Derselbe Harry Bates gab zur selben Zeit im selben Verlag ein SF-Magazin heraus, Astounding Stories. Es gilt in SF-Kreisen bis heute als eines der schlechtesten SF-Blätter aller Zeiten. (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen legendären Zeitschrift von Street & Smith!) Bates wird verdammt als zweitlausigster Herausgeber der SF-Geschichte. (nach Beelzebub Palmer, ist ja klar.) Obwohl sich für den unvoreingenommenen Leser, der die Stories der hochgelobten „Strange Tales“ genossen hat, die Geschichten in Astounding genauso amüsant und pfiffig lesen (warum zum sollte es auch anders sein, oft sind es Space-Operas oder SF-Geschichten mit Horror-Touch), ist es nie gelungen, den lausigen Bates der SF-Gemeinde mit dem brillanten Bates der Horror-Fans zu fusionieren. Fast glaubt man, es handele sich um ein ungleiches Brüderpaar. Dabei hat er beide Male eigentlich denselben Job gemacht und ausgesucht, was ihm lesenwert erschien.
Der Grund für diese groteske Rezeption ist klar, wir wissen heute, dass SF-Fans oft dogmatischer denken als Horrorfans und ihnen piepegal ist, ob eine Story amüsant geschrieben ist oder nicht, wichtiger ist ihnen, dass die von ihnen aufgestellten Regeln alle befolgt werden.
Ich will jetzt keine alten Wunden aufreißen, nur dokumentieren: wir wissen fast nichts über die Pulps und ihren Wert für die Unterhaltungs-Literatur. Selbsternannte Gurus wie Mike Ashley (der allerorten bis zum Erbrechen zitiert wird, als sei er eine Art Papst der Szene, der keine zweite Stimme duldet - man sehe sich den Zitatennachweis fast aller SF-Artikel in der englischen Wikipedia an!) sind sehr belesen, verflechten aber ihren ganz persönlichen Geschmack mit alten eingelernten Richtlinien, wie gute Pulp fiction auszusehen hat. Und wenn man Asimov, Clarke & Heinlein als Götter anbetet, wird man sich schwertun mit Leichtgeschäumten. Doch selbst bei Ashley, dem Großaugur der Hard-SF-Religion, gibt es Inkonsequenzen. Derselbe Ashley, der noch vor 20 Jahren den SF-Pulp-Herausgeber Ray Palmer als eine Art Charles Manson der Magazingeschichte in der Hölle schmoren sehen wollte, gibt jetzt einen von Palmers Lieblingsautoren neu heraus, den Mann, der Palmers Ideale wie kein anderer brillant umzusetzen wußte: Don Wilcox. Milde geworden im Alter? Schon komisch, diese Experten.
Was ich damit sagen will – es hilft nichts – in diesem Dschungel muß man sich einfach auf sich selbst verlassen, genau wie es etwa die Helden im wunderbaren Pulpmagazin „Jungle Stories“ tun. Manchmal spürt man, dass Autoren durchaus recht mit ihren Einschätzungen hatten, manchmal kann man sich nur wundern. Hier werden hin und wieder solche Dschungel-Funde präsentiert – manchmal nur ein Einziger, manchmal eine Reihe derselben Spezies.
II
Ein Glücksfund ist obenerwähnter Kurzroman. Als Weddells „Zauberer“ erschien, stecke die Pulpwelt noch in den Kinderschuhen. Die Erfindung der Gattung war erst 6 Jahre alt, und obwohl auch andere Magazine langsam anfingen, sich in diese Richtung zu bewegen, gab es außer Argosy noch kein anderes typisches Pulp-Magazin. Hier allerdings hatte man sich gerade etabliert und die typischen Formen gefunden, die für viele Jahre das Blatt prägen sollten.
Für uns heute ist Argosy, das legendäre erste Pulp-Magazin meist eine Art Zeitschrift mit Password-Code. Man kann zwar sehen, was es alles schönes gibt, aber nur wenig davon zu Ende lesen. Das hat mit der sonderbaren Form der Präsentation zu tun. Hauptbestandteil waren Fortsetzungsromane. Jedes Heft brachte etwa vier bis sechs solcher Romane, raffinierterweise versetzt, das heißt jeder, der ein Heft kaufte, hatte immer einen Romanbeginn dabei, dann folgte die 2. Fortsetzung des zweiten Romans, die dritte des dritten und so weiter. So konnte jeder Neuleser einsteigen. Da unsere Sammler (und auch google books) keine kontinuierlichen Heftreihenfolgen veröffentlicht haben, lassen sich diese Fortsetzungen nur in den seltensten Fällen rekonstruieren (außer es gab verfügbare spätere Buchausgaben, wie im Falle der Tarzan-Romane oder der Romane von Merritt). Es gibt zu viele Lücken. ABER: Als Bonus erschienen in jedem Heft drei, vier Kurzgeschichten und ein ganzer „Kurzroman“. Dieser Kurzroman umfasste ca. 50-60 doppelspaltige Seiten, hatte also etwa die Länge eines deutschen Heftromans. Daran kann man übrigens auch sehen, wie dick diese Argosy-Magazine waren – der Umfang betrug 150 – 200 Seiten.
Über die Kurzromane kann man sich ein gutes Bild machen, was die Pulp-Themenwahl der frühen Jahre 1896-1905 angeht. Schon viel von der späteren Aufspaltung in die Genrehefte kündigt sich hier an: Abenteuer, Western, Liebesdrama, Krimi, sogar hin und wieder mal SF oder Horror – alles ist dabei. Beim virtuellen Durchblättern der von Google digitalisierten frühen Jahrgänge blieb mein Blick am Titel eines Kurzromans vom Dezember 1902 hängen: „The Sorcerer from Thibet“. Klingt fast schon wie eine Story aus „Weird Tales“ 20 Jahre später.
Ich begann zu lesen und war sofort gefesselt.
Es war eine bizarre Mischung aus Krimi und Fantasy, heute würden wir das einen Mystery-Krimi nennen. Dr. Edward Farthingale, ein junger berühmter Experte für okkulte Legenden, ist aus seinem Appartement in New York verschwunden. Das Seltsame: Seine Tür ist von innen verschlossen, und er lebt in einem Wolkenkratzer. Captain O'Hara von der New York Police untersucht den Fall, an seiner Seite der Star-Reporter Ditson, der an dem Fall persönlich interessiert ist: Die Verlobte des Verschwundenen ist seine beste Freundin.
Bald versinken sie in einem Dschungel an Hinweisen und Verdächtigungen. Farthingale sollte in wenigen Tagen heiraten. Hat er Muffensausen bekommen und sein Verschwinden selbst inszeniert? Warum verhält sich sein Hindu-Diener Kumar so zweideutig und undurchsichtig?
Zwar sind Spuren von Seilen und Haken an Fenster und Fassade zu erkennen, doch die führen buchstäblich nirgendwohin.
Nach Wochen des Verschwindens wird der Okkult-Experte für tot gehalten. Als seine trauernde Verlobte ein letztes Mal sein Appartement besucht, um sich von einem alten Schauplatz ihrer Liebe zu verabschieden, bemerkt sie ein sonderbares Detail. Die Rosen neben ihrem Bild sind frisch. Also war Edward hier und hat die Blumen erneuert? Diener Kumar behauptet vehement, den Strauch selbst ausgewechselt zu haben, verwickelt sich aber in Widersprüche. Warum lügt er? Um seinen Herrn zu decken?
Als Reporter Ditson Fotos vom Raum macht, entdeckt er auf den Abzügen die Umrisse eines Mannes auf dem Sofa. Ein Geisterfoto?
Seine beste Freundin, Edwards Verlobte Marjorje hat eine noch viel abenteuerlichere Theorie: Könnte es nicht sein, dass Kuma als Hindu alte Hypnose-Tricks kennt? Er war bei allen Besuchen im Raum anwesend. Könnte es sein – dass Edward nie wirklich weg war – sondern Kuma nur suggeriert hat, dass das Zimmer leer sei? Aber weshalb sollte sich Edward hier in seinem eigenen Zimmer verstecken? Fürchtet er etwas?
Diese Spekulationen werden unterbrochen durch einen grausamen Leichenfund in China-Town. Tatsächlich scheint es sich bei der verstümmelten Leiche um Edward Farthingale zu handeln. Ein Mordprozess bahnt sich an, wie ihn die Stadt seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Der Verdacht, dass Diener Kumar hinter der Sache steckt, wird immer stärker. Doch einer von New Yorks besten Star-Anwälten verteidigt ihn – und zepflückt die Anklage...
Eine wunderbare Geschichte, die halsbrecherisch beginnt und nicht an Tempo verliert. Man hat das Gefühl, auf 60 Seiten passiert so viel wie in 6 Jerry-Cotton- und John-Siclair-Romanen zusammen. Die Spur führt nach Tibet zu einer sonderbaren Sekte, der sich Farthingale und Kuma vor Jahren angeschlossen hatten. Dort hatten sie ewige Keuschheit gelobt. Natürlich zeichnet sich ein neuer Verdachtsmoment ab – jetzt, wo Farthingale heiraten will, könnten Sektenmitglieder in der Stadt sein, um ihm aufzulauern und Rache zu nehmen wegen des Verrats. Steckt Kumar mit den Sektenmitgliedern unter einer Decke? Doch dessen Verteidiger enthüllt sensationelle Neuigkeiten, die alles in ein neues Licht stellen: Ein beauftragter Detektiv hat Reporter Ditsons Wohnung durchsucht, und Briefe gefunden, die Ferthingale ihm für seine Verlobte gegeben hatte, im Falle seines Verschwindens. Diese Briefe hatte Ditson nie weitergereicht. War er in Wirklichkeit als alter Freund Marjojes eifersüchtig auf das Paar? Hat er Farthingale beseitigt?
III
Ich will hier nicht alles aufdröseln und auflösen – mich hat an dem Text mehreres verblüfft und fasziniert. Zum einen ist es erstaunlich, wie viele typischen Themen der Pulp-Phantastik hier schon vorweggenommen werden. Das düstere New York, das verhutzelte geheimnisvolle China-Town, all das erinnert schon an die Noir-Atmosphäre der Hero-Pulps der Dreißiger wie The Spider oder The Shadow. Die Szenen im wilden Tibet wiederum lassen zwar deutlich den Einfluss der australischen Sensationsromane von Guy Boothby erkennen, hier ist Dr. Nikola nicht weit. Und dennoch ließe sich eine solche Beschreibung grausamer Völkerschaften in Asien und geheimnisvoller Klöster mit seltsamen Riten, von deren uralter Bedeutung man nur andeutungsweise flüstert, auch in „Weird Tales“ denken, manches wirkt wie aus einer Howard-Story entsprungen. Wichtiger war mir aber für den Genuss die bei aller Bizarrerie und Düsterkeit die vorhandene Stimmigkeit der Geschichte, jedenfalls innerhalb ihrer eigenen Logik. Der Leser wird immer wieder mit frappierenden Lösungen konfrontiert, die aber alle nicht stimmen, oft macht die Geschichte geniale Twists, und auch der letzte ist wunderbar. Ein echtes kleines Juwel, das man übersetzen sollte.
Wer war dieser Carles Carey Waddell?
Viel habe ich über ihn nicht herausgefunden. Der Name erscheint in zwei Versionen, manchmal nennt er sich C. C. Waddell, machmal nur Charles Carey, wie hier. Er lebte von 1868-1930, war Zeitungsjournalist und muß ein recht fruchtbarer Autor gewesen sein. Doch die Behauptung, er hätte über 600 Serienromane und Kurzromane verfasst, PLUS Unmengen von Kurzgeschichten, gehört wohl ins Reich der Legende. Er veröffentlichte laut Mag Fiction Index unter beiden Namen eine Menge Pulp-Geschichten aller Art, aber vermutlich nur insgesamt ca. 200. Allerdings scheinen die am interessantesten klingenden bisher nicht digitalisiert worden zu sein, wie „When the sun stopped“ (Argosy Juni 1904) „Miss Sherlock Holmes“ (Argosy Nov. 1903), „The red eyed death“ (Argosy 1914). Man sollte ihn im Auge behalten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Anzeige eines Sachbuchs von ihm in einem Verlagsverzeichnis von 1919: „Breaking into print“, presenting the Waddell system of story-writing, by C.C. Waddell.“
Wenn andere Erzählungen von ihm auch so gut geschrieben sind, hätte ich es gern mal kennengelernt, das Waddell—System.
Die weiteren Artikel
- Charles Carey Waddell – A Sorcerer from Tibet (Ein Zauberer aus Tibet),1902
- Geoff St. Reynard (Robert Wilson Krepps) – The Usurpers (Die Eindringlinge), 1950
- Eric Franc Russell – Sinister Barrier (Die dunkle Grenze), 1939
- Tudor Jenks (1857-1922) Phantomschmerz (1899)
- Anthony M. Rud – Ooze (Schlamm) - Weird Tales, 1923
- Edmund Hamilton – The Vampire Master (Weird Tales 1933/34)
- Peggy Gaddis – Girl in Khaki (Popular Love, Januar 1944)
Kommentare
Und das oft nicht mal richtig. Letzens gab es ein paar Lovecraft-Artikel im deutschen Blätterwald, und da durfte der uninformierte Leser in der Welt Dinge lesen wie Zitat: "Zu Lebzeiten hatte ihn überhaupt nur „Weird Tales“, eines der schlechteren amerikanischen Pulp Magazine, drucken wollen.", wo man nur noch die Augen verdrehen kann. Da war mal wieder ein Kenner am Werk.
Danke für die Infos. Weddell klingt interessant. Da gibt es bestimmt viel Material, das in Vergessenheit geraten ist, aber sehr einflussreich war. Ich möchte nicht wissen, wie viel die ganzen Autoren orientalischer Abenteuergeschichten Vorläufern wie Sax Rohmer oder Kipling schulden.
du hast völlig recht, da habe ich auch schon öfter drüber nachgedacht. Eigentlich macht Ashley ja nichts falsch, er hat halt seine persönliche Meinung, begründet und publiziert sie, und das darf er. Er ist halt sehr von der typischen SF-Lehre der 70er 80er geprägt, die sich stark an der realistisch-positivistischen Ästhetik Campbells, Pohls und Asimovs orientiert hat. Alle stürzen sich auf ihn, weil es so verzweifelt wenige Experten auf dem Gebiet SF-Historie / Pulp fiction gibt. Deswegen wird er so oft zitiert und ist so einflußreich.
Es ist das gebundene Qartal 12/1902 - 3(1903). Der Zauberer ist gleich die erste Story.
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