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Heyne Science Fiction Classics 23 - Jens Rehn

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 23: Jens Rehn
Die Kinder des Saturn

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Heyne Science Fiction ClassicsMit der heutigen Folge setzen wir die Vorstellung der Romane fort, welche in der Reihe der Heyne Science Fiction Classics unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki geschrieben wurden und mit eindrucksvollen Bildern, aber gänzlich unterschiedlichem literarischen Stil die Auswirkungen eines Atomschlages schildern. Jens Rehn (1918 – 1983), geboren als Otto Jens Luther, trat 1937 in die Kriegsmarine ein und wurde im Zweiten Weltkrieg U-Boot-Kommandant. Er wurde gefangen und verbrachte vier Jahre in Kriegsgefangenschaft. Er wurde 1950 Redakteur der Literaturabteilung der RIAS Berlin. Diese Tätigkeit übte er bis zu seinem Ruhestand aus, zusätzlich absolvierte er ein Studium der Philosophie, Anglistik und Philosophie in Berlin. Er veröffentlichte etwa ein Dutzend Romane, sein bekanntestes Werk wurde Nichts in Sicht, in dem er seine Kriegserlebnisse verarbeitete. Sein expressionistischer Science-Fiction-Roman Die Kinder des Saturn wurde ebenfalls stark beachtet. Rehn wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet.

Über den Horizont zuckte ein schmaler, milchiger Schein.

„Was?“ sagte der Arzt, „ein Wetterleuchten jetzt? In dieser Jahreszeit?“

Es blitzte schimmernd wiederum, und die Kimm säumte sich rosa, färbte sich rot und violett. Zwischen den Wolken wurde der Himmel gelb. Kleine, perlende Tupfen wuchsen hingesteut ringsum.

„Großer Gott“, sagte der Arzt leise, und dann rief er so laut und plötzlich, daß sie erschraken:

„Los. Kommt!“

Sie liefen so schnell sie irgend konnten. Sie begriffen nicht, was und warum. Die hingetupften Perlen bauschten sich auf, pilzten sich, Feuerstriche blitzen quer und zwischen ihnen. Ein ochsenblutiges, flammendes Tuch zog sich quer über den Himmel, und die Luft stand feucht, dicht und zitternd wie Gelée.

Es blieb totenstill. Das Meer lag reglos.

Und dann sahen sie, wie die See sich sacht und langsam hob, glatt und ölig, sie hob sich wie eine Rampe. Hinter ihnen ein fernes Murmeln. Eine diche, quallige Blase hatte sich über das Land gestülpt, wuchs zur Glocke, in ihrer Mitte öffente sich ein winziges, schwarzes Auge, öffnete sich immer weiter, die Schwärze trübte sich fett, ein sanfter, heißer Wind begann zu wehen.

Eine Tür wurde aufgerissen, der glühende Atem hinter ihnen stieß sie hinein, sie tasteten sich durch die schräg abfallende Dunkelheit, dann wieder eiliger im Kegel der zitternden Lampe durch den Gang, felsige Wände; fern und zunehmend begann ein Baß zu rollen, schnell näher, in sein Dröhnen schrillte es aus Diskanten, und der Stollen wurde immer steiler und nahm kein Ende. Stickige Luft, die Lampe wandte sich um, eine Tür donnerte ins Schloß, wieder der hastende Schein vor ihnen, noch eine Tür und eine dritte, wie Dosendeckel schlossen sie sich hinter ihnen, bis sie nach einem letzten, steilen Schacht-Abstieg gegen eine Wand prallten.

Die absonderlich gedämpfte Stimme des Arztes:

„Wir sind da. Hoffentlich reicht es.“

(Zitiert aus: Jens Rehn. Die Kinder des Saturn. München 1975, Heyne SF 3464, S. 68f)

Heyne Science Fiction ClassicsDas junge Ehepaar hat unwahrscheinliches Glück gehabt. Denn ihr Nachbar, der Arzt, hat nicht nur erkannt, dass der Atomschlag tatsächlich eingetreten ist, sondern er hat sie auch seinem Bunker in Sicherheit gebracht, welcher sich im Stollen eines aufgelassenen Bergwerkes befindet. So sind die Drei die einzigen Überlebenden des kleinen Dorfes an der Meeresküste. Der Arzt hat Vorräte für lange Zeit angelegt, denn er war wegen der politischen Ereignisse sehr besorgt. Und doch ist ein Keulenschlag, wenn das irgendwie Befürchtete, aber trotz allem Unerwartete eintritt. Die drei richten sich auf einen langen Aufenthalt ein. Wenn der Arzt die erste Tür aufmacht, tickt der Geigerzähler wie verrückt. Einsam ist es hier unten, wenngleich man mit dem Lebensnotwendigen versorgt ist. Die Tage vergehen eintönig, und doch ergeben sich Änderungen. Matjulka, die Frau aus dem Norden, wird schwanger. Endlich – sie hatten bereits fünf Jahre auf Nachwuchs gewartet. Ihr Mann Bruce, der nicht gerade mit großen Geistesgaben gesegnet war, entwickelt auf einmal Interesse für die Bibliothek des Doktors und liest sich durch Bücher, die ihn früher nie interessiert hätten. Mehr noch: er versteht sogar, was drin war. Dafür verändert er sich körperlich. Seine Haut bekommt einen eigenartigen Ausschlag, auch der Doktor kann nicht helfen. Auch beim Doktor, einem hochintelligenten Mann, verändert sich etliches. Er führt eine Art Tagebuch, schreibt immer Erlebnisse auf, darunter auch Erinnerungen aus seiner Vergangenheit. Doch im Lauf der Zeit wird das Geschriebene immer unzusammenhängender. Es scheint, dass sein Gedächtnis Sprünge bekommt.

Endlich ist das hektische Geräusch des Geigerzählers einem ganz langsamen Ticken gewichen. Die drei Überlebenden wagen sich langsam hinaus aus ihrem Käfig, hinaus in die graue Wüste, welche die Katastrophe hinterlassen hat. Der Körper von Bruce ist am Ende, der letzte Tag ist für ihn angebrochen. Der Doktor bringt nur noch ein einziges Wort heraus: „Cavete – Hütet euch!“ Matjulka ist hochschwanger, ihre Geburt steht unmittelbar bevor.

Die Frau gebar. Die kristallene Kugel, feucht glänzend und zitternd, dehnte sich aus ihrem Leib, und über allem Schmerz hinaus versuchte sie, bereit zu bleiben für das Kind.

Sie öffnete sich. Der Raum ihres Körpers weitete sich und wurde unbegrenzt, die Geschlechter umstanden sie und reichten ihre Hand, sie war nicht allein, Schwestern überm Sternenzelt, und zum ersten Male in ihrem Leben erblickte sie das Gesicht ihrer Mutter.

Sie nahm alle Kraft auf und stieß sich aus.

Die Blase sprang in frommem Riß, die kristallene Kugel schwebte und verwehte fort, ging auf in dem klaren Morgenhimmel, hohe Schneewolken zogen drüber hin, sie hauchte die Eisblumen zum runden Loch in der geschnörkelten Fensterscheibe, Trosk saß am Tisch und lachte:

„Was denkst du denn, was du bist?“

Als sie es weiß, stirbt sie.

Das Kind schlüpft geschickt und geschmeidig quer zwischen den Schenkeln.

Zwischen Blut und Wasser liegt es, stößt den Schleimpfropfen aus und beginnt zu atmen. Der knorpelige Schnabelmund schnappt nach Luft, in der Mitte des mollusken Körpers öffnet sich ein Auge, groß und blauglänzend, das Auge bewegt sich kreisend, die kleine Schuppenhand sucht die andere, findet sie nicht und sinkt erschöpft nieder, noch dreimal saugt der Schnabel die dämmrige Luft, dann fällt er klappend zusammen und hört auf. Das Mittelauge schließt sich sanft und zart, die langen Wimpern ruhen auf der Nabelschnur, die sich noch fort und fort bewegt.

(Zitiert aus: Jens Rehn. Die Kinder des Saturn. München 1975, Heyne SF 3464, S. 124f)

Im Vergleich zu den anderen bereits vorgestellten Romanen, welche den Atomtod thematisieren, sticht der Stil des Werkes heraus. Die aneinandergereihten Erinnerungsfetzen, teilweise ohne Zusammenhang, zeigen drastisch den Verfall der zum Untergang verdammten Überlebenden der Atomkatastrophe auf. Der Roman ist schmal, benötigt aber kein Ziegelsteinformat, um beim Leser Eindruck zu erzeugen. Er ist ein wichtiger, herausragender Titel in der Reihe der Heyne Science Fiction Classics, viele Lichtjahre entfernt von so manchem infantilen Weltraumabenteuer.

Bei diesem Werk ist auch deutlich zu merken, dass die Herausgeberschaft bzw. Redaktion der Heyne SF in die Hände von Herbert W. Franke und Wolfgang Jeschke übergegangen war. Es erscheint schwer vorstellbar, dass ein Werk mit einem literarischen Stil wie das vorgestellte unter dem vorigen Redakteur Günter M. Schelwokat zur Publikation gelangt wäre, welcher der abenteuerlichen Unterhaltung verpflichtet war und durch sein jahrzehntelanges Lektorat für Perry Rhodan bekannt geworden ist.


Titelliste von Jens Rehn

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die Originalausgabe des Werks angeführt.


1975

3465 Die Kinder des Saturn
Erstausgabe: Darmstadt 1959, Luchterhand


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Tags: Science Fiction and Fantasy

Kommentare  

#1 Andreas Decker 2020-08-06 15:00
Zitat:
Es erscheint schwer vorstellbar, dass ein Werk mit einem literarischen Stil wie das vorgestellte unter dem vorigen Redakteur Günter M. Schelwokat zur Publikation gelangt wäre, welcher der abenteuerlichen Unterhaltung verpflichtet war und durch sein jahrzehntelanges Lektorat für Perry Rhodan bekannt geworden ist.
Ich halte Schelwokat bei Heyne für unterschätzt.
Asimov, Aldiss, Ballard, Chad Oliver, Matheson, Galaxy und F&SF, - das ist ein mehr als solides Fundament und weitaus hochklassiger als die damalige Konkurrenz. Sicherlich kann man die Präsentation oft bemängeln, aber viele dieser Autoren stehen für alles andere als nur abenteuerliche Unterhaltung.
#2 Henry Stardreamer 2020-08-07 11:43
zitiere Andreas Decker:
Zitat:
Es erscheint schwer vorstellbar, dass ein Werk mit einem literarischen Stil wie das vorgestellte unter dem vorigen Redakteur Günter M. Schelwokat zur Publikation gelangt wäre, welcher der abenteuerlichen Unterhaltung verpflichtet war und durch sein jahrzehntelanges Lektorat für Perry Rhodan bekannt geworden ist.


Ich halte Schelwokat bei Heyne für unterschätzt.
Asimov, Aldiss, Ballard, Chad Oliver, Matheson, Galaxy und F&SF, - das ist ein mehr als solides Fundament und weitaus hochklassiger als die damalige Konkurrenz. Sicherlich kann man die Präsentation oft bemängeln, aber viele dieser Autoren stehen für alles andere als nur abenteuerliche Unterhaltung.
Du hast Recht, dass bei Heyne unter dem Lektorat von Schelwokat eine Reihe von hochklassiger SF publiziert worden ist, und ich gehe davon aus, dass GMS dazu einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Trotzdem bleibe ich bei meiner Aussage, denn Rehns Roman ist einfach viel zu weit von "Mainstream-SF" entfernt. Da hat Jeschke viel mehr Experimentielles zugelassen. Vielleicht war die Zeit aber dafür erst später reif.

Wo kann man heute noch solch ausgefallene Werke im SF-Bereich lesen?
#3 matthias 2020-08-08 15:13
Weil hier hochklassige SF glorifiziert wird: Woran ist denn die Heyne SF-Reihe letztendlich eingegangen?
Wohl weil viele Texte nur von einem kleinen Kreis gekauft und gelesen worden sind. Wenige Käufer bringen aber auch wenig Geld. Und das konnten selbst die Bestseller nicht wieder reinholen ...
#4 El Supremo 2020-08-08 16:49
Heyne musste im Zuge des Aufgehens in Rando House (Bertelsmann Gruppe) seine SF-Reihe aufgeben. Diese wurde an Piper verkauft.
#5 Henry Stardreamer 2020-08-08 19:38
zitiere El Supremo:
Heyne musste im Zuge des Aufgehens in Rando House (Bertelsmann Gruppe) seine SF-Reihe aufgeben. Diese wurde an Piper verkauft.

Diese Aussage stimmt definitiv nicht. Beim Verkauf an Random House wurde tatsächlich nur die Fantasy-Reihe samt Autorenverträgen an Piper abgegeben. Das hatte zur Folge, dass Neuauflagen wie z. B. LeGuins Erdsee-Titel dann bei Piper erschienen. Die SF blieb aber unberührt bei Heyne. Und wie wir wissen, produziert Heyne längst auch wieder Fantasy, wenngleich in der allgemeinen Reihe.

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