Heyne Science Fiction Classics 33 Edgar Pangborn
Die Heyne Science Fiction Classics
Folge 33: Edgar Pangborn
Der Beobachter, Davy & Die Prüfung
Science Fiction ist eine Ideenliteratur. Speziell zu der Zeit, als das Genre unter diesem Namen bekannt wurde, also in der Ära der von Hugo Gernsback herausgegebenen Magazine, war die Präsentation von sensationellen technischen Neuerungen im Zentrum der Erzählungen. Ein guter Erzählstil war sekundär. Dieses Klischee hat sich lange gehalten, und nur nach und nach wurde auch der Charakterisierung der handelnden Personen, einer interessanten Beschreibung der Umgebung, einem sauberen roten Faden und einem guten Sprachstil größeres Augenmerk geschenkt, also essentieller Bestandteile guter Literatur. Es ist also kein Wunder, dass SF lange von literarischen Kreisen (und Milliarden von Deutschlehrern) automatisch in die Ecke der Trivialliteratur oder noch krasser als Schund abgeschoben wurde. Immer wieder haben aber Autoren bewiesen, dass Science Fiction anspruchsvolle und trotzdem interessant zu lesende Literatur sein kann, und in besonderem Maße auch die sukzessive ansteigende Zahl von Autorinnen, welche sich der SF zuwandten.
Der Autor, der heute vorgestellt wird, war ein künstlerisch vielseitig begabter Mensch, der das Schreiben als eine von mehreren Fertigkeiten beherrschte. Der Amerikaner Edgar Pangborn (1909 – 1976) wurde in Brooklyn geboren und studierte Musik in Harvard und im Konservatorium von New England. Neben seiner Kompositionsarbeit begann er Kriminalromane zu schreiben. Der Militärdienst im Zweiten Weltkrieg war eine prägende Erfahrung für den Humanisten Pangborn, der vorher auch einige Jahre als Farmer verbracht hatte. Nach dem Krieg begann er mit dem Verfassen von SF-Geschichten. Sein erster SF-Roman West of the Sun (auf Deutsch als Westlich der Sonne erschienen), der die Erlebnisse von schiffbrüchigen Raumfahrern auf einem fremden Planeten schildert, auf dem es einheimische Intelligenzwesen gibt, erschien 1953. Größere Bekanntheit erreichte der Autor dann mit A Mirror of Observers 1954. Der Roman kann durchaus als Hauptwerk von Pangborn bezeichnet werden, er wurde mit dem International Fantasy Award ausgezeichnet. Der Preis war in den fünfziger Jahren bedeutend, unter anderm wurde auch Tolkiens Herr der Ringe damit ausgezeichnet. Er wurde dann mehr oder weniger vom Hugo Award abgelöst. Ebenfalls gute Kritiken erhielten die Romane und Geschichten von Pangborn um eine Welt, die sich nach einem Atomkrieg wieder mühsam emporarbeiten muss. Der bekannteste Roman aus diesem Zyklus ist Davy, weiters gehören auch The Judgment of Eve, A Company of Glory und die bereits posthum erschiene Kurzgeschichtensammlung Still I Persist in Wondering dazu. Der wunderschöner Titel dieser Sammlung ist bezeichnend für Pangborns Art. Er war ein Autor der stillen Sorte, einer der eher mit Reflexionen als mit Weltraumschlachten Leser zu erreichen hoffte. Neben der Literatur und der Musik widmete sich Pangborn auch der Malerei.
Unbemerkt von den Menschen leben seit mehr als 30000 Jahren die letzten Marsianer in unterirdischen und unterseeischen Städten der Erde. Ihr Heimatplanet bietet keine Überlebensmöglichkeiten mehr. Die Marsianer greifen als Menschen getarnt behutsam in die Entwicklung er Erde ein. Sie wollen sich erst zu erkennen geben, wenn der Mensch eine Kulturstufe erreicht hat, die ein friedliches Zusammenleben der beiden Spezies ermöglicht. Doch es gibt Außenseiter unter den Marsianern, Abtrünnige, welche die Selbstzerstörung der Menschen fördern, damit die Marsianer eines Tages allein in den Besitz der Erde geraten können. Einer dieser Abtrünnigen ist Namir, der in einer kleinen amerikanischen Ortschaft das Leben des jungen hochbegabten Angelo Pontevecchio beeinflusst, um ihn zu verderben. Drozma, der Direktor der nordamerikanischen Missionen der Salvayer, wie sich die Marsianer selbst nennen, führt ein letztes aussichtsloses Gespräch mit Namir, der unter freiem Geleit erschienen ist. Nach dem Scheitern des Gespräches setzt Drozma Elmis auf die Fährte Namirs. Dieser ist Der Beobachter, der die Ränke des Abtrünnigen durchkreuzen soll. Drozma gibt ihm einen kleinen Spiegel auf seine Mission mit, ein uraltes Artekfakt aus Kreta. Möglicherweise kann der junge Angelo lernen, wie man in einen solchen Spiegel sieht.
Elmis reist nach Latimer, Angelos Heimatstadt, und mietet sich in der Pension von Angelos herzkranker Mutter als Zimmergast ein. Sein Äußeres hat er verändert, so dass ihn Namir nicht erkennen kann, falls er auftaucht. Er hat den Decknamen Benedict Miles angenommen Angelo ist ein zwölfjähriger Junge, durch eine Polioerkrankung mit einem schlechten Bein gehandicapt, hochbegabt, aber noch formbar – zum Guten wie zum Bösen. Er ist dabei, Mitglied der Straßengang des Anführers Billy Kell zu werden. Elmis verdächtigt Billy, ein leiblicher Sohn seines Feindes Namir zu sein. Der Beobachter lernt auch Sharon kennen, ein zehnjähriges Waisenmädchen, das davon träumt, Klavierspielerin zu werden und dafür ein riesiges Talent hat. Elmis ermöglicht ihr eine Ausbildung, damit sie ihr Ziel verwirklichen kann. Angelo wird durch Namir geistig beeinflusst, Namir hat einen alten Pensionsbewohner des Hauses von Angelos Mutter getötet und dessen Stelle eingenommen. Er übt bereits unheilvollen Einfluss auf den Jungen aus. Elmis stellt Namir, dieser entflieht aber und entkommt so der Granate, die ihn unschädlich hätte machen sollen. Angelo wird Mitglied der Straßengang. Es kommt zu einem Gewaltausbruch, als sich die Gang mit einer Konkurrenzbande eine Schlacht liefert, bei der Steine von den Dächern geworfen werden, was zu mehreren Todesopfern führt. Angelo wird von einem Polizisten geschnappt, der ihn nach Hause zu seiner Mutter bringt. Diese erleidet durch die Aufregung einen Herzanfall, dem sie erliegt. Angelo verschwindet spurlos, ebenso Bill und Namir. Elmis ist gescheitert und macht sich auf die lange Suche nach Angelo und seinen Feinden.
Nach neun Jahren findet er eine Spur. Er entdeckt auf einem in einer Zeitung abgedruckten Bild hinter dem Parteiführer der Organischen Einigkeitspartei Joseph Max einen jungen Mann, der Bill sein könnte. Elmir sucht in der Verkleidung eines alten Mannes die Parteizentrale auf und gibt vor, sich für eine Mitarbeit zu interessieren. Die Partei ist eine faschistische Bewegung, die sich ein nur sehr dünnes demokratisches Mäntelchen umgehängt hat. Es gelingt Elmis, mehrere Leute aus der Partei kennenzulernen. Darunter sind der Parteiführer und der junge William Keller, der tatsächlich Billy Kell ist, Elmis wegen seines veränderten Aussehens aber nicht wiedererkennt. Und Elmis findet auch Sharon wieder, die ihre Ausbildung beendet hat und ein glänzendes Debut als Pianistin feiert. Das Wiedersehen ist freudig, denn trotz seines veränderten Gesichts ist sich Sharon sehr bald darüber im Klaren, dass ihr Wohltäter wieder aufgetaucht ist. Schließlich gelingt es Elmir auch, Angelo zu finden, der im Domizil von Max wohnt. Er kommt ihm auf die Spur, als er ein gemaltes Bild sieht, welches einen jungen Mann zeigt, welcher sich selbst in einem Spiegel betrachtet. Viele Jahre vorher hatte Elmir Angelo in den minoischen Spiegel schauen lassen, diese Szene ist im Bild wiedergegeben. Angelo hatte zeichnerisches Talent. Die graue Eminenz hinter der offiziellen Parteiführung der Einigkeitspartei ist Elmirs marsianischer Feind, der mittlerweile die Schwelle zum marsianischen Greisenalter überschritten hat und dadurch körperlichem und geistigem Verfall ausgesetzt hat, aber noch immer die Welt umstürzen will. Dieser Umsturz gelingt Namir zum Teil, denn ein gemaßregelter junger Funktionär der Partei begeht Selbstmord, indem er sich von einem Hausdach stürzt. Er nimmt aber eine Phiole mit einem tödlichen Virus in den Tod, welcher er aus einem Labor eines für die Partei arbeitenden Forschers entwendet hat. Bald verbreitet sich eine verheerende Seuche über die ganze Welt.
Um sechs Uhr nachmittags wurde eine Erklärung aus dem Weißen Haus ausgestrahlt, mit der die Nation aufgefordert wurde, Ruhe zu bewahren. Panik, sagte Präsident Clifford, sei gefährlicher als jede Epidemie. Die medizinischen Einrichtungen und die bereits eingeleiteten Maßnahmen seien ausreichend, um der Notsituation zu begegnen. Er hatte gewisse Schwierigkeiten mit diesem Wort, die Stimme geriet ihm beinahe außer Kontrolle, und sein tiefgefurches, doch noch immer hübsches Gesicht zeigte die Anstrengung, die er aufwenden mußte, um die Silben glatt hervorzubringen. Wahrscheinlich hatten sich die Maskenbildner des Fernsehens bemüht, die tiefen Querfalten in seiner Stirm zu glätten, aber auch so blieb er ein verängstigter, im Grunde tapferer und anständiger kleiner Mann, der eine Bürde trug, welche jedem zu schwer gewesen wäre. Die Organisationen der Zivilverteidigung, so sagte er, seien dem Befehl des Generalstabsarztes der Armee unterstellt worden – einem energischen Mann, der Clifford mit einer annehmbaren Schaustellung von Unterkiefer und Laßt-diesen-Unsinn-Augenbrauen auf den Bildschirm folgte. Meiden Sie Menschenansammlungen, sagte Generstabsarzt Craig, bleiben Sie zu Hause, halten Sie sich von allen außer der notwendigen Arbeit fern, befolgen Sie alle Anweisungen der örtlichen Gesundheitsbehörden und des Zivilschutzpersonals. Alle Theater, Kinos, Sportplätze, öffentlichen Bars und Gaststätten werden für die Dauer der Notstandssituation geschlossen. Die Epidemie, sagte Craig, sei von einem neuen Virus ausgelöst worden, möglicherweise einer Mutation des Polioerregers. Erfolgversprechende Bemühungen seien eingeleitet, um den Virus zu isolieren und ein Serum zu entwickeln. Das werde verständlicherweise einige Zeit in Anspruch nehmen.
Aus den Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten: Erkrankungen werden aus Oslo, Paris, London, Berlin, Rom, Kairo, Buenos Aires, Honolulu und Kyoto gemeldet.
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Der Beobachter. München 1978, Heyne SF 3588, S 190f)
Gespenstisch, wenn man diese Zeilen im Jahr der Covid-19-Pandemie liest.
Elmir sucht ein letztes Mal Namir auf. Dieses Mal entkommt ihm sein Feind nicht mehr. Es entspinnt sich ein Dialog über die Motive des Abtrünnigen:
„Ich bin der Meinung – und diese Meinung vertrat ich immer – daß es das beste sei, den Mnschen bei der Selbstzerstörung zu helfen, weil sie nicht zu leben verdienen.“
„Wer entscheidet darüber? Wessen Wertskala?“
„Meine, natürlich.“ Er war hinter den geschlossenen Augen ganz ruhig. „Meine, weil ich sie sehe, wie sie sind. Es gibt keine Wahrheit in ihnen, keine Aufrichtigkeit. Sie projizieren die Wünsche eines gierigen kleinen Affen gegen die leere Leinwand der Ewigkeit und nennen es Wahrheit... da ist Trivialität, wenn du es genau wissen willst. Sie erfinden einen größeren Affen irgendwo über den Wolken – oder irgendwo jenseits der Galaxis, was auf das gleiche hinausläuft – und nennen ihn Gott; sie gebrauchen diese Erfindung als höhere Autoriät, welche alle Bosheiten, Grausamkeiten, Eitelkeiten, Gelüste und sonstigen Schlechtigkeiten, die ihre kleinen Geister sich ausdenken, zu rechtfertigen hat. Sie sprechen von Gerechtigkeit und sagen, daß ihre Gesetze sich von einem Gerechtigkeitssinn (den sie niemals genauer definiert haben) herleiteten; aber kein menschliches Gesetz entsprang je aus etwas anderem als Furcht – Furcht vor dem Unbekannten, dem Andersartigen, dem Schwierigen, dem Mitmenschen. Sie führen Kriege, nicht aus irgendeinem der lärmend vorgetragenen edlen Motive, sondern aus Gier und Haß, und weil sich sich selbst beinahe so sehr hassen, wie sie ihre Nachbarn hassen. Sie schnattern von Liebe, Liebe, aber menschliche Liebe ist bloß eine weitere Projektion des Affen selbst, übertragen auf das erfundene Vorstellungsbild einer anderen Person. Sie erfinden Religionen der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit wie das Christentum – wenn du aber wissen willst, wie sie diese Religionen praktizieren, dann sieh dir ihre Gefängnisse und Slums, ihre Armeen, Konzentrationslager und Hinrichtungsstätten an, oder noch besser, wirf einen Blick in die nicht allzu gut verborgenen Herzen der Respektspersonen und Honoratioren, sieh, wie es darin von Maden wimmelt, den Maden der Eifersucht und des Hasses, der Furcht und der Gier. […]
Die vier Milliarden krabbeln und wimmeln überall auf der hilflosen Erde herum, zerstören und verderben, vernichten die Wälder, vergiften die Luft mit Rauch und Gasen, mit radioaktivem Staub und dem quälenden Lärm der Maschinen. Statt Wiesen Tankstellen. Kein Tal ohne Schnellstraße. Die Seen und Flüsse voll von menschlichem Schmutz und toten Fischen. Selbst der Ozean ist krank vom menschlichen Gift, und das nennen sie Fortschritt.
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Der Beobachter. München 1978, Heyne SF 3588, S 198ff)
Elmis antwortet mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Menschheit:
„Ich will kein Plädoyer zur Verteidigung halten. Ich stimme der Anklage in beinahe jedem Punkt zu. Das einzige, was man dagegen einwenden könnte, wäre der Vorwurf der Einseitigkeit. Du hast dein Leben lang nach Schlechtigkeit, Fehlern und Schuld gesucht, um deine Vorwürfe zu beweisen, und natürlich fandest du eine Menge von allem. Das ist nicht schwierig. Ich habe nach dem Guten in der menschlichen Natur gesucht, und auch ich bin fündig geworden. Es war ebenso leicht zu finden, denn es ist überall um uns, nicht weiter entfernt als das nächste Lächeln und das nächste freundliche Wort. Du sagt, es sei keine Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in den Menschen. Weißt du besser als Pilatus, was Wahrheit ist? Die Menschen sind noch im Frühstadium des Verständnisses empirischer Wahrheit. Es ist ein schwieriger und langwieriger Prozeß, genauso schwierig wie jener, an dessen Ende Gerechtigkeit steht. Was ist Gerechtigkeit? Ein Ideal, ein Licht, das sie vor sich sehen und zu erreichen suchen. Gewiß straucheln sie, weil sie sich bemühen. Wäre es nicht so, hätten sie noch nicht einmal das Wort erfunden. Gleiches gilt für ihre Visionen von Liebe und Frieden. Furcht treibt sie an, weil sie aus Fleisch und Blut sind. Wenn du ihnen vorwirfst, daß sie sich fürchten, dann kannst du sie genauso gut beschuldigen, daß sie am Leben und fähig sind zu leiden. Die Ergebnisse der Furcht – Krieg, Haß, Eifersucht, sogar Gier – werden zusammen mit der Furcht verschwinden, wenn den Menschen noch ein paar Jahrhunderte gewährt werden, in denen sie lernen können. Für uns sind Jahrhunderte kurz, für sie aber lang, Namir. Was die häßlichen Aspekte ihrer gegenwärtigen Zivilisation betrifft, so glaube ich, daß die Erde heilen wird, wenn sie lernen, daß sie nicht Herren über die Natur sind, sodern Teile von ihr, die mit ihr gedeihen oder untergehen werden.“
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Der Beobachter. München 1978, Heyne SF 3588, S 201f)
Über Namir ist das Todesurteil gesprochen, und dieses Mal entkommt er seinem Häscher nicht. Der Virus frisst sich über den Erdball, tötet ein Viertel der Menschheit und lässt Millionen von Menschen zurück, die zwar überlebt haben, aber schwer an ihrer Gesundheit geschädigt sind. Unter diesen ist auch Sharon, denn sie hat komplett den Gehörsinn verloren. Doch sie und Abraham/Angelo haben zusammengefunden. Das Böse hat ihn letzten Endes nicht endgültig verdorben. Er kann in den Spiegel schauen.
Im kenntnisreichen Nachwort zu der 1978 erschienen deutschen Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics schreibt der Verfasser des Postskripts Martin Compart in Bezug auf den damals noch geringen Bekanntheitsgrad von Pangborn in deutschen Landen „Was Wunder, wenn er hierzulande nicht erschien“. Hier irrte Compart, denn neben einzelnen verstreut erschienenen Kurzgeschichten hatte bereits 1973 der Goldmann-Verlag die Sammlung Gute Nachbarn und andere Unbekannte (Good Neighbours and Other Strangers) in seiner SF-Reihe herausgegeben. Allerdings muss man einräumen, dass die diesbezügliche Recherche heute ein Klacks ist, wenn man am PC sitzt, während man zur Zeit, als das Buch erschien, für Recherchearbeiten Bibliotheken aufsuchen musste. Lang, lang ist's her.
Mehr als dreihundert Jahre nach einem verheerenden Atomkrieg ist die Welt mühsam beschäftigt, wieder auf die Beine zu kommen. Seuchen als Nachwirkungen biologischer Kampfstoffe haben die Menschheit weiter dezimiert. Unter den Neugeborenen sind viele Mutanten, welche gnadenlos getötet werden. Die Heilige Murkanische Kirche herrscht absolut, Häretiker unterliegen der Todesstrafe. In diese Welt wird in einem der Zwergstaaten, die man früher einmal Neuengland nannte, als Sohn einer Hure und eines unbekannten Vaters Davy geboren. Er wird gleich nach der Geburt seiner Mutter weggenommen und durchlebt seine ersten Jahre im Waisenhaus, bis er mit vierzehn Jahren als Stalljunge für einen Gasthof ausgelöst wird. Obwohl Davy beim Anblick der Tochter des Wirts erotische Gefühle entwickelt, türmt er wohlausgerüstet, denn er will die Welt kennenlernen. Er begegnet einem einem Möh, einem Mutanten, der eigentlich gleich nach der Geburt beseitigt hätte werden sollen, aber aus irgendwelchen Gründen überlebt hat. Davy bringt es nicht über das Herz, den Mutanten, der nur mit geringen Geistesgaben gesegnet ist, zu töten, wie es dem Gesetz entspricht, sondern freundet sich mit ihm sogar an. Allerdings klaut er ihm seinen Schatz, ein goldenes Horn, mit dem man Melodien blasen kann. Davy will weiterziehen, wird aber von einer giftigen Spinne gebissen und flüchtet nach Skoar zurück, wo ihn Emmia gesundpflegt. Als Davy später wieder unerlaubterweise das Dorf verlassen hat und bei seiner Rückkehr von einem Wächter erwischt wird, tötet der Ausreißer unabsichtlich beim Versuch sich zu wehren den Wachmann. Jetzt muss er endgültig seine Heimat verlassen, denn sonst würde das Gericht über ihn mit drastischen Folgen kommen. Bei seiner Wanderung beobachtet der Heimatlose ein Scharmützel, denn mittlerweile ist ein Krieg zwischen seinem Heimatstaat und einem Nachbarland ausgebrochen. Er trifft dann drei Leute, deie glücklicherweise freundlich sind. Es sind Jed und Sam, zwei Soldaten, die desertiert sind oder ihrer Einheit verloren haben, so genau kann man das wohl nicht sagen, und dazu Vilet, eine ehemalige Kompaniehure. Davy schließt mit den drei Freundschaft und zieht mit ihnen durch die Lande. Jed ist religiös und die ganze Zeit dabei, seine Sünden abzubüßen:
„O wei – das sind alles Häretiker da drüben.“
Sam fragte: „Bist du denn jemals dortgewesen?“
„Sicher bin ich und würd um keinen Preis mehr hin.“
„Mußt durch Levannon, wenn du mit Vilet nach Vairmant willst, wie du gesagt hast.“
„Ach ja“, seufzte Jed, „aber nur zur Durchreise.“
Sie waren immer noch gereizt. Ich sagte: „Ich weiß nicht – ich kenn' Levannon nur vom Hörensagen.“
„Einige Gegenden sind vielleicht ganz anständig“, räumte Jed ein. „Aber diese Sektierer! Seifen dich ein, verdrehen dir die Ohren. Die Kirche soll der Meinung sein, wenn alle Sektierer nach Levannon zögen, dann hätten's die Gläubigen in den anderen Ländern schöner, aber ich weiß nicht, es kommt mir nicht richtig vor. Grammiten, Frankliniten, das hat ihnen die religiöse Freiheit in Levannon eingebracht. Nichts anderes als ein Schlupfloch der Gottlosigkeit.“
Ich sagte: „Nie was gehört von Frankliniten.“
„Nein? Oh, sie haben sich von den Neurömischen in Conicut abgespalten – die Neurömischen sind dort nämlich sehr stark. Die Kirche toleriert sie, solange sie sich nicht eigene Versammlungsstätten bauen – ich meine, es braucht religöse Freiheit in vernünftigen Grenzen, gerade soviel, daß es nicht zu Häresie und so etwas führt. Frankliniten – also, ich weiß nicht...“
Sam sagte: „Die Frankliniten kamen auf, als jemand behauptete, St. Franklins Name wäre nicht Benjamin, und das verfluchte Goldbanner wäre nicht um ihn herumgewickelt gewesen, bei seiner Beerdigung, sondern um einen anderen gebildeten Heiligen desselben Namens. Die Mutter meiner Frau wußte alles davon, und pflegte über die Sache Auskünfte zu geben, bis man tot umfiel. Einer von den beiden lenkte den Blitz in seinen Regenschirm, ich weiß nicht mehr, welcher.“
„Das war Benjamin“, sagte Jed, wieder ganz freundlich. „Auf jeden Fall, diese Frankliniten haben einen schrecklichen Aufruhr in Conicut verursacht, schändlich – Aufstände und was nicht alles, und schließlich sagten sie, sie würden verfolgt und forderten Mutter Kirche auf, sie nach Levannon auswandern zu lassen. Exodus oder so, und sie hat's erlaubt, und da sind sie bis auf den heutigen Tag. Schlimme Sache.“
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Davy. München 1978, Heyne SF 3593, S. 130f)
Der Autor hält mit den Mitteln eines Zukunftsromans den heutigen Verantwortlichen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften den Spiegel vor Augen, mit welchen Lächerlichkeiten sie sich voneinander abgrenzen, anstatt sich mit Anleitungen für ein gutes und friedvolles Miteinander aller Menschen als Vorbild zu betätigen.
Die Gemeinschaft zerfällt aber wieder, als Jed sich in einem Dorf einem braunen Tiger entgegenstellt und tödlich verletzt wird. Vilet beginnt ein neues Leben und schließt sich als Novizin einer Gruppe von Pilgern an. Davy und Sam bleiben zusammen und heuern bei Rumleys Vaganten an, einem Wanderzirkus, der durch die Dörfer zieht, Akrobatik vorzeigt und den leichtgläubigem Publikum mit Wahrsagerei und angeblich heilenden Wässerchen das Geld aus der Tasche zieht. Zwei Mädchen, Minne und Bonny, sind Angehörige der Truppe, und unterstützen Davy nach Kräften, seine Kenntnisse des Liebeslebens auszuweiten. Er wird eine Attraktion für das Publikum, denn er hat es mittlerweile gelernt, schöne Melodien auf seinem Horn zu spielen. So verlebt der junge Herumtreiber die wohl glücklichste Zeit seines bisherigen Lebens, bis Sam, der möglicherweise sogar Davys biologischer Vater ist, einer Seuche zum Opfer fällt. Davy muss wieder einen Neuanfang machen und verlässt die Vaganten. Er wird von einem jungen Mann, der sich später als Frau herausstellt, beobachtet, und für eine Gruppe von Häretikern rekrutiert. Nickie, die junge Frau, hat herausgefunden, dass Davy den Lehren der Kirche mehr als skeptisch gegenübersteht. Sie wird seine Gefährtin, stirbt aber bei der Geburt eines von Davy gezeugten Möh. Sein Samen ist vergiftet, und er wird niemals Vater eines normalen Kindes werden. Auf dem Schiff „Morgenstern“ segelt er zusammen mit Käpten Barr auf das große Meer hinaus. Die Abenteurer finden die Insel Neonarchos, wo sie sich niederlassen. Sie wollen aber am Ende das Festland des früheren Europa erreichen, um herauszufinden, wie sich dort die Verhältnisse entwickelt haben.
Obwohl dieser Schelmenroman ganz anders ist als Der Beobachter, ist er doch unverkennbar ein echter Pangborn. Mir kamen beim Lesen Gedanken hoch, ob nicht beide Romane autobiografische Elemente enthalten könnten: Elmis als Alter Ego von Pangborn, wie er war, und Davy, wie er vielleicht gern gewesen wäre. Aber das sind unqualifizierte Spekulationen eines nachgeborenen Rezensenten, der keine Ahnung von Pangborns wirklichem Lebensverlauf hat. Jedoch: Haben wir nicht alle mehrere Seiten?
In einem Vorort der Stadt Redville hat Alma Newman zusammen mit ihrer Tochter Eve die große Katastrophe überlebt. Eve ist mittlerweile zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen, die Mutter erblindet. Abgesehen von dem schwachsinnigen Caleb, der eines Tages bei ihnen aufgetaucht ist und den sie in ihren Haushalt aufgenommen haben, ist den beiden Frauen seit Jahren kein Mann begegnet. Umso großer ist die Überraschung, als drei Männer bei ihnen auftauchen, die sich aber als friedlich herausstellen. Sie werden von dem früheren Geiger Claudius Gardiner angeführt, der seit einem Unfall einen verkrüppelten linken Arm hat. Er wurde von seinen beiden Freunden aus dem Gefängnis einer Stadt befreit, in dem er gelandet war, weil er eine neue Siedlung gründen wollte, was den Städtvätern nicht gefiel. Seine Gefährten sind der schwer kurzsichtige Kenneth Bellamy und der vierschrötige Ethan Nye, ein bärenstarker Mann, aber von schlichtem Geist. Die drei Männer beginnen sich natürlich für die attraktive Eve zu interessieren, und die junge Frau, welche keine erwachsenen Männer kennt, erwidert die Zuneigung, kann sich aber vorerst für keinen entscheiden. Da kommt ihr eine Idee: Die drei sollen wieder hinausgehen und ihr in fünf Monaten ihre Erfahrungen mitteilen, was die wahre Liebe ist. Die Prüfung besteht derjenige, dessen Antwort ihr am besten gefällt.
So ziehen die drei Freier los, Ken und Claudius zuerst zusammen. Claudius findet in der verlassenen Stadt das Haus eines Optikers, in dem noch Brillen gelagert sind. Ken, welcher nach dem Atomschlag geboren ist, hat nie eine Brille besessen und kann nach Aufsetzen eines Sehbehelfs erstmals weiter entfernte Gegenstände erkennen. Auch für Claudius, der bereits über fünfzig ist, springt eine Lesebrille für seine nachlassenden Augen heraus. Dann trennen sich die beiden. Ken fällt einer Frau in mittlerem Alter in die Arme, welche geistig verwirrt ist und ihn als ihren Mann anspricht. Er folgt ihr und verbringt mit ihr eine Liebesnacht. Am Morgen verlässt er sie aber. Dann hat er eine Begegnung mit einem riesigen Raubtier, einem der Tiger, die von aus Zoos entsprungenen Tieren abstammen. Er verwundet das Tier mit einem Pfeil und kehrt dann wieder zu Grace zurück, um sie zu warnen. Doch sie ist bereits tot, sie hat zu tief ins Glas geschaut, als sie wieder alleine gelassen wurde. Kenneth verspürt eine Mischung von Trauer und Erleichterung. Auf seiner weiteren Suche entdeckt er die öffentliche Bibliothek von Redfield. Er richtet sich dort ein und verbringt die weiteren Monate zwischen den Zeilen der Bücher auf der Suche nach der richtigen Antwort.
Claudius hört auf seiner Wanderung schrille Geigentöne, die für seine Ohren einen furchtbaren Schmerz bedeuten. Neugierig betritt er das Haus, aus dem sich die Dissonanzen herausquetschen. Der Urheber der Misstöne ist der alte Professor Joseph Stuyvesant, der sich früher der Strukturalen Phonologie hingegeben hat und auf die Wiederaufnahme der Lehrveranstaltungen wartet. Er versucht, Claudius psychoanalytisch zu behandeln, denn er akzeptiert nicht, dass er es mit einem Experten zu tun hat, der ihm das Geigespielen beibringen könnte. Als Claudius durch das Fenster die monströse Gestalt eines Tigers sieht, verlässt er den Professor mit der Warnung, keinesfalls das Haus zu verlassen. Er entdeckt, dass das Tier verletzt ist und versucht es zu töten, aber durch seinen verkrüppelten linken Arm behindert verfehlt er das Tier. Er wandert weiter und verbringt den Sommer mit weiteren Begegnungen, ohne aber den Tiger jemals zu erwischen.
Ethan gerät auf seinem Weg in die Hände eines verrückten Mannes, der sich zum Gouverneur eines Dorfes aufgeschwungen hat. Als einer seiner sadistischen Speichellecker grundlos Ethan mit seinem Messer verletzten will, schießt einer der Gefolgsleute, aber nicht auf Ethan, sondern auf den Sadisten, der jämmerlich abzieht. Der folgende Ringkampf Ethans mit dem Gouverneur endet für diesen tödlich, aber nicht dadurch, dass ihn Ethan erwürgt hätte, sondern weil der andere aus unbekannter Ursache das Zeitliche segnet. Ethan ist zwischen Schuldgefühlen und Erleichterung hin- und hergerissen. Er folgt seinem neuen Freund, dem glatzköpfigen John, in das Dorf, wo er den Sommer verbringt.
Pünktlich am dreißigsten September erscheinen die drei Männer tatsächlich wieder im Haus der Newmans, obwohl Eve und ihre Mutter Zweifel hatten, ob sie wohl kommen würden, denn in dieser nach-technischen Zeit ist es ja nicht so einfach, die Übersicht über den Kalender zu behalten. Das Wiedersehen mit allen Dreien ist herzlich, und gespannt wartet Eve auf die Erzählungen der Werber. Nach zuerst teilweise etwas geschönten ersten Versionen gibt es später ungeschminkte Schilderungen der Erlebnisse.
Kenneths Botschaft ist diese:
„Ich bin in Redford geblieben – ausgenommen die eine Reise, die ich erwähnt habe, aber das war viel später im Sommer – und habe mich in der öffentlichen Bibliothek eingerichtet. Oh, die armseligen paar Bücher in Shelter Town! Ich hatte ja keine Ahnung gehabt. Glaub mir, Eve, ich bein ein dutzendmal um den ganzen Planeten herumgekommen, der rund und groß ist, ein ungewöhnlicher Garten. Na ja, mit all den Büchern hier kennst du ja solche Freuden, aber ich habe sie nie zuvor gekostet. Die großen Dichtungen – ich habe Homer gelesen, Sophokles, Vergil; Shakespeare natürlich – aber es gibt noch unzählige, zu denen ich nicht gekommen bin! Ich werde wieder hingehen – mit dir, hoffe ich. Geschichte – die Geschichtsbücher waren vielleicht das Beste, nur von den allergrößten Dichtungen übertroffen. Die Wissenschaften – da hab' ich nur dran genippt. Aufs Geratewohl. Dazu bräuchte ich einen Führer, jeder würde einen brauchen... Ein geschliffener Diamant ist ein Prisma, das das Licht der Sonne auffängt und es, vermöge seiner eigenen Konstitution, seiner Unvollkommenheiten, in tausend Farben und Feuer aufbricht, um die Augen der Menschen ein wenig weiser, ein wenig glückicher zu machen. Liebe ist ein Diamant, der das Licht des Lebens sammelt und es uns verwandelt zurückgibt. Wirst du diese Kette ab und zu tragen, weil ich dich liebe?“
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Die Prüfung. München 1979, Heyne SF 3637, S. 213f)
So sieht die Schussfolgerung von Claudius aus:
„Ich bringe dir nur mich selbst, ein wenig älter als zuvor. Ich weiß, daß das, was Liebe zu sein scheint, oftmals keine ist, oder so schnell aufhört, Liebe zu sein, wie ein Seufzer des Entzückens erlischt. Ich weiß, daß es viele Arten von Liebe gib, so wie es viele Arten von Wahrheit gibt, und eine Art von Liebe ist eine verschlungene Sache, die gelegentlich – und ziemlich langsam, würde ich sagen – zwischen Menschen heranreifen kann, die einander achten und gern haben, und diese Art von Liebe kann so lange dauern, wie Zeit und Zufall dem Glück irgendeines Individuums zu dauern erlauben. Solche Liebe kann ein glückliches Schicksal versüßen und schöpferisch machen, ein unglückliches immerhin erträglich.“
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Die Prüfung. München 1979, Heyne SF 3637, S. 215)
Ethan, der gar nicht so ein einfacher Mensch ist, wie er geglaubt oder sich selbst vorgemacht hat, sondern nur unwissend, bringt seine Schlussfolgerungen auf ganz andere Art:
Die Scheune da draußen, an der muß eine Menge ausgebessert werden. Eve, und die Fichten sollten wirklich zurückgedrängt werden, bevor sie zuviel von dem guten Land erobern. Und ein Zaun um das Grundstück herum würde sich gut machen, der würde die Schafe beisammen halten, eine ständige Weide für Pferde – nicht, daß Caleb nicht gute Arbeit geleistet hätte mit seinem Spaten und so weiter, das erkenne ich wohl - , aber hier gehört ein Mann hin, und der Garten könnte viel größer sein.
Ich werde – das alles machen, und nach unserer Zeit werden unsere Söhne die Arbeit übernehmen. Vielleicht ist das alles, was ich in Worten über Liebe sagen kann.
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Die Prüfung. München 1979, Heyne SF 3637, S. 216f)
Eve trifft ihre Entscheidung, und die Geschichte ihrer Wahl erzählt sie später immer wieder, zuletzt ihren Urenkelkindern. Aber der Autor hat das Rätsel nicht explizit aufgelöst, deshalb müssen wir unsere eigene Antwort finden. Ich habe natürlich einen Favoriten, aber bin ja nicht Pangborn, und schon gar nicht Eve.
Auch Ein glorreicher Haufen spielt in Davys Welt, allerdings bereits 43 Jahre nach der großen Katastrophe. Es finden sich wieder Gemeinschaften von Menschen zusammen, und mühsam muss eine neue nicht-technische Lebensweise gefunden werden. Demetrius, sein echter Name war natürlich anders, ist ein Überlebender, der beim Atomschlag dreizehn Jahre alt war. Er ist jetzt sechzig, durch die Lebensumstände bereits ein alter Mann und verdient sich seinen Lebensunterhalt als Hausmeister in einem Puff und außerdem als Geschichtenerzähler, wodurch immer wieder ein paar Kröten in seinen Beutel wandern. Doch seine Geschichten erregen das Misstrauen der Obrigkeit, und es wird eine neue Verordnung erlassen, die Geschichtenerzählen nur nach Erwerb einer Lizenz erlaubt, was Demetrius mit seinem schmalen Einkommen nicht aufbringen kann. Er lebt in der Stadt Nuber, die von einer Gruppe Menschen in der Nähe der früheren Stadt Newbury in Neuengland gegründet worden war, um eine utopische Gesellschaft zu etablieren. Doch nach dem gewaltsamen Tod des Gründers wird die ursprünglich demokratisch verfasste Gemeinschaft unter seinen Nachfolgern immer repressiver. Speziell die Erzählungen von Demetrius über den Prediger Abraham, der einen Kinderkreuzzug anführte und in Nuber ein neues Jerusalem gründen wollte, erregen Misstrauen, denn der gewaltlose Abraham wurde auf das Rad geflochten und gesteinigt. Die Behörden verhielten sich damals ähnlich wie Pontius Pilatus beim Prozess gegen Jesus. Nachem der betrunkene Demetrius sich wieder dazu hinreißen lässt, die Geschichte zu erzählen, wird er eingebuchtet. Doch seine Freunde befreien ihn, und er verlässt mit ihnen die Stadt, eine neue Bleibe suchend. Die Gruppe ist nicht gerade Ein glorreicher Haufen, oder doch? In der Siedlung Trotterville schließen sie sich beinahe an einen Wanderzirkus an, der aber durch Randalierer in der Vorstellung gestört wird und nach einer kräftigen Prügelei mit den Störefrieden das Weite sucht. Auf der weiteren Fahrt landet die Gesellschaft letzten Endes am Ufer eines durch den Kataklysmus entstandenen Meeresarms. Die Reisenden arbeiten an einem Boot, mit dem sie die Insel erreichen wollen, welche vom Festland aus gesehen werden kann und die ihr Ziel für die Gründung einer neuen Siedlung ist. Aber Demetrius fährt nicht mehr mit, er ist bereits am Ende seines Lebens angekommen. Die Zeit vor der Katastrophe versinkt immer mehr im Dunkel, weil kaum mehr Leute leben, die sie selbst erlebt haben. Sie wird immer mehr zur Legende.
Speziell im zweiten Teil des Romans wird die Handlung immer mehr durch philosophische Betrachtungen von Demetrius bzw. des Autors unterbrochen, der sich auch explizit an die Leser wendet. Mir kommt das Werk wie das literarische Vermächtnis des Autors vor, der seine Gedanken über sein Alter Ego, die Figur Demetrius, artikulierte, und der kurz nach Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe verstarb.
Worauf dürfen wir hoffen? Was können wir tun? Müssen wir das neue dunkle Zeitalter als eine Unvermeidlichkeit im Rhythmus der Geschichte hinnehmen?
Perioden besonderer Geisteshelle tendieren allerdings dazu, sehr kurz zu sein – Griechenland, die Renaissance – danach muß die arme, verwirrte Menschheit wieder in den Höhlen weiterpfuschen und verdauen. Falsche Analogien: die Menschheit ist keine Person, und Vergessen ist schwerlich Verdauen.
Also dann - wir hoffen; wir reden uns ein, irgendwie könne die Vernunft in privaten Bereichen das Licht nähren und bewahren, durch weitere lange, trostlose Jahrhunderte durch, wo nichts sicher ist als die Macht der Unvernunft? Was sonst?
(Zitiert aus: Edgar Pangborn: Ein glorreicher Haufen. München 1985, Heyne SF 4176, S. 133)
Wer im Besitz des Lexikons der Science Fiction-Literatur aus dem Heyne-Verlag ist, kann dort im Autoreneintrag zu Edgar Pangborn nachlesen, dass in diesem Roman Europa von Amerika entdeckt wird, nachdem man die alte Welt seit Jahrhunderten für eine Legende hielt. Der Verfasser dieses Eintrags kann den Roman jedenfalls nicht gelesen haben, denn eine derartige Szene kommt hier nirgendwo vor, sondern im Schlussteil von Davy. Ein glorreicher Haufen wurde auf Deutsch zwar in der Heyne-SF veröffentlicht, aber nicht mehr in der Subreihe der Heyne Science Fiction Classics. Genauso wurde mit der Kurzgeschichtensammlung Tiger Boy (im Original: Still I Persist in Wondering) verfahren, welche im Original bereits posthum erschien. Die darin enthaltenen Kurzgeschichten waren einzeln allerdings noch zu Pangborns Lebzeiten herausgekommen. Sie spielen ebenfalls im Davy-Universum und beleuchten unterschiedliche Episoden nach der großen Katastrophe. Hier ein Überblick über die enthaltenen Geschichten:
Der Kinderkreuzzug: Das ist die Geschichte des Predrigers Abraham, der eine Vision hatte und ein neues Jerusalem gründen will. Viele Menschen sind von seiner Persönlichkeit fasziniert und schließen sich ihm an, darunter auch viele Kinder. Auch Malachi folgt Abrahams Schar, obwohl er selbst nicht gottgläubig ist, aber sein junger Freund Jesse verliebt sich ein Mädchen aus dem Anhang des Predigers und wird Mitglied der Gemeinschaft. Als die Gruppe von Banditen überfallen wird, welche mehrere der Mädchen rauben und die jenigen töten, welche sich ihnen zur Verteidigung entgegenstellen, predigt Abraham weiterhin die Gewaltlosigkeit. Er zieht mit dem Rest der Truppe der Stadt Nuber entgegen, wo er das Neue Jerusalem gründen will. Dort wird ihn sein Schicksal ereilen. Dies wird zwar in dieser Geschichte nicht mehr beschrieben, aber aus anderen Erzählungen weiß man, dass später eine Religion unter dem Zeichen des Rades entstehen wird, welche die Gesellschaft der umliegenden Länder dominieren wird.
Hafner Conan und Sänger David: Nach einem Unfall ist der junge Conan erblindet. Er fasst aber neuen Lebensmut, als er beim Harfner Donal in die Lehre gehen darf, dessen Erbe antritt und mit der goldenen Harfe spielen kann. Er trifft den Sänger David, der sein Gefährte wird, mit ihm zusammen singt und auf Wanderschaft geht. Nachdem sie von Wunderheilungen gehört haben, suchen sie die Ruinen von Binton auf, denn dort sind Wissenschaftler, welche Reste der früheren Heilkunst bewahrt haben. Sie können Conan aber mit ihrem aktuellen Wissensstand noch nicht operieren. Trotzdem singen und spielen die beiden für die Kranken des Hospitals von Binton. Ihr Ruf überdauert ihr Leben, aber ob Conan nochmals das Augenlicht zurückerlangt hat, ist nicht überliefert.
Die Legende von Hombas: Der alte Hombas ist der Schamane seines Volkes. Der rote Bär Tod ist ihm bereits erschienen, doch Hombas bittet ihn, zu warten, bis die Frühjahrskarawane zurückkommt. Als der junge Absolon als einziger Überlebender der von Räubern überfallenen Karawane schwer verletzt eintrifft, weiß Hombas, dass es Zeit zum Gehen ist. Im Wald findet er in einer Fallgrube einen schwer verletzten Bären, dessen Augen durch die spitzen Pfähle in der Grube zerstört wurden. Ist es er rote Bär Tod, der hier selbst sein Ende findet und werden dann Hombas und die anderen Menschen unsterblich? Doch der weise Alte fällt einen Stamm, damit der Bär aus der Grube herausklettern kann. Der Tod ist seither erblindet, aber Hombas sei gepreisen, denn wir dürfen weiterhin die Gnade des Todes erfahren.
Tiger Boy: Bruno ist zwar dem Schicksal entgangen, als Möh gleich nach seiner Geburt beseitigt zu werden, aber er kann nicht sprechen, sondern nur ganz leise flüstern, denn seine Stimmbänder sind verkrüppelt. Er wird Lehrling bei Hurley, dem Eisenschmied. Dort hört er Gerüchte über das Kommen Tiger Boys, der schreckliche Flötenmusik spielt und von einem braunen Tiger begleitet wird. Tatsächlich kommt der sagenhafte Junge, und Bruno geht ihm entgegen, fasziniert von der Musik. Er will sein Begleiter werden. Im Dorf wird das Fehlen des verlässlichen Bruno bemerkt und eine Gruppe von bewaffneten Männer macht sich auf, den vermeintlich Geraubten zu retten und den Zauberer unschädlich zu machen. So kommt es, dass der Flötenspieler von Jagdhunden zerrissen wird und sein Tiger von Pfeilen gespickt das Leben aushaucht, obwohl er nur einen Freund gesucht hat. Auch Bruno, der zwar nicht sprechen, aber dichten konnte, ist Opfer der Gewalt geworden, und das Leben im Dorf geht seinen gewohnten Gang weiter.
Der Hexer von Nupal: Eine Bande von dreizehn jungen Burschen und Mädchen findet sich unter der Führung des charismatischen Rudi zusammen. Der Anführer macht sich über die Murkanischen Heiligen lustig und bewegt seine Anhänger dazu, in einer satanischen Messe Luzifer anzubeten. Drei der Mädchen, die teilweise von etwas beschränktem Geist sind, bekommen es mit der Angst zu tun, was sich in Anfällen äußert. Die unschuldige Mam Shiller wird als Hexe eingekerkert, aber von Rudi und seinen Spießgesellen befreit. Dann wird eines der Mädchen tot gefunden, ein anderes ist verschwunden. Rudi versammelt ein letztes Mal seine Freunde und tritt mit einer Luzifermaske auf. Sein „Opfer“ in der Zeremonie soll die junge Ethel sein, die er eingesperrt hat. Seine bisherigen Anhänger lösen sich aus seinem Bann und steinigen ihn.
Mein Bruder Leopold: Der Mönch Jermyn Graz schreibt auf Geheiß seiner Oberen die Geschichte seines Bruders Leopold auf, der in einem Schauprozess verurteilt und hingerichtet wurde. Leopold trat, nachdem er sein Gedächtnis verloren und seine Schule verlassen hatte, als Wanderprediger unter dem Namen Bruder Francis auf, der sich mit seinen Anhängern friedlich zwischen die Kontrahenten einer kriegerischen Auseinandersetzung gestellt hatte. Damit erregte er den Unwillen der Obrigkeit, die einen Vorwand suchte, um ihn zu beseitigen. Doch achtunddreißig Jahre nach seinem Tod wird der Hingerichtete rehabilitiert und als heilig angesehen. Sein Bruder Jermyn aber, der ihn immer unterstützt hatte, wird nunmehr als Abweichler von der wahren Lehre in strengem Gewahrsam gehalten.
Der Nachtwind: Benvenuto ist ein Möh, der aber überlebt hat. Aber jetzt ist er in Gefahr, gesteinigt zu werden, weil Pater Horan meint, er wäre besser nie geboren worden. Er flüchtet aus seinem Dorf und findet bei der alten Mam Miriam Obdach, die seit einem Unfall ihre Beine nicht mehr bewegen kann. Er muss aber vor seinen Häschern weiter flüchten und möchte Miriam mitnehmen. Sie übersteht die Anstrengung nicht, ein letztes Mal auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Benvenuto geht allein in die Welt hinaus. Er ist der Nachtwind, hütet euch!
Pangborn war ein literarischer Außenseiter in der SF-Szene, der aber zweifellos große Beachtung verdient und dankenswerter Weise durch die Heyne-Ausgaben fast mit seinem kompletten Werk auf Deutsch präsentiert wurde. Der Beobachter ist ein würdiges Mitglied der Reihe der Heyne Science Fiction Classics. Davy würde ich nicht unbedingt als Klassiker bezeichnen, aber es ist interessant, dass dieser Roman mit seiner doch teilweise recht deftigen Sprache bereits 1964 problemlos erscheinen konnte, denn die sexuelle Revolution stand in dieser Zeit noch bevor. Auch Die Prüfung ist für mich kein Science Fiction-Klassiker, aber ein wunderbares poetisches Buch mit einer Handlung, die aus einem Märchen der Gebrüder Grimm stammen könnte. Edgar Pangborn ist für mich einer der interessantesten Autoren, die ich im Rahmen der Heyne Fiction Classics vorstellen darf, aber für Freunde knalliger Action würde ich natürlich andere Empfehlungen aussprechen.
Anmerkung:
Es werden die Ausgaben in den Heyne Science Fiction Classics, Neuausgaben in der Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur sowie die Erstausgaben der Werke angeführt.
1978