Der nostalgische Reiz - »Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie«
Der nostalgische Reiz
»Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie«
Ich habe als Teenager meine ersten Erfahrungen mit dem Western-Roman im Leihbuch gemacht. Leihbüchereien gab es in meiner Kindheit noch an jeder Ecke. Die Menschen waren nach Ende des II. Weltkrieges begierig darauf, alles zu lesen, was ihnen in der Zeit des 3. Reiches verwehrt worden war. Leihbücher gab es für wenige Pfennige. Das Angebot war breit, das Themenspektrum auch. Fast jede Woche entdeckte man Neues.
Western waren extrem populär, auch Kriminalromane und andere Abenteuer wurden ständig verlangt. Frauenromane wurden viel gelesen.
Unter Sammlern sind alle diese Bücher bis heute begehrt. Vieles wurde später auch dutzendfach nachgedruckt. Aber die klassischen alten Leihbücher haben einen nostalgischen Reiz behalten.
Man unterschied damals grob zwischen „Männerromanen“ und „Frauenromanen“. Aber dann gab es Bücher, die sich an beide Lesergruppen wandten.
Neben den genannten Genres gab es nämlich auch den „Sittenroman“, der die erotischen Fantasien von Männern und Frauen ansprach und manchmal auch einen abenteuerlichen und dramatischen Hintergrund hatte. Diese Erzählungen lagen in der Regel unter dem Ladentisch. Das waren Sex-Geschichten von erstaunlicher Freizügigkeit. In der damals prüden Zeit erzeugten diese Geschichten häufig Empörung bei puritanischen Menschen. Tatsächlich wurden diese „unsittlichen“ Bücher aber äußerst begierig gelesen. Sie enthielten Beschreibungen, die wir in unserer offenen Zeit heute fast als lächerlich empfinden, die damals aber Ausdruck „perverser Lust“ waren.
Da wurden bereits Titel wie „Liebe gegen Sünde“ oder „Unter der roten Laterne“ als pornografisch aufgespießt.
Der wohl größte lebende Experte für Unterhaltungsromane jener Zeit, Dr. JÖRG WEIGAND, hat sich dieser „unmoralischen“ Lektüre angenommen.
ZWISCHEN GESELLSCHAFTSROMAN UND PORNOGRAFIE
Der Sittenroman im Leihbuch nach 1945
Das ist sein neuestes Buch. Er befasst sich hier intensiv mit „unsittlichen“ Veröffentlichungen im Leihbuch, bietet eine große Titelauswahl und eine Liste von Autoren. Dabei finden sich Namen, die später im „seriösen Unterhaltungsroman“ eine nicht unbedeutende Rolle spielten.
Weigand untersucht die inhaltliche Tendenz, die Verbreitung und auch die damals sehr intensiven Indizierungen von „jugendgefährdenden Schriften", die diesen Büchern manchmal sogar geholfen haben. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass es gar nicht die manchmal sehr deftigen und auch schwülstig aufgeplusterten Sex-Szenen waren, die dazu führten, dass diese Bücher auf dem Index landeten und nicht öffentlich angeboten werden durften, sondern viele dieser Romane enthielten Gesellschaftskritik, etwa an der geheuchelten „Sittlichkeit“ des Staates und seiner Vertreter, die in Hinterzimmern das Vergnügen suchten, dass sie den einfachen Bürgern verwehren wollten. Diese Kritik war letztlich die Ursache dafür, dass die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ und die Staatsanwaltschaften diesen „Sittenromanen“ nachjagten und sie zu verbieten versuchten.
Diese Verfahren vor Gerichten und Jugendbehörden sind von besonderem Interesse und stellen tatsächlich ein Gesellschaftsbild der 50er, 60er und frühen 70er Jahre in Deutschland dar. Man erhält hier Einblick in ein fast vergessenes Kapitel der Unterhaltungsliteratur, das es wert ist, intensiver erfasst und durchleuchtet zu werden.
Das Werk ist natürlich ein Sachbuch, aber es ist unterhaltsam zu lesen und hochinformativ. Man merkt dem Werk an, dass der Verfasser ehemaliger Journalist ist, der es versteht, seine Leser mit klarer Sprache zu fesseln und Wissen zu vermitteln.
Bei Amazon steht „Nicht lieferbar!“ Blödsinn. Das Buch ist erschienen.
Zwischen Gesellschaftsroman und Pornografie