Der Herbst kommt - unaufhaltsam, wie Ebbe und Flut, Tag und Nacht wechseln sie sich ab, die Jahreszeiten. Heute ist der erste Nachmittag dieses Sommers, an dem es einen fast schon herbstlichen Nachmittag gibt, wolkenverhangen, mit einer Decke im Sessel, eine Katze, eine Tasse Kaffee, ein Buch. Und es ist genau der richtige Moment um mich wieder jenem Buch zu widmen, das ich eifersüchtig den Sommer über bewacht habe, und das man am Besten ab 22.9. liest, denn genau genommen beginnt es in etwa genau an diesem Tag.
Ich habe - ganz tapfer - über Wochen nicht darin gelesen, denn es wäre fast schon ein Sakrileg gewesen, dieses Buch mitten im Sommer auf einer Decke am See zu lesen, oder in der Mittagspause "weg-zu-snacken", während man auf dem Mäuerchen an der Werra sitzt.
Dieses Buch "Season of Secrets" ist das poetischste, zauerhafteste, berührendste Buch, das ich seit langem gelesen habe, und genau deshalb habe ich damit bis heute gewartet, denn dieses Buch verdient einfach einen Nachmittag, an dem man sich ihm allein widmen kann.
Molly und ihre Schwester Hannah erleben im Moment eine schwere Zeit. Nicht nur, das ihre Mutter überraschend gestorben ist und die beiden mit dieser Trauer umgehen müssen. Ihr Vater, mit der Herausforderung mehr als überfordert, schafft es nicht, sich neben seiner eigenen Trauer um die beiden Mädchen zu kümmern. Sein einziger Ausweg: Er schickt sie zu seinen Eltern, die in einer englischen Kleinstadt einen kleinen Lebensmittelladen haben.
Symptomatisch für den Umgang des Vaters mit Problemen und unklaren Situationen ist eine Szene im hinteren Teil des Buches, als die Polizei da war und nach dem Mann (davon später mehr) gesucht haben - ohne etwas zu finden. Es muss ein "klärendes Eltern-Kind-Gespräch" geben.
Molly erwartet, dass er mit ihr in eine Auseinandersetzung geht, sie hofft es sogar, aber nichts geschieht. Ihre Mutter hätte dies getan, ihre Großmutter sie wahrscheinlich kopfschüttelnd weg geschickt nachdem sie ihr die Meinung gesagt hat. Ihr Großvater, so Molly, hätte sie geküsst und sie seiner Liebe versichert. Ihr Vater tut nichts von alledem. Er öffnet nur einfach seinen Mund und schließt ihn wieder als wisse er gar nicht was er sagen solle (S. 182).
Statt zu kämpfen, ergibt der Vater sich in seine eigene Trauer und Hilflosigkeit. So erleben die beiden Mädchen einen doppelten Verlust. Auch er läßt sie allein.
Das Buch beginnt an einem regnerischen September-Nachmittag, als die beiden Mädchen von der Schule kommen. Bestimmend, wie so oft, ist die Tatsache, dass sie hier sind, nicht zuhause, dass niemand mehr "für sie da ist" - das ist eines der tragenden Töne. Hannah, die ältere der beiden, verarbeitet die Erfahrungen mit Wut und Zorn, während Molly still und zurückgezogen ist. Mollys einziger "Verbündeter" scheint der Großvater zu sein, der seiner Enkelin zumindest hin und wieder seine Liebe durch eine Umarmung zeigt, während die Großmutter eher praktmatisch und nüchtern ist.
Hannahs Zorn bricht sich Bahn und die Situation eskaliert. An diesem Abend, es ist stockfinster draußen, kommt Hannah in Mollys Zimmer und zerrt sie förmlich aus dem Bett. Es dauert einen Moment bis Molly versteht was Hannah will: Sie will weg, nach Hause! Weglaufen, zu Fuß zum Bahnhof nach Hexham und von da aus mit dem Zug durch Northumberland in die Heimatstadt.
Nur widerstrebend folgt Molly ihrer Schwester nach draußen in die Dunkelheit. Es stürmt. Molly steht allein auf dieser Straße zwischen Feldern und Moor, irgendwelchen Bäumen. Hannah ist offenbar schon voraus gerannt.
Bis zu diesem Moment hatte ich mich gewundert, warum das Buch, das doch so offensichtlich mit dem Thema Tod und Trauer bei Kindern zu tun hat, mit "Mystery and myth" auf dem Cover titelt, die "sweep in with the storm". Ich dachte "YAWN, nett geschrieben, aber ansonsten ..." und war schon fast dabei, das Buch zur Seite zu legen, als dieser Absatz mich aufmerken ließ:
It`s so pitchy-black and rainy, it is hard to tell how far I`ve gone. The moon`s risen; a silver thumbnail shining through dark, rushing clouds. The lane has narrowed and the trees on the steep banks are closer. They send long, dark branch-fingers looming and roaring over my head.
`I`m not afraid.`I say, out loud.
Because now, I can hear something coming. Someone. Feet. Feet, running towards me. My heart jumps. Who would be out on a wild night like this? Alone, without a torch? It`s the devil - I know it is. I turn and stumble-run up the bank, slipping and almost falling in the mud. I`m not going to make it. (...)
And here he is. A dark shape, bent and running. It`s a man, low and strong. He`s so close now that I can hear his breath catch in his throat.
Ok ... es wurde spannend. Der Mann wird von einer Hundemeute gejagt, er kann kaum entkommen. Und hinter der Hundemeute kommen Jäger auf Pferden. Der Leitjäger stoppt sein Pferd und ... Molly kann kaum einen Schrei hinunter schlucken: Der Mann hat Hörner, die auf beiden Seiten seines Kopfes aus seinem Haar heraus schauen.
Dieser Mann - wenn es denn überhaupt einer ist - hebt ein Horn an seine Lippen und bläst einen klaren, langen Ton - und verschwindet.
Ab da nimmt die Geschichte eine mehr als nur verwunderliche Wendung. Zunächst steht Molly unter Schock nach dem Erlebten, zittert und bricht in Tränen aus. Der Mann, selbst verletzt, versucht sie zu beruhigen, tatsächlich gelingt ihm dies auch. Als ihre Großmutter sie findet, stammelt Molly etwas von einem Mann, der gejagt wird, der verletzt wurde, von einer Hundemeute und einem Mann mit Hörnern.
Kein Wunder, niemand glaubt ihr.
Die Lehrerin, eine Miss Shelley, besucht kurz darauf mit ihnen eine Kirche, in der die Kinder den Auftrag erhalten, etwas zu zeichnen, etwas das sie "anspricht". Die Kinder machen sich auf die Suche im Inneren der Kirche, und zu Mollys endlosem Erstaunen entdeckt sie dort den Gejagten, den sie in der Regel von da an als "my man" bezeichnet:
Halfway down the church are two stone pillars. At the top of both is a face made of stone. A man. He`s got big eyes and a long, thick nose. There are leaves sticking out of his face and his hair. He looks bright and wild, like an old god or a goblin in a fairy tale. He doesn`t look like he ought to be allowed in a church.
Miss Shelley erzählt ihr, dass dieser Mann, der nur knapp dem Tod entgangen ist, ist niemand anderes war als der "Green Man", den die "Wild Hunt" verfolgte.
The Green Man is linked to the cycle of death and rebirth. He`s put on graves as a sign of hope. (...) The Green Man i an old god - from before most people could read or write - so we don`t really know anything about him. But people think he might have been the God of summer - or of spring. (...) Think of him like a year. He`s born with the spring, grows into his full power in the summer, fades in the autumn and dies in the winter.
Und in der Tat - der Mann, den Molly getroffen hat, ist tatsächlich der "Green Man".
Sally Nicholls erzählt in ihrem Buch auf nur 254 Seiten mehrere Geschichten auf einmal. Da ist Molly und ihre Familie, die einen Umgang mit dem Tod der Mutter finden muss, und da ist jene alte mythologische Geschichte von dem "Green Man" als Symbol für Sommer und Leben, das sich dem Winter ergeben und sterben muss, um im kommenden Jahr wieder neu zu erstehen.
Dies alles gelingt der Autorin in einer herrlich unaufgeregten Schreibweise, die spannend, aber nicht wirklich erscherckend ist. Beim Lesen tauchte ich immer weiter ein und fühlte mich wie von einem Kokon umgeben, der ein herrliches wohliges und erholsames Gefühl erzeugte. Es war ein wirklich besonderes Erlebnis. Man wird - und da hat sich dann gezeigt, dass der Klappentext doch sehr zutreffend ist - von der Geschichte eines Kindes mit gebrochenem Herzen und einer uralten Legende, einer zauberhaften Geschichte von Liebe, Heilung und seltsamer Magie umwoben.
Dabei ist die Vielschichtigkeit der Erzählung immer vorhanden und ohne belehrend zu sein, kann ein Kind/Jugendlicher neben der Unterhaltung der Geschichte selbst eine kleine Lektion über das Leben lernen. Es ist nicht immer gerecht, manche Dinge geschehen einfach und manchmal kann man sich gegen das, was das Leben mit sich bringt, nicht wehren - sondern muss damit leben.
Gleichzeitig ist es die Geschichte einer frühzeitlichen Erklärung des Menschen für den Verlauf der Jahreszeiten, für (vermeintliches) Sterben und Tod der Welt im Winter, um dann im Frühjahr wieder zu neuem Leben zu erstehen.
Es ist ein Buch, in dem man sich einkuscheln möchte um in eine paganistische Welt einzutauchen, in der sich verletzte Götter in einem Schuppen verbergen, Nebel über herbstlich feuchten Feldern im Zwielicht hängt und ein Mädchen zurück findet.
Ein wunderbares Herbstbuch, eine echte Entdeckung.
von Sally Nicholls (Autorin), Sarah Jane Coleman (Illustration)
Erschienen: April 2009
Englisch
272 Seiten, 9,30
ISBN: 978-1407105130
Verlag: Scholastic
Kommentare