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Heyne Science Fiction Classics 18 - Alexander Bogdanow

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 18: Alexander Bogdanow
Der rote Stern

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

In Folge 11 dieser Artikelreihe wurde mit dem Roman Wir von Jewgenij Samjatin eine der klassischen Antiutopien des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig das erste Beispiel eines Werks eines Russen vorgestellt. Heute stellen wir einen weiteren Russen und damit gleichzeitig eine positive Utopie über eine sozialistische Gesellschaft auf dem Mars vor. Auch der Vergleich mit Kurd Laßwitz ist interessant, der in seinem berühmten Roman Auf zwei Planeten ebenfalls eine Gesellschaft auf derm Mars schilderte, welche der irdischen weit überlegen ist.

Heyne Science Fiction ClassicsAlexander Alexandrowitsch Malinovski wurde 1873 in Tula geboren. Er studierte Philosophie und Naturwissenschaften. 1903 trat er in die Sozialdemokratische Partei Russlands ein und wurde Mitglied der Bolschewiki. Er nahm an der Revolution von 1905 teil. 1907 erschien sein utopischer Roman Der rote Stern. Nach ideologischen Konflikten mit Lenin wurde er 1909 aus der Partei ausgeschlossen. 1917 gründete er mit einigen Genossen die Sozialistische Akademie für Gesellschaftswissenschaften und baute anschließend die proletarische Kulturbewegung auf. Ab 1920 arbeitete er als Professor für politische Ökonomie an der Kommunistischen Akademie. 1928 starb er schließlich bei einem fehlgeschlagenen medizinischen Selbstversuch. Betrachtet man Bogdanows Biografie, so finden wir einen der führenden Intellektuellen des revolutionären Umfelds in Russland, der wie viele andere auch durch seine abweichenden Meinungen in Ungnade fiel, dies aber im Gegensatz zu anderen Führungsgestalten wie Trotzki nicht mit seinem Leben bezahlen musste. Sein Roman Der rote Stern ist vor allem deswegen interessant, weil er bereits zehn Jahre vor der Oktoberrevolution ein erfolgreiches sozialistisches Gesellschaftssystem schilderte.

Heyne Science Fiction ClassicsDer russische Mathematiker und Revolutionär Leonid wird von dem seltsam aussehenden Mann Menni kontaktiert, der bahnbrechende Entdeckungen gemacht hat und die Erkenntnisse für eine Weltraumreise zum Mars ausnützen will. Menni hat ungewöhnlich große Augen und seltsam unbewegliche, leblose Gesichtszüge. Es gelingt ihm, Leonid für die Expedition anzuwerben. An Bord des Aetheroneff erlebt Leonid die große Überraschung, denn Menni und seine Mitbesatzung entpuppen sich als Marsianer, die einen besonders geeigneten Menschen für eine Studienreise zum roten Planeten ausgesucht haben. Der Mars ist ein roter Planet in zweifacher Hinsicht, denn neben seiner Farbe hat sich auf ihm bereits das sozialistische Gesellschaftssystem durchgesetzt, das Leonid so sehr für die Erde herbeisehnt.

„Die Zeit der Kanalbauten brachte einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung; die Industrie blühte und der Klassenkampf ebbte ab. Es gab eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, Arbeitslosigkeit verschwand völlig. Als jedoch das große Werk vollendet war, und zusammen mit ihm auch die kapitalistische Kolonisierung der wüsten Gegenden, kam es bald zu einer wirtschaftlichen Krise, und die >soziale Welt< wurde durchschaut. Die soziale Revolution brach aus. Und abermals spielte sich alles verhältnismäßig friedlich ab; die Hauptwaffe der Arbeiter war der Streik, und nur in seltenen Fällen und an einigen Orten, fast ausschließlich in ländlichen Bezirken, kam es zu Aufständen. Schritt für Schritt unterlagen die Grundbesitzer dem Unvermeidlichen; selbst als die Regierungsgewalt schon in den Händen der Arbeiterpartei lag, versuchten die Sieger nicht, ihre Sache mit Gewalt zu fördern.

Es gab, nachdem die Produktionsmittel sozialisiert worden waren, keine Entschädigung im wahren Sinne des Wortes, doch wurden die Kapitalisten pensioniert. Später spielten viele von ihnen bei der Organisation kooperativer Unternehmungen eine große Rolle. Zuerst fiel es schwer, der Schwierigkeit bei der Verteilung der Arbeit im Sinne der Arbeiter zu begegnen. Ungefähr hundert Jahre bestand für alle, ausgenommen die pensionierten Kapitalisten, die allgemeine Arbeitspflicht; zuerst der Sechsstundentag; später wurde die Arbeitszeit verkürzt. Der Fortschritt der Technik sowie die genaue Berechnung der freien Arbeit gestatteten, bei dieser die letzten Überreste des alten Systems auszumerzen.“

(Zitiert aus: Alexander A. Bogdanow: Der rote Stern. München 1973, Heyne SF 3401, S. 41ff)

Der Auserwählte lernt die Reisegenossen Mennis kennen, darunter den undurchsichtigen Mathematiker Sterni, Mennis Gehilfen Letta, welcher bei einem Meteoritentreffer Leonid das Leben rettet und dabei selbst den Tod findet, den freundlichen Arzt Netti, der Leonid die Sprache des Mars beibringt, sowie den jungen Astronomen Enno.

Die Weltraumfahrer erreichen endlich den Mars und Leonid erhält die Gelegenheit, die Marsbewohner, ihre Kultur und ihr Gesellschaftssystem kennenzulernen, in dem das Proletariat zum Wohle der ganzen Bevölkerung die Herrschaft übernommen und das Zeitalter des Kapitalismus auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hat. Der Erdling besucht die Fabrikstadt und erfährt, wie der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft gesteuert wird:

>Der Maschinen-Betrieb verfügt über einen Überschuß von 968 757 täglichen Arbeitsstunden, davon 11 325 Arbeitsstunden erfahrener Spezialisten.

In den folgenden Zweigen herrscht kein Mangel an Arbeitskräften: in der Landwirtschaft, in den Bergwerken, bei den Erdarbeiten, in den chemischen Betrieben usw. (Die verschiedenen Arbeitszweige wurden in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt.)<

Auf der Tabelle, die die Nummer zwei trug, war zu lesen:

> In den Konfektionsbetrieben ist ein Mangel von 392 685 täglichen Arbeitsstunden, davon 21 380 Abeitsstunden erfahrener Mechaniker für Spezialmaschinen und 7852 Arbeitsstunden der Spezialisten für Organisation.<

>Die Schuhfabriken benötigen 79 360 Arbeitsstunden, davon ...<

usw.

>Das Institut für Rechnungswesen benötigt 3078 Arbeitsstunden...<

(Zitiert aus: Alexander A. Bogdanow: Der rote Stern. München 1973, Heyne SF 3401, S. 50f)

Man merkt, dass der Autor ein Anhänger der reinen Lehre von der zentralen Steuerung der Wirtschaft war.

Leonid erkrankt. Die Riesenfülle an Eindrücken des marsianischen Lebens ist zuviel für ihn. Er leidet an einer nervösen Erschöpfung, verbunden mit Halluzinationen. Netti gelingt es, den Kranken wiederherzustellen, aber nicht nur mit seiner ärztlichen Kunst, sondern auch mit Liebe. Denn Netti ist eine Frau! Bei den Marsianern unterscheiden sich die Geschlechter äußerlich kaum. Leonid kann sein Glück kaum fassen. Er nimmt eine Arbeit auf, um noch tiefer in die marsianische Gesellschaft einzutauchen. Doch er ist überfordert, der Geist eines Irdischen kann in der reifen marsianischen Zivilisation nicht ganz mithalten. Er erleidet einen Tiefschlag, als ihm Netti eröffnet, dass sie zusammen mit Menni bei einer Venusexpedition mitfliegt und monatelang wegbleibt. Die Expedition ist notwendig, um weitere Vorräte der radiumausstrahlenden Elemente zu gewinnen, die für die Raumschiffsmotoren und für die Zerlegung und Synthese aller Elemente unentbehrlich sind. Die Vorräte auf dem Mars sind fast erschöpft, auf der Venus sind sie nahe an der Oberfläche und somit leicht abbaubar. Als Leonid nach Abflug der Expedition erfährt, dass Netti bereits zweimal verheiratet war, ihm das aber nicht gesagt hat, wird er misstrauisch und forscht nach den vermeintlich wahren Gründen der Expedition. Er bringt in Erfahrung, dass Sterni gefordert hat, aufgrund der zu Ende gehenden Ressourcen des Mars die Erde in Besitz zu nehmen und die irdische Menschheit auszulöschen. Leonid dreht durch, bringt Sterni um, wird aber nicht als Mörder exekutiert, sondern als Kranker behandelt, ausgewiesen und zur Erde zurückgebracht. Dort wird Leonid erneut medizinisch behandelt, denn es erscheint unklar, ob seine Erlebnisse auf dem Mars nicht eine Vorspiegelung seines kranken Geistes sind. Der Genesene schließt sich der Revolution an und wird schwer verwundet. Eine Ärztin erkundigt sich nach ihm und sucht ihn auf. Es ist Netti, die wiederum auf die Erde gekommen ist! Gemeinsam werden sie den weiteren Kampf bestreiten, bis auch auf der Erde das Proletariat den Sieg erringen wird.

Bogdanows Roman war nicht der einzige über eine sozialistische Gesellschaft auf dem Mars. In Alexej Tolstojs Werk Aëlita von 1922 exportieren die russischen Umstürzler die Revolution auf unseren Nachbarplaneten.

Der Traum von einer besseren Gesellschaft lebt in vielen Köpfen weiter, doch der Widerspruch zwischen den menschenfreundlichen Zielvorstellungen der Utopien und dem blutigen Weg ins vermeintliche Paradies sowie die desaströsen Ergebnisse der gesellschaftlichen Umgestaltung sind desillusionierend. Manche Leute sind der Meinung, dass sich das Sowjetsystem nur wegen die Machtübernahme Stalins in die totalitäre Richtung entwickelt hätte. Wenn man die Geschichte betrachtet, wird klar, dass dies eine Behauptung wider besseres Wissen ist. Denn fanatischer Dogmatismus führt schnurstracks in den Totalitarismus, egal wer an der Spitze steht oder welche Fraktion sich mit ihrer „einzig richtigen Auslegung der reinen Lehre“ durchsetzt. Auch wenn in Russland Trotzki statt Stalin das Ruder übernommen hätte, wäre das nicht anders gewesen. Beim Faschismus in all seinen Ausprägungen ist es das Gleiche, egal ob der Führer Hitler, Mussolini oder Franco war. Unterschiedlich war nur das Ausmaß der Unterdrückung und der Gewalttätigkeiten.

Der rote Stern ist für politisch Denkende als Einblick in die Gedankengänge eines russischen Revolutionärs interessant und hat deshalb die Aufnahme in die Reihe der Heyne Science Fiction Classics durchaus verdient. Man muss diese Auffassungen ja nicht teilen. Es wird klar, dass die Unterschiede zwischen positiver Utopie und negativer Dystopie oft nur im Auge des Betrachters liegen. Ansonsten ist das Werk heute komplett unlesbar.


Titelliste von Alexander Bodganow

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Erstausgabe des Werks angeführt.


1974

3401 Der rote Stern
deutsche Erstausgabe: Leipzig 1923, Verlag der Jugendinternationale
Originalausgabe 1907


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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